Marginalie zu Kopp etc. - Wer glaubt "so einen Unsinn"?

Lange Zeit nahm ich an, dass haarsträubend konstruierte "Weltverschwörungstheorien", pseudowissenschaftliche Behauptungen jener Sorte, die ein aufgeweckter Grundschüler entlarven könnte, und plumpe Sensationsmeldungen, die keiner ad-hoc-Plausibilitätprüfung standhalten, vor allem von drei Sorten Menschen geglaubt würde:
  1. besonders dumme Menschen
  2. Menschen, die zwar nicht dumm sind, denen es aber am nötigen Wissen, der nötigen Lebenserfahrung oder der nötigen gesunden Skepsis mangelt: die "Naiven"
  3. und Menschen, die weder dumm noch naiv sind, aber in einem geschlossenen System der (Fehl-)Wahrnehmung stecken - das kann ein autoritäres Glaubenssystem sein, aber auch persönliche Hörigkeit, ideologische Verbohrtheit oder "Wahn" im Sinne etwa einer paranoiden Wahrnehmungsstörung.
Später ergänzte ich dieses einfache Schema, das in etwa der Haltung von "Skeptiker"-Organisationen wie der GWUP entspricht, durch Menschen, die zwar wissen, dass es Unsinn ist, aber glauben wollen - weil es interessant ist, weil es ihre Ängste und Hoffnung anspricht, weil man sich damit wichtig vorkommen kann usw.. Also ein Aberglaube, ein Glauben wider besseren Wissens, zu dem es heißt: "Ich weiß, dass da nichts daran ist, aber ich glaube ... ".

Die praktische Erfahrung zeigt: auch Menschen, auf die das alles nicht zutrifft, können auf "so einen Unsinn" hereinfallen. Da nehme ich mich keineswegs aus.

Ein praktisches Beispiel: in diesem Blog und, in etwas besser ausgearbeiteter Form auf der Website der "Nornirs Ætt" gibt es eine Satire mit dem Titel:
Wer war eigentlich Thor Steinar?
.
Es gibt Menschen, und zwar offensichtlich keine dummen, naiven oder verbohrten / verrannten / paranoiden Menschen, und auch keine, denen ich ein "Glauben wollen", aus welchen Gründen auch immer, unterstellen möchte, die das für bare Münze genommen haben. Mit dreien von ihnen habe ich mich darüber später unterhalten.
Kern der Satire ist die Behauptung, es hätte einen wenig bekannten deutschvölkischen und der rechten Esoterik zugeneigten Komponisten namens Dietrich "Thor" Steinar gegeben, der eine eigene Version des "Ringes des Nibelungen" geschrieben hätte und im 1. Weltkrieg noch in jungen Jahren gestorben wäre, worauf er und sein "Heldentod" unter einigen Nazis der 1920er Jahre verklärt worden wäre.
Diese Kernbehauptung ist, da ich ja wollte, dass der Scherz im ersten Moment "geschluckt", dann aber schnell als Satire erkannt wird, nicht völlig unplausibel.
Ausschlaggebend war bei allen drei, dass sie den Text nur flüchtig überflogen hatten, so dass ihnen die vielen absurden Details, die ich in die Satire einbaute, nicht weiter auffielen.
Ein weiterer Grund war, dass ich offensichtlich als besonders glaubwürdig wahrgenommen wurde - etwa in den Sinne, dass meine Beiträge auf "Nornirs Ætt" bisher immer ganz gut recherchiert gewesen wären. Wenn ich bisher nicht gelogen oder Unsinn einfach weitergeben hätte, warum sollte ich dann auf einmal etwas schreiben, das nicht stimmt?
Der dritte Grund war, wenigstens bei einem, der "reingefallen" war, der, dass die jämmerliche Figur "Thor" Steinar genau zu seinen Vorstellungen von der "Denke" bzw. "Nicht-Denke" "kackbrauner Kameraden" passte. Er traute ihnen zu, dass sie einen Komponisten, der etwa so "erfolgreich" war, wie Adolf Hitler als Kunstmaler, der seine Opern zusammenplagierte und sich an der Front geradezu mutwillig erschießen ließ, um seinen "Heldenmut" zu beweisen, der aber die "richtige", das heißt, deutschvölkische und germanenschwärmerische Gesinnung gehabt hätte, zum Aushängeschild einer Modemarke machen würden. (Und das obwohl ich behauptete, im Jargon der Wehrmachtssoldaten wären Kleidungsstücke mit Einschusslöchern "Thor-Steinar-Mode" genannt worden.) Wahrscheinlich traute mein "Opfer" den NS-Nostalgikern so etwas nicht von ungefähr zu, und das (nicht ganz unbegründete) Klischee vom "Doof-Nazi" verlieh auch völlig absurden Behauptungen eine gewisse Glaubwürdigkeit.
Das könnte ein Sonderfall von "ich will glauben" sein. Denn auch ich genieße mit gutem Gewissen meine Schadenfreude, wenn sich Rechtsextremisten und andere Typen, die ich nicht mag, mal so richtig blamieren. Es ist auch situationsbedingt: Normalerweise würde ich jedem, der mir erzählen würde, der Papst würde ein Doppelleben fühlen, aktiv schwul sein und einen minderjährigen Geliebten im Lateranpalast verstecken, einen Vogel zeigen. Im Moment aber könnte ich diese bizarre Story glatt glauben wollen.

Wie auch immer: als Konsequenz war ich gegen den Vorschlag, einen Aprilscherz zu machen, der darum geht, dass die "Nornirs Ætt" eine gewisse selbsternannte "germanen-gläubige" "Autoritätsperson" anerkennen würde, die man besser nicht nennt, da die Namensnennung im öffentlich zugänglichen WWW sofort lichtgrußvolle Nerv-Kommentare dieser Person oder ihrer Fans nach sich zieht, die zu löschen Zeit und Nerven kostet. Diese Fans und vor allem die selbst ernannte Ober-Autorität selbst würden das nämlich glatt und hoch erfreut für bare Münze nehmen und die "gute Nachricht" sofort weitertragen - und unsere anschließend notwendigen mühevollen Dementies und Distanzierungen wären den geglückten Aprilscherz nicht Wert gewesen.

Fazit: ein Fake, der zur Vorurteilsstruktur und den Wünschen und Ängsten des Fälschungsopfers passt, wird wahrscheinlich geglaubt werden, wenn das Opfer nicht allzu sorgfältig hinsieht.
Ist der Fälscher eine "Autorität", die als glaubwürdig gilt, etwa ein bekannter Journalist oder ein prominenter Wissenschaftler, ist die Fälschung einigermaßen plausibel und vermeidet der Fälscher allzu dick aufgetragene Behauptungen, können selbst normalerweise wachsamen Zeitgenossen ungeheuerliche Lügengeschichten untergejubelt werden.

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