Gedankenfutter

Sonntag, 12. September 2010

Asymetrische Intoleranz

Ein Nebengedanke, verursacht durch den "Zirkus Sarrazini" und die breite Zustimmung, die die nach Sozialdarwinismus und Oberklassen-Arroganz müffelnden "Erklärungsmodelle" offensichtlich erhalten.

Angeblich sind "die Deutschen" (eine, wie alle derartige Verallgemeinerungen, deutlich diskriminierende Formulierung) ja vorschriftengläubig und tun sich schwer damit, sogar offenkundig sinnlose Verbote zu missachten. Ich muss gestehen, dass ich tatsächlich den Eindruck habe, dass viele meiner Landsleute so gestrickt sind (zum Glück gibt es zahlreiche Ausnahmen).
Ich beobachte aber auch, dass die Neigung, z. B.
Verbotsschilder zu beachten, sehr davon abhängt, ob jemand glaubt, zur "Mehrheit" (egal, ob zur zahlenmäßigen Mehrheit, zur "moralischen Mehrheit", zur Mehrheit der "anständigen Leute" usw.) bzw. zu den "Normalen" zu gehören - oder eben nicht.

Als Radfahrer (natürlich meine ich damit: ich fahre mit dem Fahrrad, es gibt ja auch andere) erlebe ich es zwar, dass Radwege zugeparkt sind oder dass Fußgänger erst nach energischem Klingeln den Weg freimachen. Aber im Großen und Ganzen wird respektiert, dass ein Radweg ein für Radfahrer reservierter Weg ist. Ich habe es jedenfalls noch nie erlebt, dass jemand, den ich per Fahrradklingel vom Radweg gescheucht hatte, mir vorwarf, dass die Straße samt Fußweg- und Radweg schließlich allen gehören würde, und nicht nur den Radfahrern.

Etwas anders scheint der Fall bei Reitwegen zu liegen. Eine reitende Freundin erzählte mir, dass mindestens zwei Mal pro Woche Fußgänger, fast immer mit Hund, auf dem Reitweg unterwegs seien. Wenn man sie darauf hinweist, dass ein Reitweg schließlich per amtlichem Schild (weiße Pferdesilhouette auf blauem Grund) für Ross und Reiter reserviert wäre, würden sie "so sicher wie das Amen in der Kirche" herummeckern, dass der Wald schließlich allen gehören würde, nicht nur den Reitern. Wobei in diesem ausgewiesenen Erholungswald stets gut ausgebaute Fußwege parallel zum Reitweg vorhanden sind.

Die Reiterin vermutet, dass die selben Leute sofort per Handy das Ordnungsamt anrufen würden, wenn sie einen Reiter auf dem Fußweg antreffen würden. Was ja nicht grundsätzlich verkehrt ist: Wenn der Reiter jemanden gefährdet, oder wenn er auf stur stellt und uneinsichtig auf dem Fußweg weiterreitet, ist ein Anruf beim Ordnungsamt völlig angemessen - eventuell sogar einer bei der Polizei.

Ein anderes Beispiel sind Menschen, die sich empören und es eklig finden, wenn zwei Männer oder zwei Frauen sich auf "offener Straße" küssen - aber empört wären, wenn sich jemand darüber aufregen würde, wenn sie ihr(e) Ehefrau / Ehemann in der Öffentlichkeit "abknutschen". (Übrigens bin ich nicht schwul.)

Ein weniger mit Fragen der "poltical correctness" behangenes Beispiel: Man vergleiche die Reaktion auf einen mit Badehose Bekleideten am FKK-Strand mit der Reaktion, die ein Nackter am Textilstrand auslöst. Ich habe den Eindruck, dass es erdrückend viel mehr "Badehosensünder" am FKK als "Flitzer" am Textilstrand gibt. (Nein, ich käme nie auf die Idee, nackt an den Textilstrand oder mit Badehose an den FKK zu gehen.)

Natürlich ist das keine deutsche Spezialität. Den größte "Klops" auf dem Gebiet der asymetrischen Toleranz leistet sich zur Zeit die Schweiz. Dem per Volksentscheid beschlossenen Minarettverbot steht (natürlich?) kein Kirchturmbauverbot gegenüber.

Selbstverständlich kenne ich auch rechthaberische, arrogante und rücksichtslose Vertreter von Minderheiten. Das sind meistens Überzeugungstäter, nicht selten mit missionarischem Anspruch - gerade bei religiösen und weltanschaulichen Minderheiten gibt es die unschön häufig. Und es gibt Provokateure: Die meisten "Nackt-am-Textilstrand-Geher" rechne ich zu dieser Gruppe.

Aber das Schema bleibt, dass das Gefühl zur "Mehrheit" zu gehören, "normal" zu sein, dazu verleitet, anderen Menschen Vorschriften zu machen und sogar selbst Verbote zu übertreten.

Samstag, 14. August 2010

"Menschenmaterial" - und ein untaugliches Mittel zum Schutz der Menschenwürde

Es ist das "Unwort des 20. Jahrhunderts", Karl Marx verwendete den Begriff kritisch, die oberste Heeresleitung im 1. Weltkrieg machte ihn "populär", Adolf Hitler benutzte den Ausdruck in zynischer Weise:
Menschenmaterial.
Der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
entstand als Reaktion auf die Unmenschlichkeit Nazideutschlands. "Die Würde des Menschen ist unantastbar" bedeutet auch: "Die Würde des Menschen ist verletzlich." Sie wird unweigerlich verletzt, wenn ein Mensch wie eine Sache behandelt wird. Sogar dann, wenn die Motive gut und ehrenwert sind. Erst recht, wenn diese Missachtung aus "niedrigen Beweggründen" - Gewinnsucht, Machtstreben, Rassenhass - erfolgt. Ich bin geneigt, auch: "Nationales Interesse!", "Gemeinnutz geht vor Eigennutz!", "Wir können doch nicht jeden Einzelfall gerecht behandeln!" als "niedrige Beweggründe" zu sehen.
Eine traurige Tatsache ist, dass in der real existierenden Bundesrepublik Deutschlands des frühen 21. Jahrhunderts die
Würde des Menschen unter Finanzierungsvorbehalt steht, wie Ellen Diederich 2007 schrieb (und es ist nicht besser geworden seitdem).
Dass auch die gängige "Selbstoptimierung" auf beruflichen Erfolg hin eine "freiwillige" Missachtung der eigenen Würde sein kann, sei nur am Rande erwähnt. Sie ist eine Missachtung der Menschenwürde, wenn Menschen gezwungen werden, sich selbst zu optimieren - ich rede hier wohl gemerkt nicht von Fortbildungskursen oder so etwas.

Zurück zu dem Grund, weshalb der erste Artikel unserer Verfassung die Würde des Menschen zum Inhalt hat. Die Verbrechen der Nazis, ihrer Helfer, ihrer Helfershelfer und ihre Profiteure.
Nun ist das Dokument Geheime Reichssache Nr. II D 3 a (9) Nr. 214/42, unterschrieben von SS-Obersturmbannführer Walter Rauff, keine Neuentdeckung. Bereits vor 10 Jahren hatte dieses Dokument dem belgischen Psychoanalytiker Francois Emmanuel ein großes Erschrecken bereitet, wenn auch ein ganz anderes (weniger leidvolles) Erschrecken. Emmanuel zitiert in seinem kaum 100 Seiten langen Roman Der Wert des Menschen (das französische Original trägt den Titel Die Menschenfrage und spielt damit auf die Nazi-Rede von der ‘Judenfrage’ an) auf den Seiten 58 bis 63 das Dokument in voller Länge.

Emmanuels Erschrecken bezieht sich auf die verdinglichte Sprache der nihilistischen NS-Technokratie. Nüchtern betrachtet, bestimmte der Nazi-Staat den “Wert des Menschen” so, als ob der Mensch lediglich ein Rohstoff im industriellen Prozess sei. Die Idee vom “Menschen als Rohstoff “ ist uns heute nun aber keineswegs fremd, sondern begleitet uns auf Schritt und Tritt, etwa im Jargon “moderner Menschenführung” und “neuer Unternehmenskultur” (der Romanheld Emmanuels ist Betriebspsychologe), in den Diskussionen um “humanes Sterben” oder bei den öffentlichen Erläuterungen, wie viel ein gefallener Soldat (2,3 Millionen Euro) oder ein Unfalltoter (1,2 Millionen Euro) nun ‘wert’ seien.

Emmanuels kurzer Roman, der lange 144 Minuten lang verfilmt wurde, bringt die Methoden des nationalsozialistischen Massenmords mit neuesten Vorschriften effizienter Betriebs- und Lebensführung in Verbindung. Für Emmanuel gehorchte der Nationalsozialismus nicht etwa finsteren Mächten, sondern den Gesetzen der Effizienz. Und eben darum hält Emmanuel es für nicht ausgeschlossen, dass die für den Kapitalismus zugerichteten Menschen heute, ungewollt die Züchtungsfantasien des Nationalsozialismus mit anderen Mitteln fortsetzen.
aus Die Menschenfrage im Blog von Jörg Marx.

Es ist offensichtlich so, dass erst die Verdinglichung des Menschen, die Reduktion des Menschen aufs "Menschenmaterial", den industriell betriebenen Massenmord möglich machte. Die Ziele der Nazis waren irrational, ihre Mittel höchst rational im Sinne der instrumentellen Vernunft. Ich muss Emmanuel leider recht geben: im Großen und Ganzen lief die "Eugenik" der Nazis ja auch eher auf die "Züchtung" von gesundem und belastbarem "Menschenmaterial" und die "Ausmerzung" der "Minderwertigen" hinaus, als auf die wage bleibende Idee eines "Übermenschen". Das ist von den Zielen moderner Zurichter und Selbstoptimierer gar nicht so weit entfernt. Und auch der "Sozialdarwinismus" ist ja wirklich nicht ausgestorben, sondern feiert, notdürftig getarnt, ein "Revival".

Einen scheinbar wirksamen Weg, zwar nicht gegen die Verdinglichung des Menschen, aber doch zur Eindämmung ihren schlimmsten Folgen, geht die katholische Kirche. (Ich meine damit im folgenden konkret die römisch-katholische Kirche.)
Ihr moralischer Grundsatz ist, dass jeder Mensch von Gott gewollt ist. Kein Mensch hat das Recht, einen Menschen der von Gott geschenkten Gabe des Lebens zu berauben. Das gilt von Moment der Zeugung bis zum Moment des natürlichen Todes. Abtreibung, Sterbehilfe, Selbsttötung sind moraltheologisch gesehen Mord.

Der Historiker und Journalist Götz Aly behauptet, dass die konsequente und harte katholische Ethik sich trotz der "beschämenden Kompromisse", die die katholische Kirche im "Dritten Reich" gemacht hat, bewährt hat.

Aly beschäftigte sich in seinem Buch "Macht, Geist, Wahn - Kontinuitäten deutschen Denkens" (Argon, Berlin, 1997) unter Anderem mit der Frage, wieso es im "Osten", pro 10000 Einwohner gerechnet, weit mehr als doppelt so viele rassistische Gewalttaten gibt wie in den Länder der "alten BRD". Es gibt außerdem im Osten wie im Westen ein signifikantes Nord-Süd-Gefälle: In Schleswig Holstein gibt es - bezogen auf 10000 Einwohner - mehr als vier mal so viele rassistische Übergriffe wie in Bayern, in Mecklenburg-Vorpommern gibt es mehr als drei Mal so viele wie in Thüringen.
Diese statistischen Angaben sind nachprüfbar zutreffend. Interessant ist Alys Deutung: Mit Ausnahme der Staatstaaten, die er als "kosmopolitisch-amerikanisiert" bezeichnet, würden Arbeitsemigranten, Flüchtlingsfamilien und Asylsuchende mit Abstand am wenigsten gefährdet dort leben, wo der Konservatismus traditionell stark wäre - in Bayern.
Im historischen Rückblick entspräche die Verteilung rassistischer Gewalttaten im wesentlichen der Erfolgskurve der NSDAP in den Wahlen 1928 und 1932.
Die deutliche statistische Kongruenz von NSDAP-Wahlerfolgen und der gegenwärtigen Verteilung rassistischer Gewalt verwiese laut Aly nicht auf eine spezifische Kontinuität zwischen Alt- und Neonazis, sondern auf die tiefere Gemengelage der deutschen Gesellschaft. Was Bayern vom Norden und Osten wesentlich unterscheiden würde, wäre der Katholizismus. Nicht im Sinne fleißigen Kirchgängertums, sondern im Sinne der damit zwingend verbundenen Differenz zwischen Staat und Gesellschaft. Etwas verkürzt: für einen "Preußen" sind Staat und Gesellschaft quasi dasselbe. Da die protestantische Kirche freiwillig darauf verzichtete, Einfluss auf die weltliche Macht zu nehmen, lieferte sie die Gesellschaft dem preußischen Autoritarismus aus.
Wer aber Gesellschaft als beglückende Staatsveranstaltung von oben versteht, der nimmt der bürgerlichen Freiheit und Verantwortung den Atem. Wo das Volkswohl triumphiert, haben die Fremden ihr Recht verloren.
Alys Darstellung wirft zwei Fragen auf:
Ist der Katholizismus eine wirksame Gegenkraft gegen die Naziideologie und Rassismus?
und
Sichert die strikte katholische Moral die Menschenwürde?

Die erste Frage ist nicht so leicht zu beantworten, wie es die von Aly angeführten Statistiken nahe legen. Unter den beherzten katholischen Geistlichen, die sich gegen die "Euthanasie"-Morde wehrten, hatten viele nichts dagegen, die Waffen für den "Kreuzzug gegen den gottlosen Bolschewismus" zu segnen.
Es gibt Hinweise darauf, dass die "Staatsgläubigkeit" der Bürger in den ehemals preußischen Teilen Deutschlands ausgeprägter ist als in Bayern und Baden-Würtemberg - zum Beispiel wird im Süden bei Nachbarschaftsstreiterei nicht so schnell die Polizei gerufen wie im Norden, was eine Spätfolge des preußischen Modell einer Einheit zwischen "Gesellschaft" und "Staat" sein könnte. Ob die Konfession dabei der entscheidende Faktor ist, ist meiner Ansicht nach fraglich, denn auch in protestantischen Gegenden Südwestdeutschlands ist das Misstrauen gegenüber der "Obrigkeit" ausgeprägt. Dass die Stadtstaaten heute einen relativ geringen Anteil an rassistischen Gewalttaten haben und für die historischen Nazis kein einfaches Pflaster waren, hat meiner Ansicht nach etwas mit der Soziologie von Metropolen zu tun, aber wenig mit einer "Amerikanisierung", von einer kosmopolitischen Einstellung gar nicht zu reden.
Jedenfalls ist es eine historische Tatsache, dass Faschismus (in jeglicher Form) und Katholizismus gut miteinander auskamen. Die katholische Ethik war zwar stark genug, um eine wirksame Opposition gegen Morde an Behinderten zu bilden, versagte aber bei den Morden an Juden ziemlich jämmerlich.
Ob der Katholizismus eine Gegenkraft gegen Rassismus ist, kann ich nicht Beantworten.

Dass die strikte katholische Moral die Menschenwürde sichert, wage ich zu bezweifeln.
Ich bin ganz entschieden der Ansicht, dass eine auf Werten aufgebaute Ethik die Menschenwürde schützt - was allerdings entschieden von den Werten, die diese Ethik ausmachen, abhängt.
Die entscheidende Stärke der katholische moralischen Normen ist der Lebensschutz: Leben ist ein Wert an sich, und Leid und Passion sind Bestandteile des Lebens. Eine Lebensauffassung, die vor einen reinen Utilitarismus schützt, denn das utilitaristische Prinzip, dass alles, was das Glück in der Welt maximiert, rechtes Handeln sei, verführt meiner Ansicht nach allzu leicht dazu, ein leidvolles Leben als wertlos anzusehen. Der für die Menschenwürde gefährliche Ansatz: "Das Wohl der Vielen wiegt mehr als das Wohl der Wenigen; oder des Einzelnen" ist für einen Utilitaritaristen eine stete Verführung, für einen überzeugten Katholiken hingegen indiskutabel. Das Problem beim Katholizismus sehe ich darin, dass er dazu neigt, das Leid moralisch zu überhöhen und Leiden als Tugend darzustellen.
Die große Stärke - und zugleich das größte Problem - der katholischen Ethik ist ihre Konsequenz. Der Schutz des Lebens beispielsweise gilt ungeteilt, für Behinderte und chronisch Kranke, was sie vor "wirtschaftlich nützlichem Frühableben", also absichtlicher Vernachlässigung oder verdecktem Mord schützt, aber eben auch für ungeborenes menschliches Leben. Dem Problem, wo in einer "Grauzone" die Grenze des moralisch Zulässigen ist, begegnet diese Ethik damit, dass sie keine "Grauzone" zulässt: alles, was nicht "weiß" ist, ist nicht etwa "grau" sondern "nichtweiß". Also: auch eine befruchtet Eizelle genießt die volle Menschenwürde. Keine Kompromisse. Auch wenn aus den meisten befruchteten Eizellen nie ein Embryo, geschweige denn ein lebensfähiger Mensch, wird.
Ein Problem für die Menschenwürde ergibt sich daraus, dass das menschliche Recht zur Selbstbestimmung da endet, wo es göttliche Gebote gibt. Gebote, deren Interpretationshoheit bei der katholischen Kirche liegen. So gehört zu den unveräußerlichen Rechten des Menschen nach katholischer Auffassung die Fähigkeit, sich fortzupflanzen, die ihm auch niemand streitig machen darf. Was der Einzelne mit dieser Fähigkeit tut, verantwortet er allein vor Gott - niemand darf sich einmischen. Auch freiwillige Sterilisierung ist gegen den Plan Gottes (der offensichtlich irgendwo im Vatikan aushängen muss), ob und in welchen Formen die Empfängnisverhütung zulässig sei, ist eine der "Dauerbaustellen" der katholischen Morallehre. Andererseits gibt kein Recht auf Sexualität, geschweige denn sexuelle Erfüllung - genauer gesagt: bis auf den "ehelichen Beischlaf" ist jeder Sex Sünde. Das katholische Ideal ist also ein Mensch, der seine Sexualität jederzeit unter Kontrolle hat und sie allenfalls zu Fortpflanzungszwecken in der Ehe gebraucht. (Sexuelles Verlangen ist nach dem Kirchenvater Augustinus Teil unserer Bestrafung für Adams Sünde.)

Die ethischen Konsequenzen aus der konsequenten katholischen Ethik sind jedenfalls manchmal erschreckend: Wenn Hubert Hüppe (CDU), der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, fordert:
Die Präimplantationsdiagnostik muss jetzt ausdrücklich verboten werden.
dann handelt er in voller Übereinstimmung mit der katholischen Ethik.
Obwohl ich einer utilitaristischen Ethik gegenüber skeptisch bin: Es ist meiner Ansicht nach legitim, wenn Eltern, die genetisch vorbelastet sind, gesunde Kinder haben wollen. Ob sie sich für ein eventuell behindertes Kind entscheiden, mit allen Konsequenzen, die sich aus einer solchen Entscheidung ergeben, ist nach meiner Auffassung allein Sache der Eltern. Da hat sich auch niemand einzumischen, keine Krankenversicherung, keine Politiker und schon gar keine medizinischen Berater mit eugenischen Ambitionen. Und auch keine Kirche, die sich anmaßt, "Gottes Willen" zu kennen, und diesen über die Selbstbestimmung des Menschen stellt.
Das Selbstbestimmungsrecht des Menschen steht der Instrumentalisierung der Menschen, ihrer Zurichtung nach den Maßstäben wirtschaftlicher oder politischer "Nützlichkeit" entgegen. Deshalb ist es für die Würde des Menschen unverzichtbar!

Als Nichtchrist und Humanist fällt es mir außerdem schwer, eine ausdrücklich christliche Begründung der Menschenwürde, nämlich die "Gottesebenbildlichkeit des Menschen", zu akzeptieren.
Wobei die Vorstellung, die Würde des Menschen sei quasi eine christliche Errungenschaft und nur in einer christlichen Gesellschaft gewährleistet, aus meiner Sicht unangenehm weit verbreitet ist.
Für eine säkulare und pluralistische Gesellschaft taugt sie jedenfalls nicht.

Montag, 26. Juli 2010

Sexualität, Macht und Gewalt

"Sexuelle Gewalt ist Machtausübung und keine Sexualität"
Birgit Kohlhofer, Diplompsychologin, Psychotherapeutin und Mitautorin des Buchs "E.R.N.S.T. machen - Sexuelle Gewalt unter Jugendlichen verhindern".

Missbrauch. Ich mag das Wort im Zusammenhang mit "Kindesmissbrauch" nicht, da es suggeriert, es gäbe einen korrekten "Gebrauch" von Kindern. Oder überhaupt von Menschen. Es riecht nach Instrumentalisierung, als wären Menschen tote Gegenstände. Ganz im Sinne des "Humankapitals" oder des "Menschenmaterials".

Aber es gibt tatsächlich Dinge, die da missbraucht werden. Angstschürerei etwa ist Missbrauch von Können und Macht. So, wie es Missbrauch eines Küchenmessers ist, damit jemandem die Kehle durchzuschneiden. Und es gibt den Missbrauch der Sexualität. Etwa den der sexuellen Neugier, die es auch bei Kindern gibt.

Es ist wichtig, dass wir über die Bedingungen nachdenken, die Menschen zu Tätern machen. Im Falle einer pädophilen Veranlagung - das sind übrigens die wenigsten der Täter - gibt es Initiativen wie "Kein Täter werden".
Aber die meisten Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen haben andere Gründe.
Es ist wichtig, sich mit diesen Gründen zu befassen. Nicht um Täter zu be- oder entlasten, sondern dafür, dass wir Bedingungen schaffen können, in denen Menschen nicht mehr zu Tätern werden.

Einschub: Ja, es ist die sexuelle Selbstbestimmung, die vom Gesetz geschützt werden soll, und die das gesellschaftlich zu schützende Gut ist. Nicht die Moral, auch nicht die sexuelle "Unschuld" junger Menschen. Bei Kindern, mit ihre vorhandenen, aber unentwickelten Sexualität, heißt "sexuelle Selbstbestimmung", dass sie von Erwachsenen und von Jugendlichen sexuell in Ruhe gelassen werden. Kein Erwachsener, der noch bei Trost ist, käme auf die Idee, einen kleinen Jungen, der ihn mit erhobenen Fäusten zum Boxkampf auffordert, mit voller Kraft einen Faustschlag zu verpassen, um sich darauf herauszureden, der Junge hätte das doch gewollt. "Sexuell in Ruhe lassen" heißt aber auch: "Doktorspiele" unter kleinen Kindern zulassen, und auch: ein "Nein" zu Aufforderungen wie "Gibt Omi ein Küsschen" zu akzeptieren.

Welche Bedingungen begünstigen Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern?

Wenn Kinder als Sexsymbole, z. B. als "Lolitas" aufgestylt werden, zum Beispiel. Ganz unabhängig davon, ob diese Kinder nackt oder "sexy angezogen" posieren.
Vor allem ist es aber die Kombination von Sexualität und Macht, die gefährlich ist. Es war vermutlich das Gefühl von Macht, dass die Jugendlichen auf Ameland zu Tätern machte. Erst danach kam - wenn überhaupt - die sexuelle Erregung ins Spiel.
Die Strukturen sind mit dem sogenannten "Bullying" vergleichbar. Also einem besonders exzessiven und häufig auch Gewalt einschließendem Mobbing. Im Prozess der Demütigung bilden sich eigene Hierarchien heraus, die Täter stehen oben im Ansehen, die Opfer unten. Zu solchen Abläufen kommt es immer dann, wenn Gruppen neu gemischt werden. Das Geschehen führt auf eine makabere Art zu einer eigenen Ordnung.

Von mehreren Tätern vergewaltigt und bloßgestellt zu werden, potenziert die Scham der Opfer. Die Struktur der Mitwisser erfüllt noch eine andere Funktion: "Wenn mehrere Jugendliche beteiligt sind, wird auch schon mal das eigene Gewissen abgelegt", sagt die Kölner Kriminalpsychologin Sabine Nowara. Das Motto sei: Wenn andere das machen, dann kann ich das auch machen.

In dieser Gruppendynamik genierten sich die Täter auch nicht, gegebenenfalls sexuelle Erregung zu zeigen. "Da spielt die eigene Scham überhaupt keine Rolle", so Nowara, Autorin der ersten Studie, in der mehr als 300 minderjährige Sexualstraftäter und ihre Taten erfasst wurden.
Missbrauch durch Jugendliche - Im Sog des Grauens (spon)

Es kommt also darauf an, Sexualität, Macht und Gewalt zu entkoppeln. Wenn Sexualität zur einer Funktion von Macht wird, missbraucht wird, dann führt das geradewegs zum "sexuellen Missbrauch", zum Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern.
Wir leben immer noch - und seit ein paar Jahre wieder verstärkt - in einer hierarchischen und autoritären Gesellschaft. Diese Hierarchisierung unserer Gesellschaft hat sich, im Zuge der Verdinglichung menschlicher Leistung, der zunehmenden Optimierung und Selbstoptimierung, in sämtliche Bereiche des Lebens ausgedehnt - bis in den Privatbereich hinein.
Sie geht immer auf Kosten Schwächerer.
Je härter eine Gesellschaft oder ein Teil von ihr, etwa eine Organisation, eine Schule, ein Unternehmen, ganz allgemein: eine Gemeinschaft, hierarchisiert ist, je mehr der, der in der Rangordnung über einem steht, tritt, desto größer ist die Unmenschlichkeit in dieser Gemeinschaft. Eine Unmenschlichkeit von der Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung nur einen kleinen, wenn auch grausamen, Teil darstellen.
Es ist wohl kein Zufall, dass es in straff hierachisierten Gemeinschaften, wie z. B. in der Kirche, in Internaten, beim Militär und auch in den Sportvereinen besonders oft zu sexualisierter Gewalt kommt.
Laut Zartbitter bieten Sportvereine einen Nährboden für sexuelle Gewalt. "Aufgrund unserer Erfahrungen gehen wir davon aus, dass Missbrauch dort ein größeres Ausmaß hat als in der katholischen Kirche", sagt Enders.
Ein weiterer Faktor bei der Verknüpfung von Sexualität, Macht und Gewalt ist offensichtlich die Pornographie. Allerdings wohl nicht im Sinne des alten feministischen Spruches, dass Pornographie die Theorie und die Vergewaltigung die Praxis sei. Die "PorNo!"-Kampagne halte ich für völlig verfehlt, und zwar nicht nur, weil sie zu einen absurden Bündnis zwischen Feministinnen und der immer noch stramm antifeministischen römisch-katholischen Geistlichkeit führte.
Es ist nun einmal so, dass in den meisten Pornos eine Sorte Sex dargestellt wird, in dem Menschen zu Objekten degradiert werden.
Ich erinnere mich genau daran, wie es auf mich wirkte, als ich mit mit zwölf zu ersten Mal die Porno-Hefte meines Vaters genauer ansah. Ich war zwar fasziniert, aber auch angeekelt - über das, was Menschen anderen Menschen an Gewalt antun, sie quälen, demütigen. Dass Sex im wirklichen Leben zum Glück meisten ganz anders aussieht, begriff ich erst Jahre später. Und um zu begreifen, dass es im einvernehmlichen BDSM nicht um tatsächliche Macht und Gewalt geht, brauchte ich noch viel länger. Es hätte aber leicht sein können, dass mir die Pornos den Eindruck vermittelt hätten, dass die Erniedrigung der Partners zum Sex "einfach dazugehört".
Pornos werden von jungen Menschen konsumiert, das lässt sich auch mit klostertauglichem Jugendschutz nicht verhindern. (Mein Vater hätte seine "Schmuddelhefte" schon in einem Tresor einschließen müssen. Und wenn er es getan hätte - so ab der siebten Klasse wurden die Dinger auf dem Jungensklo in der Schule getauscht. Internet macht die Sache einfacher, aber Zugriffssperren sind für einen computertechnisch interessierten Jugendlichen allenfalls eine sportliche Herausforderung.)
Das große Problem beim Porno die die mangelnden Reflexion darüber. Jugendliche konsumieren Pornos, aber sie können es nicht verarbeiten, weil in vielen Familien nicht darüber gesprochen wird.

Ich habe leider keine Patentrezepte, wie sich Sexualität, Macht und Gewalt entkoppeln ließen.
Patentrezepte, wenn auch garantiert wirkungslose, haben merkbefreite PolitikerInnen wie die bayrische Justizministerin Dr. Beate Merk (CSU), die ja allen Ernstes Killerspielen und der FDP, bzw. den Kritiker einer Netzzensur-Infrastruktur die Schuld für schreckliche Vorfälle wir auf Ameland gibt.

Freitag, 23. Juli 2010

Nackter Wahnsinn: Nacktbilder sind kriminell

Nacktheit ist ein typisches Sommerlochthema. Meistens geht es um irgendwelche Leute, die sich lautstark über irgendwelche "Nackerte" aufregen, was dann dank einer gelangweilten Lokalpresse einen kräftigen Resonanzboden erhält. Oder es geht um irgendwelche Promis, die von irgendwelchen Paparrazis beim nackten Sonnenbad "abgeschossen" wurden. Seit einige Jahren geht es aber auch um das Thema: Lassen Sie Ihr Kind nackt rumlaufen? Ein Thema, das durch die Angst vor "pädophilen Spannern", die bestimmt noch Schlimmeres im Sinn hätten, und der Angst davor, Bilder des eigenen Kindes könnten als Onaniervorlagen "ins Internet" gestellt werden, bestimmt wird. Ein Angst, die nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, aber die "neuen" Gefahren stark überschätzt und die tatsächliche Gefahrenlage verkennt. (Der "Spanner im Gebüsch" ist vielleicht lästig. Sexualisierte Übergriffe gegen Kinder gehen aber fast immer von Tätern aus dem Nahbereich, von Familenangehörigen, Freunden oder auch Erziehern und Lehrern aus.)

Seitdem es den §184c StgB (Verbreitung, Erwerb und Besitz jugendpornographischer Schriften) gibt, dürfte "Nacktheit" endgültig auch außerhalb des Boulevardjournalismus und des Sommerlochs Thema sein.
Im Gesetz heißt es zwar, jugendpornographische Schriften seien
[...] pornographische Schriften (§ 11 Abs. 3), die sexuelle Handlungen von, an oder vor Personen von vierzehn bis achtzehn Jahren zum Gegenstand haben [...]
, aber Erfahrungen aus den USA und aus Großbritannien ließen befürchten, dass die Bedeutung von "pornografisch" in der Praxis immer weiter sinken könnte, so dass bald auch einfache Nacktbilder automatisch als pornografisch gelten könnten.

Die Befürchtungen sind offensichtlich wahr geworden, und es gibt Hausdurchsuchungen bei Jugendlichen wegen selbstgemachter "Jugendpornografie": Durchsuchung im Kinderzimmer (Udos law blog). Nach dem Bericht der Allgäuer Zeitung hat das Mädchen die Nacktbilder von sich selbst gemacht und von sich aus an die Jungs verschickt, gegen die mit Hausdurchsuchung ermittelt wird. Im Bericht ist wohlgemerkt nur von "Nacktbildern" die Rede - nicht von Pornographie. Wie Udo Vetter schrieb, liegt die Möglichkeit, dass hier der Pornografiebegriff grob verkannt wurde, jedenfalls nicht fern.
Es ist so einfach: Nacktbilder sind halt "unmoralisch", jedenfalls war das früher, als die Welt noch in Ordnung war, immer so gewesen, vor den bösen ´68ern, dem bösen Sexualkundeunterricht, dem "Verfall der Familie" (Frauenrechte, Schwulenehe und so ein Schweinkram) und dem "größten Tatort der Welt", diesem Internetdingens, von dem neuerdings alle Welt spricht. Und was "unmoralisch" ist, gehört verboten!
Und weil "Kinderpornographie" ein schreckliches Verbrechen ist, gilt das "erweiterte Null-Toleranz-Prinzip". Ein Prinzip, bei dem unter den Tisch fällt, dass es bei "Kinderpornographie" nicht um "Pornographie" und schon gar nicht um Bilder vom Badestrand geht. Und nach dem Minderjährige generell als "Kinder" angesehen werden.
Ich bin ehrlich gesagt entsetzt darüber, dass hier die Dokumentation des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Bild und Ton auf die selbe Stufe gestellt wird wie die Darstellung erwachsener Darsteller mit kindlichem Erscheinungsbild (laut KJM: Zöpfe, Plüschtiere, kindliche Körperschemata [1]).
Christian Bahls: Kinderpornographiedefinition der EU (mogis-verein.de).

Grundsätzliche Überlegung beim Wirrlicht: naggisch oda nisch?

Montag, 14. Juni 2010

Gesunde Skepsis

Das altgriechische Wort σκέψις (sképsis) bedeutet "Prüfung, kritische Untersuchung". Die davon abgeleitete philosophische Haltung ist der Skeptizismus.
Das Gegenteil von "Skeptizismus" ist "Dogmatismus": Glauben, ohne zu zweifeln.

Skeptizismus ist ein Konzept, das es auch in nichteuropäischen Kulturen gibt:
Glaube nichts, weil ein Weiser es gesagt hat.
Glaube nichts, weil alle es glauben.
Glaube nichts, weil es geschrieben steht.
Glaube nichts, weil es als heilig gilt.
Glaube nichts, weil ein anderer es glaubt.
Glaube nur das, was Du selbst als wahr erkannt hast.
Siddhartha Gautama (Buddha)

(Was nebenbei auch jene Lügen straft, die Skeptizismus für "unspirituell" halten.)

In der Alltagsprache ist jemand ein Skeptiker, der zweifelt, kritisch nachfragt, nicht alles glaubt.

Leider gibt es auch "Skeptiker", die gar keine sind. Viele, die sich selbst "Skeptiker" nennen (z.B. "Klimaskeptiker", "Euroskeptiker" oder "Evolutionsskeptiker") haben eben keinen Zweifel mehr, dass die ganze Sache Unsinn oder Betrug ist. Sie sind "denialists", "Ablehner", die stur eine Meinung vertreten, unabhängig von der Faktenlage. Also im Grunde Dogmatiker.
Sehr lesenswert: New Scientist-Special "Living in denial". (Dank an Volkmar für den Hinweis!)

Auch in der Skeptikerbewegung gibt es leider dogmatische Ablehner.
Edgar Wunder prägte dafür den Begriff des
Skeptiker-Syndroms.

Mittwoch, 9. Juni 2010

Pragmatismus (fehlender, in Deutschland)

Ein Nachtrag zur "Schwedischen Lösung". Darin schrieb ich:
Einer der auffälligsten Mentalitätsunterschiede ist der schwedische Pragmatismus. (Der Mangel an Pragmatismus mit der damit verbundenen Rechthaberei und Prinzipienreiterei scheint mir ein Gründübel der deutschen Gesellschaft zu sein, neben der immer noch wirksamen Untertanenmentalität. Aber das ist ein anderes Thema.)
Dass es in der deutschen Debattenkultur selbst Menschen mit pragmatischen politischen Zielen an Pragmatismus mangelt, fiel mir auf ziemlich drastische Weise auf, als ich den Lifestream vom Bundesparteitag der “Piratenpartei” verfolgte. Ich kannte erbitterte Debatten noch aus der Zeit, als die “Grünen” noch grün waren - oft auch hinter den Ohren - und sich nicht immer grün waren. Aber damals vermutete ich, das läge an den ideologisch verhärteten Fronten - "Fundis" gegen "Realos", Technikfans gegen Technikfeinde, Ökolibertäre gegen Öko-Autoritäre, "Neo-Hippies" gegen Öko-Spießer, Öko-Spirituelle gegen (knallhart materialistische) Öko-Linke usw, usw, usw. . (Oft bedaure ich, dass die bunten Chaotentruppe von damals zu einer "ganz normalen" Partei mit dem "ganz normalen" Parteizweck des Machterwerbs und -erhalts und sehr viel Opportunismus wurde.)

Solche Flügelkämpfe konnte ich bei den “Piraten” bisher nicht ausmachen - aber den unsäglichen, aufs Fertigmachen und Rechthaben gerichteten Debattenstil sehr wohl. Als Ursache sehe ich den fehlenden Pragmatismus. Was übrigens kein "Livestream-Artefakt" - es wirkt ja immer alles etwas chaotischer, wenn man nicht selbst dabei ist - zu sein scheint. Karan twitterte direkt vom Parteitag: "Könnte bitte mal jemand eine Runde Pragmatismus ausgeben?"
Ich kann mir so eine verkorkste Debatte in England oder Schweden irgendwie nicht vorstellen.

Mir fällt immer wieder auf, wie selten Streitgespräche im deutschen Sprachraum bei der Sache bleiben, ohne von einem Extrem ins andere zu taumeln. Meistens vermischt sich das mit heftigen ad personam-Attacken - und mit nicht weiter begründete negativen Werturteilen wie “das ist doch Scheiße”.

Ich habe den Verdacht, dass der "streitsüchtige, prinzipienreitende, besserwisserische" Deutsche kein reines Vorurteil ist. Wie oft das Klischee von der "deutschen Oberlehrermentalität" zutrifft, merkt man als Deutscher meistens erst, wenn man andere Mentalitäten kennengelernt hat.
Wir Deutschen neigen offensichtlich dazu, uns über andere zu erheben, indem wir sie erniedrigen. Mir fällt das im Interview-Stil auf: offensichtlich wird von deutschen Journalisten erwartet, dass sie in einem Interview jemanden richtig “fertigmachen”. Dem gegenüber steht der deutsche Brauch, ein Interview autorisieren zu lassen, vor allem, wenn “wichtige” Personen interviewt werden. Das heißt: aggressiv in der Form, unterwürfig-ängstlich in der Sache. Der gute “angelsächsiche” Journalismus macht’s genau anders herum. (Der schlechte “angelsächsische” Journalismus ist dafür meines Erachtens an Gehässigkeit kaum noch zu toppen, nicht mal von der “Bild”, die ja deutlich dem Vorbild der englischen Revolverblätter wie “Daily Mirror” oder “Sun” folgt.).

Woher der deutsche Mangel an Pragmatismus stammt, und weshalb pragmatische Politiker wie Helmut Schmidt in Deutschland die große Ausnahme sind (wobei Schmidt nebenbei bemerkt in seiner Oberlehrerhaftigkeit trotz Pragmatismus sehr "Klischeedeutsch" sein konnte), darüber gibt es zahllose Theorien. Es wäre wenig pragmatisch, ihnen allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken.

Die deutsche Rechthaber/Runterputzer-Mentalität, meiner Ansicht nach ein wesentlicher Grund für fehlenden Pragmatismus, stammt, wiederum nur nach meiner unmaßgeblichen Auffassung, vor allem aus der Angst vor Fehlern. (Die mich auch dazu bringt, so vorsichtig zu formulieren.)

Die Angst vor Fehlern ist im Kern, denke ich, die Angst davor, für einen Fehler gerade stehen zu müssen.
Die wiederum hängt wohl damit zusammen, dass jemand, der einen Fehler “begangen” hat (verräterischer Sprachgebrauch: man begeht ein Verbrechen!), in Deutschland oft und gern “fertiggemacht” wird.
Das war schon damals in der Schule so: es kam, hatte ich den Eindruck, eher darauf an, möglichst wenig Fehler zu machen, anstatt richtig gut zu sein.
(Der Ansatz des Fehlerzählens ist bei Diktaten und bei reinen Wissenstests angemessen, schon in Mathe sollte der Lösungsweg ebenso wichtig sein, wie das richtige Ergebnis.)
Später erlebte ich, dass bei fast allen Bewerbungen (und ich habe viele hinter mir!) mir hinsichtlich meiner “Schwachstellen” auf den Zahn gefühlt wurde, während eventuelle Stärken als “selbstverständlich” vorausgesetzt wurden.
Umgekehrt ist die Frage: “Was sind Ihre größten Stärken?” unter Bewerbern vielleicht noch mehr gefürchtet als die Frage: “Was sind Ihre größten Schwächen?”
Ich jedenfalls habe vor der Frage nach den Stärken mehr Angst. Meine Schwächen glaube ich zu kennen, ich weiß auch ungefähr, welche Schwächen ich einigermaßen gefahrlos in einem Vorstellungsgespräch zugeben kann. Aber die Stärken? Da bleibt es - auch bei mir - beim “Üblichen”, von dem ich weiß, dass es “gefragt” ist - Teamfähigkeit, Selbstständigkeit, Lernbereitschaft, Fleiß, usw. usw. “Kreativität” eher nicht.
Zu meinem Leidwesen habe ich schon einige Male erfahren müssen, wie wenig geachtet “kreative Spinner” selbst in der Werbung sind.
”Also, ich denke, Sie, als jemand mit kaufmännischer Ausbildung, könnten ein gutes Gegengewicht zu diesen kreativen Spinnern da im ersten Stock sein.”
Die vergesse ich nie, diese Verachtung in der Stimme eines Managers einer Werbe- und PR-Agentur gegenüber den Menschen, ohne die er weder Werbung noch PR machen könnte. Das sind eben Handlanger, deren Kreativität man sich einkauft. Aber ein IT-Kaufmann, der denkt nüchtern, sachlich - und dessen “Nüchternheit” und dessen “Pragmatismus” wird eben genau so eingekauft.
Wichtig sind allein die “Entscheider”, die “Ausführer” und ihre Fähigkeiten sind “Menschenmaterial”. Das ist wiederum recht pragmatisch, aber auf eine Weise, die ich nicht schätze.

Samstag, 29. Mai 2010

Mord aus Langeweile? Wirklich nur Langeweile?

Ein schockierendes Verbrechen zeigt, dieser Eindruck drängt sich mir auf, einen der "blinden Flecken" der medialen Wahrnehmung.
Die üblichen Klischees und die von Politikern und "Öchsperten" (Chat Atkins) so gerne anführten Patenterklärungen, warum Jugendliche gewalttätig werden, passen nicht.
"Kein Alkohol, keine Drogen, keine anderen Substanzen". Und offensichtlich auch keine Habgier, kein Sex, kein "Bandenkrieg" und auch keine aufgestaute Wut, denn die Täter waren "kalt, emotionslos und abgebrüht". Da bleibt als Motiv offensichtlich nur:
"Für uns ist der Rückschluss, dass sie aus Langeweile agierten, es gab sonst keinen anderen Anlass", sagte ein weiterer Polizeisprecher.
Jugendlicher soll Obdachlosen aus Langeweile getötet haben (SpOn)
Aber wieso kommen junge Menschen so mir nichts, dir nichts auf die Idee, nur so zum "Zeitvertreib" einen Menschen brutal zu ermorden?
Ich gehe jede Wette ein, dass, sollte der Haupttäter etwa leidenschaftlich Computerspiele gespielt haben (egal welche), z. B. Death Metal gehört haben oder ein eifriger Porno-User gewesen sein, Medien, Politik und vor allem "Öchsperten" sich erleichtert auf diese "Gefahrenpotenziale" stürzen werden. Das würde ihnen nämlich ersparen, sich mit dem Offensichtlichen auseinanderzusetzen:
Da haben unsere Progandisten gegen "nutzlose Esser", "Sozialschmarotzer" und die "traditionelle" Verachtung gegenüber "Asozialen" wohl ganze Arbeit geleistet.
Ein Obdachloser ist eben ein Versager. Einer, mit dem man es machen kann. Den man ruhig ärgern kann, ohne von irgend jemandem Ärger erwarten zu müssen.
Wäre das Verbrechen nicht blutig eskaliert - es würde niemanden interessieren. Es war doch nur ein Penner.

Sonntag, 25. April 2010

Marginalie zu Kopp etc. - Wer glaubt "so einen Unsinn"?

Lange Zeit nahm ich an, dass haarsträubend konstruierte "Weltverschwörungstheorien", pseudowissenschaftliche Behauptungen jener Sorte, die ein aufgeweckter Grundschüler entlarven könnte, und plumpe Sensationsmeldungen, die keiner ad-hoc-Plausibilitätprüfung standhalten, vor allem von drei Sorten Menschen geglaubt würde:
  1. besonders dumme Menschen
  2. Menschen, die zwar nicht dumm sind, denen es aber am nötigen Wissen, der nötigen Lebenserfahrung oder der nötigen gesunden Skepsis mangelt: die "Naiven"
  3. und Menschen, die weder dumm noch naiv sind, aber in einem geschlossenen System der (Fehl-)Wahrnehmung stecken - das kann ein autoritäres Glaubenssystem sein, aber auch persönliche Hörigkeit, ideologische Verbohrtheit oder "Wahn" im Sinne etwa einer paranoiden Wahrnehmungsstörung.
Später ergänzte ich dieses einfache Schema, das in etwa der Haltung von "Skeptiker"-Organisationen wie der GWUP entspricht, durch Menschen, die zwar wissen, dass es Unsinn ist, aber glauben wollen - weil es interessant ist, weil es ihre Ängste und Hoffnung anspricht, weil man sich damit wichtig vorkommen kann usw.. Also ein Aberglaube, ein Glauben wider besseren Wissens, zu dem es heißt: "Ich weiß, dass da nichts daran ist, aber ich glaube ... ".

Die praktische Erfahrung zeigt: auch Menschen, auf die das alles nicht zutrifft, können auf "so einen Unsinn" hereinfallen. Da nehme ich mich keineswegs aus.

Ein praktisches Beispiel: in diesem Blog und, in etwas besser ausgearbeiteter Form auf der Website der "Nornirs Ætt" gibt es eine Satire mit dem Titel:
Wer war eigentlich Thor Steinar?
.
Es gibt Menschen, und zwar offensichtlich keine dummen, naiven oder verbohrten / verrannten / paranoiden Menschen, und auch keine, denen ich ein "Glauben wollen", aus welchen Gründen auch immer, unterstellen möchte, die das für bare Münze genommen haben. Mit dreien von ihnen habe ich mich darüber später unterhalten.
Kern der Satire ist die Behauptung, es hätte einen wenig bekannten deutschvölkischen und der rechten Esoterik zugeneigten Komponisten namens Dietrich "Thor" Steinar gegeben, der eine eigene Version des "Ringes des Nibelungen" geschrieben hätte und im 1. Weltkrieg noch in jungen Jahren gestorben wäre, worauf er und sein "Heldentod" unter einigen Nazis der 1920er Jahre verklärt worden wäre.
Diese Kernbehauptung ist, da ich ja wollte, dass der Scherz im ersten Moment "geschluckt", dann aber schnell als Satire erkannt wird, nicht völlig unplausibel.
Ausschlaggebend war bei allen drei, dass sie den Text nur flüchtig überflogen hatten, so dass ihnen die vielen absurden Details, die ich in die Satire einbaute, nicht weiter auffielen.
Ein weiterer Grund war, dass ich offensichtlich als besonders glaubwürdig wahrgenommen wurde - etwa in den Sinne, dass meine Beiträge auf "Nornirs Ætt" bisher immer ganz gut recherchiert gewesen wären. Wenn ich bisher nicht gelogen oder Unsinn einfach weitergeben hätte, warum sollte ich dann auf einmal etwas schreiben, das nicht stimmt?
Der dritte Grund war, wenigstens bei einem, der "reingefallen" war, der, dass die jämmerliche Figur "Thor" Steinar genau zu seinen Vorstellungen von der "Denke" bzw. "Nicht-Denke" "kackbrauner Kameraden" passte. Er traute ihnen zu, dass sie einen Komponisten, der etwa so "erfolgreich" war, wie Adolf Hitler als Kunstmaler, der seine Opern zusammenplagierte und sich an der Front geradezu mutwillig erschießen ließ, um seinen "Heldenmut" zu beweisen, der aber die "richtige", das heißt, deutschvölkische und germanenschwärmerische Gesinnung gehabt hätte, zum Aushängeschild einer Modemarke machen würden. (Und das obwohl ich behauptete, im Jargon der Wehrmachtssoldaten wären Kleidungsstücke mit Einschusslöchern "Thor-Steinar-Mode" genannt worden.) Wahrscheinlich traute mein "Opfer" den NS-Nostalgikern so etwas nicht von ungefähr zu, und das (nicht ganz unbegründete) Klischee vom "Doof-Nazi" verlieh auch völlig absurden Behauptungen eine gewisse Glaubwürdigkeit.
Das könnte ein Sonderfall von "ich will glauben" sein. Denn auch ich genieße mit gutem Gewissen meine Schadenfreude, wenn sich Rechtsextremisten und andere Typen, die ich nicht mag, mal so richtig blamieren. Es ist auch situationsbedingt: Normalerweise würde ich jedem, der mir erzählen würde, der Papst würde ein Doppelleben fühlen, aktiv schwul sein und einen minderjährigen Geliebten im Lateranpalast verstecken, einen Vogel zeigen. Im Moment aber könnte ich diese bizarre Story glatt glauben wollen.

Wie auch immer: als Konsequenz war ich gegen den Vorschlag, einen Aprilscherz zu machen, der darum geht, dass die "Nornirs Ætt" eine gewisse selbsternannte "germanen-gläubige" "Autoritätsperson" anerkennen würde, die man besser nicht nennt, da die Namensnennung im öffentlich zugänglichen WWW sofort lichtgrußvolle Nerv-Kommentare dieser Person oder ihrer Fans nach sich zieht, die zu löschen Zeit und Nerven kostet. Diese Fans und vor allem die selbst ernannte Ober-Autorität selbst würden das nämlich glatt und hoch erfreut für bare Münze nehmen und die "gute Nachricht" sofort weitertragen - und unsere anschließend notwendigen mühevollen Dementies und Distanzierungen wären den geglückten Aprilscherz nicht Wert gewesen.

Fazit: ein Fake, der zur Vorurteilsstruktur und den Wünschen und Ängsten des Fälschungsopfers passt, wird wahrscheinlich geglaubt werden, wenn das Opfer nicht allzu sorgfältig hinsieht.
Ist der Fälscher eine "Autorität", die als glaubwürdig gilt, etwa ein bekannter Journalist oder ein prominenter Wissenschaftler, ist die Fälschung einigermaßen plausibel und vermeidet der Fälscher allzu dick aufgetragene Behauptungen, können selbst normalerweise wachsamen Zeitgenossen ungeheuerliche Lügengeschichten untergejubelt werden.

Samstag, 17. April 2010

Macht twittern unglücklich?

Wer wenig oberflächlichen Smalltalk und viele tiefergehende Gespräche führt, ist zufriedener im Leben. Diese Binsenweisheit haben Psychologen der University of Arizona nun wissenschaftlich belegt. Sie untersuchten, was die Gespräche von Personen, die sich als “glücklich” bezeichnen, von denen unglücklicher Menschen unterscheidet. Zuviel Smalltalk macht unglücklich (pharmacon.net)
“Glücklich ist man im Leben eher dann, wenn man soziale Kontakte pflegt und in den Konversationen an die Substanz geht”, so die Forscher um Matthias R. Mehl.

Das ist in der Tat unter Menschen, die sich ein klein wenig mit Psychologie auskennen, eine Binsenwahrheit. Allerdings eine jener Wahrheiten, die gerne verdrängt werden - denn Smalltalk ist ungefährlich, Smalltalk geht immer, Smalltalk ist bequem. Und ein wenig unverbindlich-freundlich-oberflächliche Konversation ist recht erfreulich. Obgleich es beim Smalltalk völlig nebensächlich ist, worüber geredet wird - Wetter, Fußball, Fernsehprogramm, Mode - kann er sozial wichtig sein. Führe ich eine noch so seichte Konversation mit jemandem, zeige ich, dass ich mich für ihn interessiere - oder gebe es zumindest vor.
Wahrscheinlich macht es die Dosis, ob Smalltalk bekömmlich ist, oder nicht.
Ein ernsthaftes Gespräch strengt hingegen manchmal richtig an. Man kann es nicht überall, und nicht mit jedem führen. Der Vergleich drängt sich auf: Smalltalk, das sind Süßigkeiten, Unterhaltungen, die in die Tiefe gehen, vollwertige Mahlzeiten. Ein gutes Gespräch ist Seelennahrung. (Soulfood to go fällt mir dazu ein - gut, das ist Musik, und zwar gute.)
Warum schadet zu wie Smalltalk dem Wohlbefinden? Selbst wenn man sich nicht an die klassischen vier Verbote der gepflegten Party-Konversation hält - "Rede nie über Politik, Sex, Religion oder Geld" - wird Smalltalk von unzähligen ungeschriebenen Höflichkeitsregeln beherrscht, die als sozialer Schmierstoff sinnvoll sind, aber jede echte Gefühlsäußerung unterbinden. Smalltalk, über längere Zeit aufrechterhalten, wird zum Heuchelsprech. So "echt" und "tief" wie das aufgesetzte Dauerlächeln eines Wunderdecken-Verkäufers auf einer "Kaffeefahrt". Und so "ehrlich" wie sein Verkaufsgespräch.

Wie ist das mit den "sozialen Dienste im Internet"? Das hängt vom jeweiligen Dienst ab und wozu man ihn verwendet. Microblogging wie z. B. Twitter eignet sich mit den auf 140 Zeichen beschränkten Posts nicht für tiefsinnigen Gedankenaustausch, aber auch nicht für Smalltalk im eigentliche Sinne. Der ist eher auf Chats, Foren oder Communities wie Facebook zu finden.
Ich würde Twitter nicht benutzen, wenn es kein "Kaffeepausenmedium" wäre. Interessanterweise tritt es, bei mir, nicht in Konkurrenz zum Pausengespräch mit Arbeitskollegen - das den Smalltalk-Rahmen meistens übersteigt. Twitter verdrängt bei mir das Pausen-Kreuzworträtsel oder das Pausen-Sudoko. Oder das Browserspiel. Texten statt spielen.

Tatsächlich sind auch die Mechanismen der Online-Konversation nicht mit dem Smalltalk im persönlichen Gespräch oder am Telefon zu vergleichen. Trotzdem habe ich den Verdacht, dass etwa Facebook zu einer Art Pseudo-Kommunikation führt: ich erfahre einiges über meine "Freunde", aber zu einem Austausch auf "tieferer Ebene" kommt es - sinnvollerweise, wenn man das Datenschutzproblem bedenkt - dort nicht.

Vielleicht macht Online-Kommunikation auf nicht sicher vertraulichen Plattformen auf die Dauer ebenso unglücklich wie Smalltalk - weil der Austausche tieferer Gedanken und Gefühle unterbleibt. Und weil sie, wie der Smalltalk, meist so viel bequemer ist, als etwa ein Telefonanruf oder gar ein persönliches Gespräch.

Samstag, 13. März 2010

Halbwahrheit, moleskin-gebunden, oder: wie man Legenden strickt

Eher zufällig und ganz bestimmt unbeabsichtigt lieferte mir Karan den Auslöser dafür, eine Überlegung los zu werden, die mir schon lange im Kopf herumspukt: Legenden - Verschwörungstheorien, Propagandalügen, Marketing-Stunts, Geschichtsklitterungen - aber auch harmlose "moderne Mythen" und Alltagssagen - funktionieren dann am Besten, wenn sie auf Halbwahrheiten beruhen.

Karan benutzt zum Schreiben ihrer Songs ein Moleskine-Notizbuch mit Notenlinien. Und obwohl ich annehme, dass sie es ausschließlich aus praktischen Gründen verwendet, passt das ins Klischee "kreative Typen benutzen Moleskines".
(Ich benutze übrigens kein Moleskine oder vergleichbares Notizbuch. Ich kann mich darin nicht so austoben wie auf meinen geliebten Spiralblocks - die ich in allen möglichen Formaten, vom DIN A7 "Einkaufzettelformat" bis zum DIN A4 "Collegeblock" (mit Lochung) verwende. Das ist weniger eine Frage des Formats, als eine der Kosten - hemmungsloser Schreibdurchfall und Anfälle von kreativem Kritzelwahn würden auf einem Moleskine, das "echt" an die 11 Euro und als Imitat immer noch um die 5 - 6 Euro kostet, ein für mich zu teurer Spaß werden, zumal ich das meiste, was ich so zu Papier bringe, früher oder später dem Altpapier anvertraue. Aber ich gebe zu: für einen weniger wahnsinnigen und weniger streichwütigen Kreativen ist diese Art Notizbuch praktisch.)

Der Erfolg der Moleskines als Attribut des kreativen Menschen, als "legendäres" Markenprodukt ist Folge einer geschickten Manipulation. Ohne die Werbung mit einer guten, aber erfundenen (man kann auch sagen: erlogene) Geschichte wären die "Moleskines" schlichte, wenn auch praktische, Notizbücher geblieben. Wie diese Manipulation, das Stricken der Moleskin-Legende ablief, wurde in Das ungeschriebene Buch gut beschreiben.

Moleskine ist, glaubt man dem Hersteller (Modo & Modo) das legendäre Notizbuch von Hemingway, Picasso, Oscar Wilde und Sartre. Allerdings ist es sehr fraglich, ob diese legendären Kreativen tatsächlich jene ursprünglich in schweren Baumwollstoff ("Moleskin") gebundenen Notizbücher von jener legendären kleinen Manufaktur in Tours, von der Bruce Chatwin in seinem Buch "Traumpfade" ("The Songlines") berichtete, benutzten. Ziemlich sicher ist jedenfalls, dass vor Chatwin der Ausdruck "les carnets moleskines" für diese Sorte Notizbuch nicht gebräuchlich war. Vielleicht hat es auch den kleinen Pariser Schreibwarenladen und den verstorbenen Produzenten in Tours so, wie Chatwin ihn beschrieb, nie gegeben - künstlerische Freiheit eben, übertrieben, zugespitzt, und doch in gewisser Weise wahr, wenn auch in einem andere Sinne als das bei einem Lexikonartikel oder einer Reportage zurecht erwartet wird.
Was Modo & Modo aus der netten Chatwin-Geschichte machte, ist nichts als geschicktes Marketing, auch unter Einsatz handfester Falschbehauptungen, die in diesem Fall nicht mit "künstlerischer Freiheit" zu entschuldigen sind. Denn wie die deutlich preiswerteren Notizbücher vom Schreibwaren-Discounter werden die Moleskines von Modo & Modo in China hergestellt, und sind auch nicht in das namensgebende robuste Moleskin gebunden, sondern in ein Lederimitat auf PVC-Basis. Was man mit einem "echten" Moleskin kauft, ist also der Markenname und das damit verbundene Image.

Aber, und das ist der Punkt, die absichtlich gestrickte Legende hätte nie funktioniert, wenn sie nicht auf einigen Halbwahrheiten beruhen würde. Eine Halbwahrheit ist die Geschichte Chatwins, der ja tatsächlich Notizbücher der beschriebene Art verwendete und sie offensichtlich über alles schätzte. Eine andere Halbwahrheit ist es, dass Hemingway, Picasso, Oscar Wilde, Sartre usw. ja nachweislich Notizbücher mit festem Einband und abgerundeten Ecken verwendeten. Vielleicht mögen darunter auch welche mit Gummizug, mit dem das Buch geschlossen gehalten werden kann, der Tasche am Ende und einem Leseband gewesen sein, und eventuell waren einige dieser Notizbücher sogar in Moleskin gebunden. Hätte Modo & Modo etwa behauptet, alle diese Kreativen hätten z. B. einen bestimmten Kugelschreiber verwendet, der heute, nach dem Tod des ursprünglichen Herstellers, eben von Modo & Modo weiterproduziert worden wäre - die Marketing-Legende hätte nicht funktioniert. Zum Beispiel, weil allgemein bekannt ist, dass es zu Lebzeiten von Oscar Wilde noch keine Kugelschreiber gab. Und ohne Chatwins schwärmerische Beschreibung, an dem die ganze Legende hängt, wäre der Marketing-Stunt nicht denkbar gewesen.

Die beiden Hauptfaktoren, die zum "Gelingen" dieser Legende betrugen, sind das "Körnchen Wahrheit", durch die sie glaubwürdiger als eine freie Erfindung wurde - immerhin gibt es Fotos, auf denen z. B. Hemmingway mit Notizbuch zu sehen ist - und der Appell an ein weit verbreitetes Klischee - hier: das des kultivierten Kreativen mit besonderem Geschmack. (Wenn Hemmingway billige Spiralblocks benutzt hätte, hätte sich darauf keine Legende aufbauen lassen.)

Solche Legenden könne auch ohne bewusste Absicht konstruiert werden. Etwa die, dass der Weihnachtsmann von Coca-Cola erfunden worden wäre. Diese Behauptung wurde nicht zufällig in die Welt gesetzt, aber das Gerücht wäre, wie andere Coca-Cola-Gerüchte, verpufft, hätte es nicht das Klischee des schier allmächtigen Coca-Cola-Konzerns (der stellvertretend für den US-Kapitalismus steht) und einige nachprüfbare Tatsachen, die die Legende scheinbar stützen, z. B. die massiven Weihnachts-Werbekampagnen des Konzerns, gegeben. Aber ein noch besseres Beispiel ist die "paradiesische Südsee".

Ganz falsch die Vorstellung, man könne auf einer Insel im tropischen Pazifik ganz angenehm leben, ja nicht: warmes Klima, aber durch Seewind gemildert, viel Sonne, aber keine wüstenhafte Dürre und auch, anders als am Amazonas, kein täglicher Wolkenbruch. Wer genügsam ist, kommt dort auch mit sehr wenig Geld zurecht.
Es stimmt auch, dass die Polynesier im Allgemeinen freundliche Menschen sind. Aber selbstverständlich (oder offensichtlich nicht selbstverständlich, wenn man an bestimmte Autoren, darunter sogar Ethnologen wie Magaret Mead, denkt) gibt es auch auf Tahiti, Samoa oder Tonga Streit, Neid, Eifersucht, Verklemmtheit, Klatsch und Zwietracht. Gewalt, als gewaltsam ausgetragenen Streit und vor allem als häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder, ist z. B. auf Samoa statistisch gesehen häufiger als in Deutschland. Wenigstens das Klischee, dass die "Südseeinsulaner" in Eintracht und Harmonie mit der Natur leben, dürfte spätestens seit Rapa Nui nicht mehr ganz so weit verbreitet sein.

Auch vor der Kolonialzeit, der Missionierung durch "Weiße" und den "schlechten Einflüssen einer dekadenten Zivilisation" herrschten in Polynesien alles andere als paradiesische Zustände (womit die Gräuel der Kolonialisierung nicht beschönigt werden sollen). Auch im Pazifik gab es kaum Pazifisten. Wie beinahe überall auf der Erde gab es Kriege, um Macht und um das auf den Inseln stets knappe Land, es gab, wie in Stammesgesellschaften nicht unüblich, Blutrache, es gab Kindstötungen, es gab eine streng hierarchische Gesellschaft mit Adelsprivilegien, es gab sogar Sklaverei. Und auch der Kannibalismus der "Südseeinsulaner" ist keine Erfindung böswilliger Missionare oder rassistischer Kolonialherren. (Auch wenn ein Gutteil Rassismus in den meisten "Menschenfresser"-Geschichten steckt.)

Die romantische Vorstellung, dass die Südseeinseln ein irdisches Paradies seien, ist keine gezielt erfundene Propaganda- oder Marketing-Legende. Trotzdem ist sie ein Konstrukt, etwas "Gemachtes", sie entstand nicht "von allein".

Aller Wahrscheinlichkeit nach waren es die Seeleute des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die das Südsee-Paradies (ungeplant) erfanden.
Die Lebensbedingungen Bord der Schiffe waren, vor allem für die einfachen Matrosen, extrem hart, und je länger die Reise dauerte, desto härter wurden sie. Ständige Feuchtigkeit, drangvolle Enge, schlechte Verpflegung, Skorbut und Infektionskrankheiten, harte Arbeit, fauliges Trinkwasser, um nur einige der "Attraktionen" der damaligen Seefahrt zu benennen. Hinzu kam auf Marineschiffen eine eiserne Disziplin. Die nicht immer, aber oft, mit schlechter Behandlung und drastischen Strafen einher ging.

Die grünen Insel mit Palmenstränden und scheinbarem Überfluss an köstlichem Essen, mit freundlichen und neugierigen Menschen, auf denen scheinbar niemand schuften musste, müssen im Kontrast dazu tatsächlich paradiesisch gewirkt haben.
Dann neigten die heimgekehrten Seeleute dazu, ihre Erlebnisse auszuschmücken und zu übertrieben - selbst wenn sie kein "Seemannsgarn" spannen, was oft genug vorkam. Es ist eine allgemein menschliche Eigenschaft, Dinge, die anders sind als zuhause, hervorzuheben, und Dinge, die genau so sind, wie gewohnt, zu vernachlässigen.
Folglich spielten die hierarchische Klassengesellschaft Polynesiens, die brutalen Strafen bei Verstoß gegen Regeln und Tabus (ein polynesisches Wort), die Kriege und Kleinkriege usw. in den Erzählungen der Seeleute keine große Rolle. Das war fast wie zuhause und daher nicht der Erwähnung wert.

Berichtet wurde von dem, was anders war als zu Hause - den warmen Klima, den köstlichen, nie gesehenen Früchten, der üppigen Flora und Fauna, der spärlichen Kleidung der "Eingeborenen" und ihrer - jedenfalls nach den ziemlich puritanischen Maßstäben des Englands des 19. Jahrhunderts - freizügigen Sexualmoral.
Nachdem die Legende von der paradiesischen Südsee sich erst einmal festgesetzt hatte, verzerrte sie, zusammen mit eine Portion Wunschdenken, die Wahrnehmung etwa der Ethnologin Margret Mead. Das verzerrte und idealisierte Bild, das sie in "Kindheit und Jugend in Samoa" zeichnete, trug dann wiederum dazu bei, dass das Paradies-Klischee gefestigt wurde.
Es soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass es auch absichtliche Falschdarstellungen vom Leben in der Südsee gab - als beschönigende Kolonialpropaganda beispielsweise, oder, um mit dem Verweis auf die paradiesischen Zustände im tropischen Pazifik politische Utopien zu illustrieren. Später taten Tourismuswerbung und dem Geschmack und den Erwartungen des Publikums nach dem Munde redenden bzw. schreibende Schriftsteller das ihre zur Legende vom "irdischen Paradies" bei. Aber die Legende hätte sich nie so festsetzen können, wenn es nicht entsprechende Klischees und einen Anteil Wahrheit gegeben hätte.

Um den Bogen zum Moleskine-Notizbuch zu schließen: einer der Schriftsteller, dem der Gebrauch so eines Notizbuches nachgesagt wird, ist Jack London. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass unter den von ihm benutzten Notizbüchern eines aus französischer Produktion, oder gar aus jener legendären kleinen Manufaktur in Tours, war. Es waren ausgerechnet die Abenteuerromane Londons, die, als ich sie als Jugendlicher zum ersten Mal las, bei mir das Klischee vom Südseeparadies zurecht rückten.

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