"Menschenmaterial" - und ein untaugliches Mittel zum Schutz der Menschenwürde

Es ist das "Unwort des 20. Jahrhunderts", Karl Marx verwendete den Begriff kritisch, die oberste Heeresleitung im 1. Weltkrieg machte ihn "populär", Adolf Hitler benutzte den Ausdruck in zynischer Weise:
Menschenmaterial.
Der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
entstand als Reaktion auf die Unmenschlichkeit Nazideutschlands. "Die Würde des Menschen ist unantastbar" bedeutet auch: "Die Würde des Menschen ist verletzlich." Sie wird unweigerlich verletzt, wenn ein Mensch wie eine Sache behandelt wird. Sogar dann, wenn die Motive gut und ehrenwert sind. Erst recht, wenn diese Missachtung aus "niedrigen Beweggründen" - Gewinnsucht, Machtstreben, Rassenhass - erfolgt. Ich bin geneigt, auch: "Nationales Interesse!", "Gemeinnutz geht vor Eigennutz!", "Wir können doch nicht jeden Einzelfall gerecht behandeln!" als "niedrige Beweggründe" zu sehen.
Eine traurige Tatsache ist, dass in der real existierenden Bundesrepublik Deutschlands des frühen 21. Jahrhunderts die
Würde des Menschen unter Finanzierungsvorbehalt steht, wie Ellen Diederich 2007 schrieb (und es ist nicht besser geworden seitdem).
Dass auch die gängige "Selbstoptimierung" auf beruflichen Erfolg hin eine "freiwillige" Missachtung der eigenen Würde sein kann, sei nur am Rande erwähnt. Sie ist eine Missachtung der Menschenwürde, wenn Menschen gezwungen werden, sich selbst zu optimieren - ich rede hier wohl gemerkt nicht von Fortbildungskursen oder so etwas.

Zurück zu dem Grund, weshalb der erste Artikel unserer Verfassung die Würde des Menschen zum Inhalt hat. Die Verbrechen der Nazis, ihrer Helfer, ihrer Helfershelfer und ihre Profiteure.
Nun ist das Dokument Geheime Reichssache Nr. II D 3 a (9) Nr. 214/42, unterschrieben von SS-Obersturmbannführer Walter Rauff, keine Neuentdeckung. Bereits vor 10 Jahren hatte dieses Dokument dem belgischen Psychoanalytiker Francois Emmanuel ein großes Erschrecken bereitet, wenn auch ein ganz anderes (weniger leidvolles) Erschrecken. Emmanuel zitiert in seinem kaum 100 Seiten langen Roman Der Wert des Menschen (das französische Original trägt den Titel Die Menschenfrage und spielt damit auf die Nazi-Rede von der ‘Judenfrage’ an) auf den Seiten 58 bis 63 das Dokument in voller Länge.

Emmanuels Erschrecken bezieht sich auf die verdinglichte Sprache der nihilistischen NS-Technokratie. Nüchtern betrachtet, bestimmte der Nazi-Staat den “Wert des Menschen” so, als ob der Mensch lediglich ein Rohstoff im industriellen Prozess sei. Die Idee vom “Menschen als Rohstoff “ ist uns heute nun aber keineswegs fremd, sondern begleitet uns auf Schritt und Tritt, etwa im Jargon “moderner Menschenführung” und “neuer Unternehmenskultur” (der Romanheld Emmanuels ist Betriebspsychologe), in den Diskussionen um “humanes Sterben” oder bei den öffentlichen Erläuterungen, wie viel ein gefallener Soldat (2,3 Millionen Euro) oder ein Unfalltoter (1,2 Millionen Euro) nun ‘wert’ seien.

Emmanuels kurzer Roman, der lange 144 Minuten lang verfilmt wurde, bringt die Methoden des nationalsozialistischen Massenmords mit neuesten Vorschriften effizienter Betriebs- und Lebensführung in Verbindung. Für Emmanuel gehorchte der Nationalsozialismus nicht etwa finsteren Mächten, sondern den Gesetzen der Effizienz. Und eben darum hält Emmanuel es für nicht ausgeschlossen, dass die für den Kapitalismus zugerichteten Menschen heute, ungewollt die Züchtungsfantasien des Nationalsozialismus mit anderen Mitteln fortsetzen.
aus Die Menschenfrage im Blog von Jörg Marx.

Es ist offensichtlich so, dass erst die Verdinglichung des Menschen, die Reduktion des Menschen aufs "Menschenmaterial", den industriell betriebenen Massenmord möglich machte. Die Ziele der Nazis waren irrational, ihre Mittel höchst rational im Sinne der instrumentellen Vernunft. Ich muss Emmanuel leider recht geben: im Großen und Ganzen lief die "Eugenik" der Nazis ja auch eher auf die "Züchtung" von gesundem und belastbarem "Menschenmaterial" und die "Ausmerzung" der "Minderwertigen" hinaus, als auf die wage bleibende Idee eines "Übermenschen". Das ist von den Zielen moderner Zurichter und Selbstoptimierer gar nicht so weit entfernt. Und auch der "Sozialdarwinismus" ist ja wirklich nicht ausgestorben, sondern feiert, notdürftig getarnt, ein "Revival".

Einen scheinbar wirksamen Weg, zwar nicht gegen die Verdinglichung des Menschen, aber doch zur Eindämmung ihren schlimmsten Folgen, geht die katholische Kirche. (Ich meine damit im folgenden konkret die römisch-katholische Kirche.)
Ihr moralischer Grundsatz ist, dass jeder Mensch von Gott gewollt ist. Kein Mensch hat das Recht, einen Menschen der von Gott geschenkten Gabe des Lebens zu berauben. Das gilt von Moment der Zeugung bis zum Moment des natürlichen Todes. Abtreibung, Sterbehilfe, Selbsttötung sind moraltheologisch gesehen Mord.

Der Historiker und Journalist Götz Aly behauptet, dass die konsequente und harte katholische Ethik sich trotz der "beschämenden Kompromisse", die die katholische Kirche im "Dritten Reich" gemacht hat, bewährt hat.

Aly beschäftigte sich in seinem Buch "Macht, Geist, Wahn - Kontinuitäten deutschen Denkens" (Argon, Berlin, 1997) unter Anderem mit der Frage, wieso es im "Osten", pro 10000 Einwohner gerechnet, weit mehr als doppelt so viele rassistische Gewalttaten gibt wie in den Länder der "alten BRD". Es gibt außerdem im Osten wie im Westen ein signifikantes Nord-Süd-Gefälle: In Schleswig Holstein gibt es - bezogen auf 10000 Einwohner - mehr als vier mal so viele rassistische Übergriffe wie in Bayern, in Mecklenburg-Vorpommern gibt es mehr als drei Mal so viele wie in Thüringen.
Diese statistischen Angaben sind nachprüfbar zutreffend. Interessant ist Alys Deutung: Mit Ausnahme der Staatstaaten, die er als "kosmopolitisch-amerikanisiert" bezeichnet, würden Arbeitsemigranten, Flüchtlingsfamilien und Asylsuchende mit Abstand am wenigsten gefährdet dort leben, wo der Konservatismus traditionell stark wäre - in Bayern.
Im historischen Rückblick entspräche die Verteilung rassistischer Gewalttaten im wesentlichen der Erfolgskurve der NSDAP in den Wahlen 1928 und 1932.
Die deutliche statistische Kongruenz von NSDAP-Wahlerfolgen und der gegenwärtigen Verteilung rassistischer Gewalt verwiese laut Aly nicht auf eine spezifische Kontinuität zwischen Alt- und Neonazis, sondern auf die tiefere Gemengelage der deutschen Gesellschaft. Was Bayern vom Norden und Osten wesentlich unterscheiden würde, wäre der Katholizismus. Nicht im Sinne fleißigen Kirchgängertums, sondern im Sinne der damit zwingend verbundenen Differenz zwischen Staat und Gesellschaft. Etwas verkürzt: für einen "Preußen" sind Staat und Gesellschaft quasi dasselbe. Da die protestantische Kirche freiwillig darauf verzichtete, Einfluss auf die weltliche Macht zu nehmen, lieferte sie die Gesellschaft dem preußischen Autoritarismus aus.
Wer aber Gesellschaft als beglückende Staatsveranstaltung von oben versteht, der nimmt der bürgerlichen Freiheit und Verantwortung den Atem. Wo das Volkswohl triumphiert, haben die Fremden ihr Recht verloren.
Alys Darstellung wirft zwei Fragen auf:
Ist der Katholizismus eine wirksame Gegenkraft gegen die Naziideologie und Rassismus?
und
Sichert die strikte katholische Moral die Menschenwürde?

Die erste Frage ist nicht so leicht zu beantworten, wie es die von Aly angeführten Statistiken nahe legen. Unter den beherzten katholischen Geistlichen, die sich gegen die "Euthanasie"-Morde wehrten, hatten viele nichts dagegen, die Waffen für den "Kreuzzug gegen den gottlosen Bolschewismus" zu segnen.
Es gibt Hinweise darauf, dass die "Staatsgläubigkeit" der Bürger in den ehemals preußischen Teilen Deutschlands ausgeprägter ist als in Bayern und Baden-Würtemberg - zum Beispiel wird im Süden bei Nachbarschaftsstreiterei nicht so schnell die Polizei gerufen wie im Norden, was eine Spätfolge des preußischen Modell einer Einheit zwischen "Gesellschaft" und "Staat" sein könnte. Ob die Konfession dabei der entscheidende Faktor ist, ist meiner Ansicht nach fraglich, denn auch in protestantischen Gegenden Südwestdeutschlands ist das Misstrauen gegenüber der "Obrigkeit" ausgeprägt. Dass die Stadtstaaten heute einen relativ geringen Anteil an rassistischen Gewalttaten haben und für die historischen Nazis kein einfaches Pflaster waren, hat meiner Ansicht nach etwas mit der Soziologie von Metropolen zu tun, aber wenig mit einer "Amerikanisierung", von einer kosmopolitischen Einstellung gar nicht zu reden.
Jedenfalls ist es eine historische Tatsache, dass Faschismus (in jeglicher Form) und Katholizismus gut miteinander auskamen. Die katholische Ethik war zwar stark genug, um eine wirksame Opposition gegen Morde an Behinderten zu bilden, versagte aber bei den Morden an Juden ziemlich jämmerlich.
Ob der Katholizismus eine Gegenkraft gegen Rassismus ist, kann ich nicht Beantworten.

Dass die strikte katholische Moral die Menschenwürde sichert, wage ich zu bezweifeln.
Ich bin ganz entschieden der Ansicht, dass eine auf Werten aufgebaute Ethik die Menschenwürde schützt - was allerdings entschieden von den Werten, die diese Ethik ausmachen, abhängt.
Die entscheidende Stärke der katholische moralischen Normen ist der Lebensschutz: Leben ist ein Wert an sich, und Leid und Passion sind Bestandteile des Lebens. Eine Lebensauffassung, die vor einen reinen Utilitarismus schützt, denn das utilitaristische Prinzip, dass alles, was das Glück in der Welt maximiert, rechtes Handeln sei, verführt meiner Ansicht nach allzu leicht dazu, ein leidvolles Leben als wertlos anzusehen. Der für die Menschenwürde gefährliche Ansatz: "Das Wohl der Vielen wiegt mehr als das Wohl der Wenigen; oder des Einzelnen" ist für einen Utilitaritaristen eine stete Verführung, für einen überzeugten Katholiken hingegen indiskutabel. Das Problem beim Katholizismus sehe ich darin, dass er dazu neigt, das Leid moralisch zu überhöhen und Leiden als Tugend darzustellen.
Die große Stärke - und zugleich das größte Problem - der katholischen Ethik ist ihre Konsequenz. Der Schutz des Lebens beispielsweise gilt ungeteilt, für Behinderte und chronisch Kranke, was sie vor "wirtschaftlich nützlichem Frühableben", also absichtlicher Vernachlässigung oder verdecktem Mord schützt, aber eben auch für ungeborenes menschliches Leben. Dem Problem, wo in einer "Grauzone" die Grenze des moralisch Zulässigen ist, begegnet diese Ethik damit, dass sie keine "Grauzone" zulässt: alles, was nicht "weiß" ist, ist nicht etwa "grau" sondern "nichtweiß". Also: auch eine befruchtet Eizelle genießt die volle Menschenwürde. Keine Kompromisse. Auch wenn aus den meisten befruchteten Eizellen nie ein Embryo, geschweige denn ein lebensfähiger Mensch, wird.
Ein Problem für die Menschenwürde ergibt sich daraus, dass das menschliche Recht zur Selbstbestimmung da endet, wo es göttliche Gebote gibt. Gebote, deren Interpretationshoheit bei der katholischen Kirche liegen. So gehört zu den unveräußerlichen Rechten des Menschen nach katholischer Auffassung die Fähigkeit, sich fortzupflanzen, die ihm auch niemand streitig machen darf. Was der Einzelne mit dieser Fähigkeit tut, verantwortet er allein vor Gott - niemand darf sich einmischen. Auch freiwillige Sterilisierung ist gegen den Plan Gottes (der offensichtlich irgendwo im Vatikan aushängen muss), ob und in welchen Formen die Empfängnisverhütung zulässig sei, ist eine der "Dauerbaustellen" der katholischen Morallehre. Andererseits gibt kein Recht auf Sexualität, geschweige denn sexuelle Erfüllung - genauer gesagt: bis auf den "ehelichen Beischlaf" ist jeder Sex Sünde. Das katholische Ideal ist also ein Mensch, der seine Sexualität jederzeit unter Kontrolle hat und sie allenfalls zu Fortpflanzungszwecken in der Ehe gebraucht. (Sexuelles Verlangen ist nach dem Kirchenvater Augustinus Teil unserer Bestrafung für Adams Sünde.)

Die ethischen Konsequenzen aus der konsequenten katholischen Ethik sind jedenfalls manchmal erschreckend: Wenn Hubert Hüppe (CDU), der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, fordert:
Die Präimplantationsdiagnostik muss jetzt ausdrücklich verboten werden.
dann handelt er in voller Übereinstimmung mit der katholischen Ethik.
Obwohl ich einer utilitaristischen Ethik gegenüber skeptisch bin: Es ist meiner Ansicht nach legitim, wenn Eltern, die genetisch vorbelastet sind, gesunde Kinder haben wollen. Ob sie sich für ein eventuell behindertes Kind entscheiden, mit allen Konsequenzen, die sich aus einer solchen Entscheidung ergeben, ist nach meiner Auffassung allein Sache der Eltern. Da hat sich auch niemand einzumischen, keine Krankenversicherung, keine Politiker und schon gar keine medizinischen Berater mit eugenischen Ambitionen. Und auch keine Kirche, die sich anmaßt, "Gottes Willen" zu kennen, und diesen über die Selbstbestimmung des Menschen stellt.
Das Selbstbestimmungsrecht des Menschen steht der Instrumentalisierung der Menschen, ihrer Zurichtung nach den Maßstäben wirtschaftlicher oder politischer "Nützlichkeit" entgegen. Deshalb ist es für die Würde des Menschen unverzichtbar!

Als Nichtchrist und Humanist fällt es mir außerdem schwer, eine ausdrücklich christliche Begründung der Menschenwürde, nämlich die "Gottesebenbildlichkeit des Menschen", zu akzeptieren.
Wobei die Vorstellung, die Würde des Menschen sei quasi eine christliche Errungenschaft und nur in einer christlichen Gesellschaft gewährleistet, aus meiner Sicht unangenehm weit verbreitet ist.
Für eine säkulare und pluralistische Gesellschaft taugt sie jedenfalls nicht.
Karsten (Gast) - 16. Aug, 08:37

Danke, Martin, ein sehr schöner, nachdenklicher Artikel mit Quellen und Gedanken, die mir neu waren.
Nur ein kleiner Hinweis: Bei den Wahlen 1982 traten die Nazis glücklicherweise nicht an. Du meinst sicher 1928.

MMarheinecke - 16. Aug, 14:35

Danke, der Zahlendreher ist korrigiert.
MMarheinecke - 17. Aug, 21:28

Sterbehilfe - und die "fromme" Fremdbestimmtheit des Menschen

Aus Zeit-online: Das aufgezwungene Leben.
Gesprochen wird dafür die alte dogmatische Sprache der Heteronomie, einer Fremdbestimmtheit, die das Leben unter allen, auch den grausamsten Umständen als – paradox verpflichtendes – »Geschenk« verstehen will und den Suizid demgemäß als unzulässigen, schuldhaften Widerspruch zum gottgegebenen Leben verwirft. Die Beihilfe zur Selbsttötung muss dieser Logik zufolge die Beihilfe zur Geschenkverweigerung, zur – offenbar inhumanen – »Absage an das Menschsein« sein.

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