Halbwahrheit, moleskin-gebunden, oder: wie man Legenden strickt

Eher zufällig und ganz bestimmt unbeabsichtigt lieferte mir Karan den Auslöser dafür, eine Überlegung los zu werden, die mir schon lange im Kopf herumspukt: Legenden - Verschwörungstheorien, Propagandalügen, Marketing-Stunts, Geschichtsklitterungen - aber auch harmlose "moderne Mythen" und Alltagssagen - funktionieren dann am Besten, wenn sie auf Halbwahrheiten beruhen.

Karan benutzt zum Schreiben ihrer Songs ein Moleskine-Notizbuch mit Notenlinien. Und obwohl ich annehme, dass sie es ausschließlich aus praktischen Gründen verwendet, passt das ins Klischee "kreative Typen benutzen Moleskines".
(Ich benutze übrigens kein Moleskine oder vergleichbares Notizbuch. Ich kann mich darin nicht so austoben wie auf meinen geliebten Spiralblocks - die ich in allen möglichen Formaten, vom DIN A7 "Einkaufzettelformat" bis zum DIN A4 "Collegeblock" (mit Lochung) verwende. Das ist weniger eine Frage des Formats, als eine der Kosten - hemmungsloser Schreibdurchfall und Anfälle von kreativem Kritzelwahn würden auf einem Moleskine, das "echt" an die 11 Euro und als Imitat immer noch um die 5 - 6 Euro kostet, ein für mich zu teurer Spaß werden, zumal ich das meiste, was ich so zu Papier bringe, früher oder später dem Altpapier anvertraue. Aber ich gebe zu: für einen weniger wahnsinnigen und weniger streichwütigen Kreativen ist diese Art Notizbuch praktisch.)

Der Erfolg der Moleskines als Attribut des kreativen Menschen, als "legendäres" Markenprodukt ist Folge einer geschickten Manipulation. Ohne die Werbung mit einer guten, aber erfundenen (man kann auch sagen: erlogene) Geschichte wären die "Moleskines" schlichte, wenn auch praktische, Notizbücher geblieben. Wie diese Manipulation, das Stricken der Moleskin-Legende ablief, wurde in Das ungeschriebene Buch gut beschreiben.

Moleskine ist, glaubt man dem Hersteller (Modo & Modo) das legendäre Notizbuch von Hemingway, Picasso, Oscar Wilde und Sartre. Allerdings ist es sehr fraglich, ob diese legendären Kreativen tatsächlich jene ursprünglich in schweren Baumwollstoff ("Moleskin") gebundenen Notizbücher von jener legendären kleinen Manufaktur in Tours, von der Bruce Chatwin in seinem Buch "Traumpfade" ("The Songlines") berichtete, benutzten. Ziemlich sicher ist jedenfalls, dass vor Chatwin der Ausdruck "les carnets moleskines" für diese Sorte Notizbuch nicht gebräuchlich war. Vielleicht hat es auch den kleinen Pariser Schreibwarenladen und den verstorbenen Produzenten in Tours so, wie Chatwin ihn beschrieb, nie gegeben - künstlerische Freiheit eben, übertrieben, zugespitzt, und doch in gewisser Weise wahr, wenn auch in einem andere Sinne als das bei einem Lexikonartikel oder einer Reportage zurecht erwartet wird.
Was Modo & Modo aus der netten Chatwin-Geschichte machte, ist nichts als geschicktes Marketing, auch unter Einsatz handfester Falschbehauptungen, die in diesem Fall nicht mit "künstlerischer Freiheit" zu entschuldigen sind. Denn wie die deutlich preiswerteren Notizbücher vom Schreibwaren-Discounter werden die Moleskines von Modo & Modo in China hergestellt, und sind auch nicht in das namensgebende robuste Moleskin gebunden, sondern in ein Lederimitat auf PVC-Basis. Was man mit einem "echten" Moleskin kauft, ist also der Markenname und das damit verbundene Image.

Aber, und das ist der Punkt, die absichtlich gestrickte Legende hätte nie funktioniert, wenn sie nicht auf einigen Halbwahrheiten beruhen würde. Eine Halbwahrheit ist die Geschichte Chatwins, der ja tatsächlich Notizbücher der beschriebene Art verwendete und sie offensichtlich über alles schätzte. Eine andere Halbwahrheit ist es, dass Hemingway, Picasso, Oscar Wilde, Sartre usw. ja nachweislich Notizbücher mit festem Einband und abgerundeten Ecken verwendeten. Vielleicht mögen darunter auch welche mit Gummizug, mit dem das Buch geschlossen gehalten werden kann, der Tasche am Ende und einem Leseband gewesen sein, und eventuell waren einige dieser Notizbücher sogar in Moleskin gebunden. Hätte Modo & Modo etwa behauptet, alle diese Kreativen hätten z. B. einen bestimmten Kugelschreiber verwendet, der heute, nach dem Tod des ursprünglichen Herstellers, eben von Modo & Modo weiterproduziert worden wäre - die Marketing-Legende hätte nicht funktioniert. Zum Beispiel, weil allgemein bekannt ist, dass es zu Lebzeiten von Oscar Wilde noch keine Kugelschreiber gab. Und ohne Chatwins schwärmerische Beschreibung, an dem die ganze Legende hängt, wäre der Marketing-Stunt nicht denkbar gewesen.

Die beiden Hauptfaktoren, die zum "Gelingen" dieser Legende betrugen, sind das "Körnchen Wahrheit", durch die sie glaubwürdiger als eine freie Erfindung wurde - immerhin gibt es Fotos, auf denen z. B. Hemmingway mit Notizbuch zu sehen ist - und der Appell an ein weit verbreitetes Klischee - hier: das des kultivierten Kreativen mit besonderem Geschmack. (Wenn Hemmingway billige Spiralblocks benutzt hätte, hätte sich darauf keine Legende aufbauen lassen.)

Solche Legenden könne auch ohne bewusste Absicht konstruiert werden. Etwa die, dass der Weihnachtsmann von Coca-Cola erfunden worden wäre. Diese Behauptung wurde nicht zufällig in die Welt gesetzt, aber das Gerücht wäre, wie andere Coca-Cola-Gerüchte, verpufft, hätte es nicht das Klischee des schier allmächtigen Coca-Cola-Konzerns (der stellvertretend für den US-Kapitalismus steht) und einige nachprüfbare Tatsachen, die die Legende scheinbar stützen, z. B. die massiven Weihnachts-Werbekampagnen des Konzerns, gegeben. Aber ein noch besseres Beispiel ist die "paradiesische Südsee".

Ganz falsch die Vorstellung, man könne auf einer Insel im tropischen Pazifik ganz angenehm leben, ja nicht: warmes Klima, aber durch Seewind gemildert, viel Sonne, aber keine wüstenhafte Dürre und auch, anders als am Amazonas, kein täglicher Wolkenbruch. Wer genügsam ist, kommt dort auch mit sehr wenig Geld zurecht.
Es stimmt auch, dass die Polynesier im Allgemeinen freundliche Menschen sind. Aber selbstverständlich (oder offensichtlich nicht selbstverständlich, wenn man an bestimmte Autoren, darunter sogar Ethnologen wie Magaret Mead, denkt) gibt es auch auf Tahiti, Samoa oder Tonga Streit, Neid, Eifersucht, Verklemmtheit, Klatsch und Zwietracht. Gewalt, als gewaltsam ausgetragenen Streit und vor allem als häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder, ist z. B. auf Samoa statistisch gesehen häufiger als in Deutschland. Wenigstens das Klischee, dass die "Südseeinsulaner" in Eintracht und Harmonie mit der Natur leben, dürfte spätestens seit Rapa Nui nicht mehr ganz so weit verbreitet sein.

Auch vor der Kolonialzeit, der Missionierung durch "Weiße" und den "schlechten Einflüssen einer dekadenten Zivilisation" herrschten in Polynesien alles andere als paradiesische Zustände (womit die Gräuel der Kolonialisierung nicht beschönigt werden sollen). Auch im Pazifik gab es kaum Pazifisten. Wie beinahe überall auf der Erde gab es Kriege, um Macht und um das auf den Inseln stets knappe Land, es gab, wie in Stammesgesellschaften nicht unüblich, Blutrache, es gab Kindstötungen, es gab eine streng hierarchische Gesellschaft mit Adelsprivilegien, es gab sogar Sklaverei. Und auch der Kannibalismus der "Südseeinsulaner" ist keine Erfindung böswilliger Missionare oder rassistischer Kolonialherren. (Auch wenn ein Gutteil Rassismus in den meisten "Menschenfresser"-Geschichten steckt.)

Die romantische Vorstellung, dass die Südseeinseln ein irdisches Paradies seien, ist keine gezielt erfundene Propaganda- oder Marketing-Legende. Trotzdem ist sie ein Konstrukt, etwas "Gemachtes", sie entstand nicht "von allein".

Aller Wahrscheinlichkeit nach waren es die Seeleute des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die das Südsee-Paradies (ungeplant) erfanden.
Die Lebensbedingungen Bord der Schiffe waren, vor allem für die einfachen Matrosen, extrem hart, und je länger die Reise dauerte, desto härter wurden sie. Ständige Feuchtigkeit, drangvolle Enge, schlechte Verpflegung, Skorbut und Infektionskrankheiten, harte Arbeit, fauliges Trinkwasser, um nur einige der "Attraktionen" der damaligen Seefahrt zu benennen. Hinzu kam auf Marineschiffen eine eiserne Disziplin. Die nicht immer, aber oft, mit schlechter Behandlung und drastischen Strafen einher ging.

Die grünen Insel mit Palmenstränden und scheinbarem Überfluss an köstlichem Essen, mit freundlichen und neugierigen Menschen, auf denen scheinbar niemand schuften musste, müssen im Kontrast dazu tatsächlich paradiesisch gewirkt haben.
Dann neigten die heimgekehrten Seeleute dazu, ihre Erlebnisse auszuschmücken und zu übertrieben - selbst wenn sie kein "Seemannsgarn" spannen, was oft genug vorkam. Es ist eine allgemein menschliche Eigenschaft, Dinge, die anders sind als zuhause, hervorzuheben, und Dinge, die genau so sind, wie gewohnt, zu vernachlässigen.
Folglich spielten die hierarchische Klassengesellschaft Polynesiens, die brutalen Strafen bei Verstoß gegen Regeln und Tabus (ein polynesisches Wort), die Kriege und Kleinkriege usw. in den Erzählungen der Seeleute keine große Rolle. Das war fast wie zuhause und daher nicht der Erwähnung wert.

Berichtet wurde von dem, was anders war als zu Hause - den warmen Klima, den köstlichen, nie gesehenen Früchten, der üppigen Flora und Fauna, der spärlichen Kleidung der "Eingeborenen" und ihrer - jedenfalls nach den ziemlich puritanischen Maßstäben des Englands des 19. Jahrhunderts - freizügigen Sexualmoral.
Nachdem die Legende von der paradiesischen Südsee sich erst einmal festgesetzt hatte, verzerrte sie, zusammen mit eine Portion Wunschdenken, die Wahrnehmung etwa der Ethnologin Margret Mead. Das verzerrte und idealisierte Bild, das sie in "Kindheit und Jugend in Samoa" zeichnete, trug dann wiederum dazu bei, dass das Paradies-Klischee gefestigt wurde.
Es soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass es auch absichtliche Falschdarstellungen vom Leben in der Südsee gab - als beschönigende Kolonialpropaganda beispielsweise, oder, um mit dem Verweis auf die paradiesischen Zustände im tropischen Pazifik politische Utopien zu illustrieren. Später taten Tourismuswerbung und dem Geschmack und den Erwartungen des Publikums nach dem Munde redenden bzw. schreibende Schriftsteller das ihre zur Legende vom "irdischen Paradies" bei. Aber die Legende hätte sich nie so festsetzen können, wenn es nicht entsprechende Klischees und einen Anteil Wahrheit gegeben hätte.

Um den Bogen zum Moleskine-Notizbuch zu schließen: einer der Schriftsteller, dem der Gebrauch so eines Notizbuches nachgesagt wird, ist Jack London. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass unter den von ihm benutzten Notizbüchern eines aus französischer Produktion, oder gar aus jener legendären kleinen Manufaktur in Tours, war. Es waren ausgerechnet die Abenteuerromane Londons, die, als ich sie als Jugendlicher zum ersten Mal las, bei mir das Klischee vom Südseeparadies zurecht rückten.
Bodecea - 14. Mär, 09:02

... auch wenn's kein prominenter Schreiber vor mir ;-) je benutzt hat - ich mag die Moleskinbücher sehr, v.a. als Tagebuch/Notizbücher, da ich solche monate- bis jahrelang in diversen Taschen und Rucksäcken mit mir rumschleppe, bis sie voll sind - das macht kein anderes Notizbuch so gut mit. Und das Papier ist auch angenehm zu beschreiben.

Aber für richtiges Schreiben gebe ich dir recht, mit großzügiger Klaue ist so ein Ding nach ein paar Kurzgeschichten voll.

Bodecea

MMarheinecke - 14. Mär, 10:13

Ja, aber ich vermute mal, du würdest diese Moleskine-Notizbücher auch dann benutzen, wenn da nicht dieses künstliche Markenimage daran hängen würde. Und du würdest, vermute ich ebenfalls mal, wenn du in jeder Hinsicht, auch qualitativ, gleichwertige "No Name"-Notizbücher verwenden.

Einer der Punkte, die mich an der Moleskin-Legende so aufregen, ist, dass die Dinger für viele Käufer ein "Livestyle-Produkt" sind, dass sie sich mit dem Marken-Image dieser Notizbücher profilieren: "Seht her, ich bin ein schrecklich kreativer Mensch, und ich habe guten Geschmack und spare nicht an Kleinigkeiten".
Karan (Gast) - 14. Mär, 14:33

Huch! Ein Moleskine-Mythos!
Davon hatte ich tatsächlich null Ahnung; ich benutze die Dinger tatsächlich, weil sie die einzigen robusten und kleinformatigen Notenlinien-Notizbücher sind, die ich finden konnte.
Ich bin ein Klischee! Hurra! Nachdem ich sonst gerne komplett am Mainstream vorbeisegle, ist das einigermaßen beruhigend... ;-)

Karan (Gast) - 14. Mär, 14:39

Der von Dir recherchierte Hintergrund ist übrigens wahnsinnig interessant und macht mir die Marke nicht gerade sympathischer... demzufolge kann ich nur hoffen, daß andere Hersteller bald mal ein ähnliches Produkt auf den Markt schmeißen (bei den normalen Notizbüchern ist das ja schon passiert, aber die nutzen mir halt nix).

MMarheinecke - 15. Mär, 09:45

Danke, aber Recherche ist übertrieben ...

... das Meiste über Moleskine habe ich aus den "Brand Eins"-Artikel, Recherche wäre, wenn ich's gründlich gegengechekt hätte. Denn auch der Artikel könnte manipulativ sein.
karen (Gast) - 14. Mär, 22:35

Dazu meine eigene kleine Moleskin Geschichte:
Ich schreibe viel, auch beruflich. Meine Notizen und Skizzen sind immer handschriftlich und ich benutze dafür billige Collegeblocks (karo). Diese sind oft schwer ramponiert und nicht öffentlichkeitstauglich, macht mir aber nichts aus.
Vor ein zwei Jahren hatte sich ein guter Freund ein Herz gefasst und mir ein echtes Moleskin gekauft. Ich war begeistert. Allerdings: Das Papier sah mich so anspruchsvoll an, ich konnte mich nicht durchringen, meine spontanen Einfälle dort mit billigen Kulis niederzukritzeln. Also kaufte ich mir einen teuren Stift. Trug es wochen- und monatelang in meiner Tasche spazieren, immer begleitet vom zerfledderten Collegeblock. Wartend auf die Eingebung, die den besonderen Rahmen (Moleskin+Markenstift) verdient. Letztere kam nie. Das Moleskin ist immer noch leer und ziert jetzt meine Schreibtisch. Hübsch ist es ja schon :)

missRabbitheart (Gast) - 15. Jun, 16:45

ja, genauso gehts mir auch ;) ich lebe von bekrizelten, zerfledderten collegeblocks und als ich mir dann irgendwann aus eben den gründen ein moleskin büchlein (es war auchnoch im angebot xD) gekauft hab wusste ich nicht so recht anzufangen. man traut sich iwi nicht dadrinnen herumzukrizeln, geschweige denn zu zeichnen! also wieder zurück zum heißgeliebten collegeblock. und die moleskins? sie geben wunderbare tagebücher ab, finde ich, weil sie unspürbar unterm kopfkissen zu verbergen sind
;)
notizbücher - 18. Mai, 11:00

Ein wirklich interessanter Artikel und vor allem sehr Informativ!
Ich selber nutze Moleskine Notizbücher zur täglichen Arbeit, weil ich mich im Laufe der Jahre einfach daran gewöhnt habe.
Schön endlich mal etwas mehr über den Ursprung meines Arbeitsmittels zu erfahren.

Danke

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