Gedankenfutter

Montag, 15. Februar 2010

Die Schule der Nichtdenker (2) "Es hat uns auch nicht geschadet"

Ergänzung zu Die Schule der Nichtdenker.

Es ist bedrückend einfach, junge Menschen durch Erziehung zu verdummen. Eine besonders "wirksame" Methode, unkreative, engstirnige "Nichtdenker" heranzuzüchten, ist es offensichtlich, die gesamte Erziehung und Bildung auf schnellen Erfolg, optimale Zurichtung auf die berufliche Karriere und Anpassung an die bestehenden Verhältnisse auszurichten.

Das Problem liegt bei einem (selten eingestandenen, aber wirksamen) und bei "Entscheidern" und "Multiplikatorn" weit verbreiteten Leitbild für das, was Vorschule, Schule, Hochschule Aus- und Weiterbildung - aber auch "verantwortungsvolle Eltern" leisten sollen: den für die Erfordernisse des Berufslebens (des "Arbeitsmarktes", der "Wirtschaft") zurichteten Menschen: mit den "richtigen" Fähigkeiten und dem "richtigen" Grundwissen ausgestattet und mit der "richtigen" Einstellung zu Beruf und zum Leben, d. H. bereit, seine persönlichen Interessen den beruflichen Erfordernissen jederzeit unterzuordnen.

Besonders bedrückend ist, dass im Zuge dieser "Bildungsoptimierung" längst überwunden geglaubte Erziehungsmodelle ein "Revival" erleben - so etwa der modernisierte "autoritäre Paternalismus", wie ihn der ehemalige Leiter des "Eliteinternats" Salem Bernhard Bueb propagiert. Wenn Bueb etwa (in einem Interview, das er dem "Spiegel" gab.) vorschlägt, dass Kinder ab dem dritten Lebensmonat (!) tagsüber im Rahmen einer verpflichtenden (!)Gemeinschaftserziehung ihren "überbetreuenden Müttern" entzogen werden sollten, weil die es viel zu gut meinenden Mütter die Kinder "zu lauter Egoisten erziehen" würden, dann ist das "schwarze Pädagogik", egal, ob Bueb und seine vielen Fans das wahr haben wollen oder nicht. Daraus spricht das alte Vorurteil, dass, wer Kinder gegenüber nachgäbe, schon verloren hätte - und der Wille der Kinder müsse gebrochen werden. (Es ist kein polemischer "Nazivergleich", wenn ich bei solchen Vorschlägen an Johanna Haarer denken muss, eine stark von der NS-Ideologie geprägte Autorin von Erziehungsratgebern.)
Ergänzung: - Thomas Assheuer auf "Zeit.de" über Buebs Buch "Von der Pflicht zu führen" Herrschaft und Heil.

"Schwarze Pädagogik" ist eine ziemlich sichere Methode, Menschen zu "Gefühlskrüppeln" zu machen - mit Folgeschäde auch für die nächste und übernächste Generation: Tradierte schwarze (und braune) Pädagogik.

Besonders intelligenztötend wirkt Zurichtungs-Pägagogik, wenn sie mit körperlicher Gewalt kombiniert ist.
Wer kennt nicht den alten Spruch: "Was ist schon eine Ohrfeige? - Es hat uns doch auch nicht geschadet"? Tatsächlich hat das geschadet - das Geschlagenwerden führt statistisch signifikant zu einer messbar geringeren Intelligenz: Prügelstrafe macht Kinder dumm (pharmacon.net).

Samstag, 13. Februar 2010

Die Schule der Nichtdenker

Wer Talente hat, sollte sie entwickeln und der Welt zeigen

Ansonsten kommt es zu immer stärkeren Frustrationen, schwachem Selbstwertgefühl, depressiven Zuständen, Profilneurose und anderen neurotischen Störungen.
Nicht alles, was Jürgen vom Scheidt auf seiner persönlichen Website schreibt, würde ich unterschreiben. Dieses Zitat jedoch schon.

Vom Scheidts Gedankengänge zur "Hochbegabung" drängten sich mir regelrecht auf, als ich diesen Beitrag auf Klaus Jarchows Stilstand fand: Die Ölprinzen.
Die "Ölprinzen", das sind die "angepassten Gelfrisuren, denen wir zunehmend auf allen Management-Etagen begegnen". Jarchow zufolge ist es hirnphysiologisch erklärbar, weshalb so viele junge Menschen trotz formal hoher Qualifikation, guter Examensnoten und viel abfragbarem Wissen dumm und unflexibel bleiben. (Und, das muss ich an dieser Stelle ergänzen, bei gutem Abschneiden in "Intelligenztests". Ich erwähne das, weil Jarchow offensichtlich von einem breiteren Intelligenzbegriff ausgeht, als jener der Intelligenztests wie dem viel verwendeten "Hamburg Wechsler Intelligenztest für Erwachsene" (HAWIE), zugrunde liegt, in denen z. B. die Fähigkeit, kreativ auf unerwarteten Umstände reagieren zu können, nur im geringe Maße abgefragt werden können.)
Jarchow zufolge ist diese Dummheit, dieses Denken, das buchstäblich keine Alternativen kennt, Folge der "Bildung" (besser vielleicht: Ausbildung und Zurichtung) in ihrer heutigen Form. Es klingt paradox, Bildung kann blöd machen, "je besser und schneller ein Examen abgelegt wurde, desto mehr".
Ein Bildungsmodell, das vom Kindergarten an aufwärts auf schnellen Erfolg und Anpassung an das Bestehende gerichtet ist, und in dem Divergierendes als "Überflüssiger Ballast" ausgemerzt ist, hat Folgen für die Denkfähigkeit. Irgendwann ist das "Erfolgsmuster" des eingleisigen Denkens so verinnerlicht, dass der junge Mensch sich "freiwillig" selbst optimiert, z. B. machen sich Studenten selbst zum passgenauen Firmenfutter - in den meisten Fällen, weil sie glauben, keine Alternative zu haben, wenn sie erfolgreich sein wollen (und auch die Alternative, auf Erfolg zu verzichten, ist für sie buchstäblich un-denkbar). "Ultra-pragmatisch perfektionieren sie ihre Lebensläufe, straff, stur, strategisch" Studenten im Optimierungswahn - Karriere, Karriere, Knick (SpOn)

Unser Bildungssystem bringt also massenhaft "Nichtdenker" hervor - was durch einige "Bildungsreformen" nach Kräften gefördert wird. Nichtdenker als "Untertanen" und vor allem als "Funktionselite" sind bequem. Nichtdenker als politische Entscheider sind gefährlich.

"Talente" sind bei der Sorte Bildung, wie sie den "Ölprinzen" und "-Prinzessinnen" vermittelt wurde, nur dann gefragt, wenn sie sich für die berufliche Karriere, die einzige "realistische" und "alternativlose" Form der "Selbstverwicklichung" instrumentalisieren lassen. Wobei die vom Scheidt dargelegten Probleme, die sich aus dem Nicht-Nutzen von Talenten ergeben, womöglich "gesellschaftlich erwünscht" sind: wer ein schwaches Selbstwertgefühl und eine kräftige Profilneurose hat, der "muckt nicht auf", der "funktioniert".
Noch drängender ist das Problem der nicht entwickelten Begabungen am anderen Ende der sozialen Skala, bei der "Unterschicht". Vielleicht deutet die Beliebtheit der "Talent"- und "Casting"-Shows auf ein starkes Bedürfnis hin, endlich zeigen zu dürfen, was man kann.
Jedenfalls empfinde ich es als bedrückend, dass anscheinend viele "Hochbegabte" ihre Begabung vor allen dazu nutzen, sich anzupassen, "freiwillig" ihre Denkmöglichkeiten einzuschränken, sich "selbst zu optimieren" - und, vor allem bei "Unterschichtlern", sich bemühen, nicht als "hochbegabt" aufzufallen.

Ein Gegenrezept mag das mentale Probehandeln in fiktionalen Räumen sein, wie Jarchow vorschlägt. Damit ist Lesen - auch und gerade das Lesen "schwieriger" und "fremder" Texte - ein wirkmächtiges Instrument der "Intelligenzförderung". Spielen - im Sinne des gerade nicht zielgerichteten kindlichen Spiels - vermutlich auch auch. Die kräftigste Form der mentale Probehandlung ist meiner Ansicht nach aber das kreative Schreiben. (Das im Deutschunterricht praktisch nicht vorkommt - bezeichnenderweise.)

Freitag, 15. Januar 2010

Katharina Rutschky ("Schwarze Pädagogik") ist tot

Es entbehrt nicht einer gewissen bitteren Ironie (oder einer Synchronizität), dass am Donnerstag, einen Tag, nachdem ich meinen Artikel über "schwarze und braune Pädagogik" schrieb, Katharina Rutschky, die Frau, den den Begriff "Schwarze Pädagogik" prägte, nach langer Krankheit starb.

Guter Nachruf auf Katharina Rutschky auf BerlinOnline.
Ergänzung: Nachrufe in der digi-taz.


Katharina Rutschky schrieb zwei im besten Sinne aufklärerische Bücher, die vielleicht nicht mein Leben, aber sehr wohl die Art und Weise, wie ich mein Leben sehe, änderten.

Das erste ist natürlich Schwarze Pädagogik. Weil mir klar wurde, dass der "autoritäre Erziehungsstil" und Kinderdressur nicht etwa auf irgend einer dummen Tradition beruhte, sondern gemacht war - und zwar nicht "nur" von machtgeilen Menschenfeinden, sondern leider auch von es durchaus gut meinenden, "aufgeklärten" Männern(!). Ja, es war für mich auch eine Erkenntnis, dass Patriarchat und schwarze Pädagogik zusammen gehörten. Ungeachtet der Tatsache, dass es viele, zu viele weibliche Fans und Propagandistinnen der Erziehung mit Gewalt und Einschüchterung gibt, ist "schwarze Pädagogik" eindeutig frauenfeindlich. Zwei weitere Erkenntnisse, die ich aus diesem Buch zog: Die Katastrophen der jüngeren deutschen Geschichte hätte es ohne das in Deutschland besonders wirksame "Untertanenmachen" nicht geben können. Ohne die "Pioniere" der "schwarzen Pädagogik" wäre das "Untertanenmachen" nicht so leicht möglich gewesen. (Übrigens nicht nur in Deutschland: eine weitere "Hochburg" der "schwarzen Pädagogik" war das Großbritannien des 19. Jahrhunderts. Es fällt mir nicht schwer, diese üble Tradition in der aktuellen britischen Politik wirken zu sehen.)
Die zweite war die (nicht leichte) Erkenntnis, dass hinter dem "Handausrutschen" meiner Mutter, dem "Kasernenhof-Erziehungstil" meines Großvaters, den unsäglichen kinderfeindlichen "Ratschlägen" und "Praktiken" vieler professioneller Erzieher und Lehrer kein übler Zufall steckte, und auch keine persönliche Bosheit - sondern System. Nicht "böse Einzelfälle", sondern Strukturen. Womit die Einsicht verbunden war, wie sehr mein Denken und Fühlen "schwarzpädagoisch" gefärbt ist - obwohl ich (abgesehen von meinem Großvater und einem sadistischen Lehrer) ja nicht absichtlich im Sinne der schwarzen Pädagogik erzogen wurde. Woraus folgt: es reicht nicht aus, die "schwarze Pädogogik" abzulehnen (wie es ja meine Mutter tat). Notwendig ist aktives Gegensteuern. Ohne bessere Erziehungsalternativen und ohne eine offene, demokratische Gesellschaft als Umgebung kann die "schwarze Pädogogik" nicht überwunden werden.

Das zweite Buch ist Erregte Aufklärung – Kindesmissbrauch: Fakten und Fiktionen

Bevor ich auf dieses Buch stieß, gehörte ich zu jenen, denen zum Thema "Kindesmissbrauch" nichts Besseres als panische Angst angesichts "erschreckender Zahlen" und die Forderung nach unnachsichtiger Strafverfolgung einfiel. Nicht zuletzt dank dieser Streitschrift über den "Missbrauch mit dem Missbrauch" finde ich zwar sexuellen Kindesmissbrauch nach wie vor widerlich, entsetzlich und skandalös - aber hinterfrage seitdem den öffentlichen Umgang mit Inzest, Kindesmisshandlung, sexueller Ausbeutung von Kindern. Ohne diesen Denkanstoß würde ich, allgemein gesprochen, vielleicht "mediale Beißreflexe", und den Ruf nach immer härteren Strafen, und die Mechanismen der Panikmache einfach achselzuckend hinnehmen - wahrscheinlich mit dem Spruch "Ist zwar übel, aber der Zweck heiligt die Mittel". Ich verdanke es unter anderem Rutschky, dass mir klar ist, dass es die Mittel sind, die den Zweck verraten (neben Alice Miller, Michel Foucault und einigen echten Freunden).
Seltsamerweise war es dieses Buch, das Rutschky den Vorwurf des "Antifeminismus" eintrug. Seltsamerweise, denn sie kritisierte ja nicht "den Feminismus", sondern z. B. Feministinnen mit arg ideologisch verkürzter Wahrnehmung, die glatt mit ausgewiesenen Frauenfeinden (ultra-konservativen Christen, oft fundamentalistischer Bauart, fast immer mit Familienbild von vorgestern) Zweckbündnisse eingehen.

Gute Reise, Katharina - und danke!

Mittwoch, 13. Januar 2010

Tradierte schwarze (und braune) Pädagogik

Schwarze Pädagogik - also Gewalt und Einschüchterung als Erziehungsmethoden, Abrichten des Kindes auf gesellschaftlich definierte Funktionen als Erziehungsziel - gilt als mehr oder weniger als Relikt aus einer finsteren Vergangenheit.

Allerdings ist diese Vergangenheit, selbst wenn hier und heute die "Schwarze Pädägogik" überwunden sein sollte (was sie tatsächlich nicht ist), weiterhin präsent, einfach dadurch, dass sehr viele Menschen in ihrer Kindheit "schwarzer" oder wenigstens "grauer" Pädagogik ausgesetzt waren - und, auch wenn sie es nicht bewusst wollen, auch ihre Kinder wieder mit Gewalt und Einschüchterung erziehen. Eltern, die als Kind geschlagen wurden, schlagen ihre Kinder. Das kann ich für mich selbst mit Sicherheit sagen: meine Mutter wurde als Kind sehr "autoritär" und sehr brutal erzogen - buchstäblich mit dem Lederriemen. Sie fand das schlimm, und versuchte, ihre Kinder anders zu erziehen. Aber obwohl sie es eigentlich nicht wollte, erzog sie mich und meiner Bruder mit einer Brutalität, die auch damals, als es noch hieß, ein "Klapps" hätte noch niemandem geschadet, schon das "übliche Maß" weit überschritten - einfach, weil sie es nicht anders kannte, und in Stresssituationen (und Kindererziehung ist Stress!) hilflos auf die gewaltsamen und einschüchternden Methoden zurückgriff, die sie verinnerlicht hatte. Natürlich hat sie uns, anders als ihr Vater es ihr antat, nicht systematisch gequält, aber ihr "rutschte" auffällig oft "die Hand aus" . (Nebenbei habe ich auch den Kasernenhof-Schleifer-Erziehungsstil meines Großvaters kennenlernen "dürfen" - so viel er sich auch darum bemühte, ein "lieber Opi" zu sein. Allerdings war ich auch ein Junge, was in seiner Macho-Weltsicht enorm wichtig war: Jungen mussten zwar "hart" und diszipliniert sein, aber durften sich ruhig mal dreckig machen und man durfte sie auch mal verwöhnen, solange sie brav waren. Prügeleien unter Jungs wurden von "Opi", der sonst der Inbegriff der Intoleranz war, bei mir und meinem Bruder nicht nur geduldet, sondern wir wurden ausdrücklich dazu ermutigt - einschließlich unfairer Mittel. ("... und dann nimmst du dir einen großen Knüppel ..." - solche "Ratschläge" bekam wir regelmäßig, wenn kein anderer, vor allem nicht mein Vater, der seinen Schwiegervater schon mal einen "autoritären Sack" und "alten Nazi" nannte, zuhörte. Hätten ich oder mein Bruder als "Halbstarke" (so nannte er gewaltgeneigte Teenager) zur Baseballkeule gegriffen und "Kanaker" "geklatscht", Opi hätte wahrscheinlich "viel Verständnis" für unsere Untaten gehabt.) Mädchen hatten hingegen zu kuschen und keine Ansprüche zu stellen - und dürften sich auch nicht wehren, selbst wenn sie sich wirklich verteidigten. Er behandelte noch seine Enkel und Enkelinnen sehr unterschiedlich. Wie schlimm das bei seinen Kindern gewesen sein muss, wage ich mir kaum vorzustellen.)

Es gab und gibt aber auch eine andere Schiene, auf der "Schwarze Pädagogik" tradiert wurde - und zwar über Bücher zur Kindererziehung. Oft in bester Absicht, und oft durch Experten, denen man es nicht zutrauen würde. Der Kinderarzt Dr. Benjamin Spock war Humanist und Pazifist, liberal und tolerant, und strebte als einer der ersten danach, Erkenntnisse der Psychoanalyse in die Kindererziehung einfließen zu lassen. Dennoch finden sich zumindest in den älteren Auflagen seines auch in Deutschland weit verbreiteten Bestsellers "The Common Sense Book of Baby and Child Care " (deutsch schlicht "Säuglings- und Kinderpflege") Ratschläge, die mich an eine Art Raubtierdressur erinnern. Dr. Spock vertrat z. B. die konventionelle Ansicht, dass Kinder auf keinen Fall in das Bett ihrer Eltern gehören. Schon ab drei Monaten müsse man die Kinder zum einsamen Schlafen in einen eigenen Raum erziehen - was nicht auf Gegenliebe der Kinder stößt. Um die konsequente Schlafplatztrennung auch bei schon lauffähigen Kindern zu erreichen, schlug der gute Doktor allen Ernstes vor, in hartnäckigen Fällen unter munteren Sprüchen ein Netz über das Kinderbett zu spannen, um den kleine Insassen am Entweichen zu hindern. In neueren Auflagen ist das nicht mehr zu finden, aber Ratschläge wie die Kinderzimmertür zuzubinden und vor allem, das Kind konsequent, kommentarlos und sofort jedesmal zurrückzubringen, wenn es im elterlichen Schlafzimmer ankäme, findet man auch in aktuelleren Ausgaben - und nicht nur bei Dr. Spock.
Dabei war Dr. Bejamin Spock alles andere als ein Vertreter der "Schwarzen Pädagogik" - er ermutigte Eltern, bei der Kindererziehung ihrem gesunden Menschenverstand zu vertrauen: Schreiende Kinder haben Hunger, weinende sollten hochgenommen und geherzt werden - was 1946, als die erste Auflage des Buches erschien, noch längst keine Selbstverständlichkeit war. Ich weiß z. B., dass eine Erziehungsberaterin meiner Mutter riet, meinen (damals) kleinen Bruder, wenn er schrie (er schrie oft und laut) ruhig schreien zu lassen, bis er aufgäbe, und gegebenfalls einfach das Kinderbett in die Küche zu schieben und die Tür zuzumachen. Schreien kräftige außerdem die Lungen. Was solche Ratschläge bei einer verunsicherten Mutter, die aus ihrer tiefen Verunsicherung heraus sowieso dazu neigte, zu brutalen Erziehungsmethoden zu greifen, bewirkten, bezeichnet sogar meine Mutter heute als Kindesmisshandlung.

Da mir die Probleme, die von Erziehungsratgebern - auch gut gemeinten - ausgehen können, also sehr bewusst sind, versetzte mich dieser Artikel, den ich auf "haGalil" fand, in blankes Entsetzen: Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr Kind. Es ist die Rezension des Buches Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind: Über zwei NS-Erziehungsbücher von der Sozialpädagogin und Supervisorin Sigried Chamberlain.
Sie untersucht in diesem Buch die Säuglingspflegebücher "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" - welches nach dem 2. Weltkrieg unter dem leicht geänderten Titel "Die Mutter und ihr erstes Kind" bis 1987 (!) wieder erschien - und "Unsere kleinen Kinder" von Dr. med. Johanna Haarer.
Johanna Haarer wurde in Nazi-Deutschland auf dem Gebiet der Säuglingspflege und Kleinkindererziehung zur maßgebenden Autorität. Ein guter Ruf, der nach 1945 beinahe ungebrochen nachwirkte.
Haarer vermittelte den jungen Müttern in ihren Erziehungsbüchern, Kinder seien u.a. gierig, faul, gefräßig, zerstörerisch, unsauber, sie wollen die Erwachsenen tyrannisieren, ihre Aufmerksamkeit erzwingen - anders gesagt: wer Kinder gegenüber nachgibt, hätte schon verloren, und der Wille der Kinder müsse gebrochen werden. "Schwarze Pädagogik" pur - allerdings sprachlich geschickt verpackt, scheinbar ganz um das Wohl der Mutter und das Gedeihen des Kindes besorgt. Dr. Spocks "Käfig"-Methoden wirken gegen solche Ratschläge tatsächlich human (es geht hier um 6. Monate alte Babys):
"Vermeiden wir auch in diesem Alter das lästige und mühsame Herumtragen und Herumschleppen des Kindes. Es ist in dieser Altersstufe (…) ebenso wie in den früheren aus verschiedenen Gründen unzweckmäßig. Das Kind gewöhnt sich an die ständige Nähe und Fürsorge eines Erwachsenen und gibt bald keine Ruhe mehr, wenn es nicht Gesellschaft hat und beachtet wird. Es sitzt zuviel auf dem Arm der Mutter und kriecht und krabbelt zu wenig."(5. 32).
Eine ähnliche Auffassung mag hinter dem Rat der "Erziehungsfachfrau" gestanden haben, die meiner Mutter riet: "Einfach schreien lassen, bis er aufgibt".
Alle relevanten Gebiete von Haarers Anweisungsbuch, von der Ernährung und Pflege des Babys über den körperlich und sprachlich getragenen Kontakt bis hin zur Sauberkeitserziehung, durchzöge das Bestreben, alles unnachgiebig zu bekämpfen, was nach Trotz und Eigenwillen aussehe.

Aber Dr. Haarer Erziehung geht über die leider damals weit verbreitete "schwarze Pädagogik" hinaus:
Es gab kein Spielen und "Bummeln" beim Baden, Wickeln, Füttern, kein "Trödeln" an der Brust. Das Kind wurde in einem ständigen Spannungszustand gehalten. Es fehlten ihm Muße und Experimentiermöglichkeiten. Das sich-beschäftigen mit dem Baby oder Kleinkind wurde als "Tändeln" abgewertet. Ein zwangloses sich-beschäftigen mit dem Baby ist jedoch für den Aufbau einer gesunden Beziehung notwendig.

Die Regeln, die Haarer für das Stillen und Füttern aufstellte, sind bestens dazu geeignet, die bereits durch die 24-stündige Trennung von Mutter und Baby vor der ersten Mahlzeit bestehenden Probleme zu vermehren: Es wurden strenge Zeiten für das Stillen bzw. die Flaschenfütterung vorgegeben. Eine Brustmahlzeit dürfe nicht länger als 20 Minuten dauern, eine Flaschenmahlzeit 10 Minuten. Ab einem halben Jahr wird jede Fütterung sofort abgebrochen, wenn das Kind Schwierigkeiten irgendeiner Art macht. Hunger sei der beste Koch.
Nach Haarer sei das Kind bei "Maulen" mit einem "augenblicklichen Klaps" zu bestrafen. Sie spricht von Befehl und Gehorsam.
Alles in allem: Ein Programm zum Heranzüchten eines autoritären, pedantischen, unsicheren und sich selbst verleugnenden Charakters. Mehr noch: schon in den 1920-er Jahren war bekannt, dass solche strengen Pflegeregeln einer harmonischen Mutter-Kind-Beziehung abträglich waren.
Für eine Ideologie wie die des NS, in dem "Schwächlinge" keine Daseinsberechtigung hatten, der einzelne "nichts" und das Volk "alles" sei, unbedingter Gehorsam bis in den Tod als "Ehre" und selbstständiges Denken als "Zersetzend" galten, war so ein Programm tatsächlich maßgeschneidert. Haarers Pädagogik ist sowohl "schwarze" wie "braune" Pädagogik. Chamberlain arbeitet in ihrem Buch heraus, wie sehr trotz mancher Überschneidungen die nationalsozialistische Erziehung von sonstiger autoritärer Erziehung verschieden war. Damit von jener gesprochen werden kann, muss
(...) noch ein Aspekt hinzukommen: Es ist der, dass eine nationalsozialistische Erziehung immer auch eine Erziehung durch Bindungslosigkeit zu Bindungsunfähigkeit ist. Dieses halte ich für entscheidend, und es ist bisher weitgehend unbeachtet geblieben (S. 11).
Die erste positive Gemeinschaftserfahrung, die erste Erfahrung von Anerkennung, machte ein streng nach Haarer erzogenes Kind nicht in der Familie, wahrscheinlich auch nicht (wenn vorhanden) im nach ihren oder ähnlichen Grundsätzen geführten Kindergarten, sondern bei der Hitlerjugend. Die dann - programmgemäß - für viele damalige Kinder zur Ersatzfamilie, der sie jederzeit loyal waren, wurde. Aber persönliche Bindungen, echte Freundschaften oder gar Einfühlungsvermögen in Andere und Verständnis für Fremde waren ausdrücklich unerwünscht. Die Liebe hat allein dem "Führerwillen" und der "Volksgemeinschaft" zu gelten.
Es ist auch kein Zufall, dass Dr. Haarers Bücher Bestseller wurden. Der Initiator der genannten Bücher war der deutschvölkische, später nationalsozialistische, Verleger Julius F. Lehmann, ein Propagandist eines sozialdarwinistischen Weltbildes, der "geeignete" Autoren in seinem Sinne förderte und sie für seine politischen Ziele einspannte. In der Tat lieferten er und Frau Dr. Haarer die frühpädägogische praktische Anleitung zu Adolf Hitlers Vorstellungen von Kinderzurichtung. Ein Beitrag zur "Erziehung zum Tod" - zur erotisch besetzten Lust am Töten und zum buchstäblichen Lebensziel, für das "Vaterland" ehrenhaft getötet zu werden.

Welche Schäden diese braune Pädagogik bei den damaligen Kindern und bei deren Kindern anrichteten - und indirekt noch immer anrichten - dürfte kaum zu ermessen sein.
Wieso die schwarz-braunen Kinderdressuranleitungen Haarers auch nach 1945 wieder aufgelegt wurden, ist leicht zu erraten. Einerseits liegt das an der oberflächlichen Auseinandersetzung mit der Naziideologie in der jungen Bundesrepublik - wo nicht gerade offen vom Führer geschwärmt und gegen Juden gehetzt wurde, das wurde gerne verharmlost. Ein anderer Grund liegt darin, dass "schwarze Pädagogik" noch weitgehend anerkannt war - und damit auch Haarers NS-Pädägogik als bloßer "konservativer Erziehungsstil" durchging. Ein dritter Grund mag gewesen sein, dass sogar manche der Ratschläge des als liberal und fortschrittlich bekannten Dr. Spock (und seine zahlreichen Nachahmer und Nachfolger) denen der Nazipädogogin und wahrscheinlichen Kinderhasserin Dr. med. Johanna Haarer oberflächlich gesehen ziemlich ähnelten. So, wie das pädagogische Prinzip "Grenzen setzen" dem "schwarzpädagogischen" Prinzip "Kinder mit ´nem Willen kriegen was hinter die Brillen" oberflächlich gesehen ähnelt.

Das Schlimmste an der viel geschmähten "antiautoritären Erziehung" der nicht nur von Konservativen gern gebashten "'68er" war, bei allen Fehler, die sie zweifellos hatte, der, dass sie so wenig Anhänger fand - und allzu schnell als "gescheitert" zugungsten von Auslese, Disziplin und einer "Schluss mit Lustig" - Leistungsideologie schon im Kindergartenalter verbannt wurde. Während Haarers Bücher weiterhin, bis 1987 aufgelegt, Gift in die Seelen kleiner Kinder träufelten.

Donnerstag, 10. Dezember 2009

War is over (if you want it)

Was eindeutig stimmt! Schöne Aktion von Yoko Ono : WAR IS OVER!
(Nach einem Tipp von Volkmar nicht im Original von John Lennon, sondern in einer IMO durchaus hörenswerten Version von Tarja Turunen:)

Dienstag, 17. November 2009

Die Tücken der Nulltoleranz

Es hat sich in der Kriminalitätsprävention praktisch bewährt, es ist nicht unproblematisch, es wird immer wieder falsch verstanden und noch häufiger politisch instrumentalisiert: das Prinzip der "Null Toleranz".

Der bizarrsten Blüten treibt das Prinio "Zero Tolerance" seit einiger Zeit im Vereinigten Königreich. Einem Mann, der eine Schrotflinte fand und persönlich zur Polizeiwachen brachten, drohen fünf Jahre Haft Ex-soldier faces jail handing in gun (surrey twoday) . (Via Uwe Vetters Lawblog).
Der Grund für das dem üblichen Gerechtigkeitsempfinden Hohn sprechendes Urteil des "Guildford Crown Court" liegt darin, dass der britische Gesetzgeber das Prinzip der "Zero Tolerance" - hier: dass jeder illegale Waffenbesitz bestraft wird, egal, aus welchen Gründen: "The intention of anybody possessing a firearm is irrelevant" - mit der beliebten Idee der "abschreckenden Strafe" kombiniert hat - Mindeststrafe für illegalen Waffenbesitz fünf Jahre. Es ist sehr zu hoffen, dass das Urteil vor höheren Instanzen kein Bestand hat.

Eine weitere britische Zero-Toleranz-Regelung ist nicht so leicht unter "schwerer handwerklicher Fehler bei der Gesetzgebung, geboren aus Aktionismus, Populismus und Hysterie" abzuhaken:
Scouts banned from carrying knives (times online) (Via Cynx.) Ich persönlich finde diese Regelung nicht gut, weil sie die jungen Pfadfinder im Grunde unter einen fast immer unberechtigten Generalverdacht stellt. Anderseits ist das Messertrageverbot aber moralisch legitim und wahrscheinlich aus praktischen Gründen geboten.
Ein Fahrtenmesser kann ein Werkzeug sein, aber am Gürtel als Teil der Kluft getragen, überwiegt doch m. E. der Waffencharakter. Das Messer-Verbot mag zwar eine übertrieben strenge Regelung sein - aber sie ist, anders im Fall des Waffenfinders, immerhin gerecht - denn es ist nicht einzusehen, mit welchem Recht Pfadfinder Messer im Gürtel tragen dürften, andere junge Menschen jedoch mit so einem Fahrtenmesser sofort als "Messerstecher" verdächtigt werden würden.

Es gibt ja auch sinnvolle Verbote, die durch Ausnahmen für "harmlose Fälle" undurchsetzbar werden würden. Zum Beispiel ist Alkoholgenuss in den "Metronom"-Zügen ab sofort verboten:
Das Verbot gilt in jedem Metronom zu jeder Tages- und Nachtzeit, an allen Wochentagen, für alle Fahrgäste und für alle Varianten von Alkohol, also auch das Feierabend-Bier oder das Hausfrauen-Sektchen. Die Metronom Eisenbahngesellschaft gestaltet das Verbot so umfassend, um gerecht zu bleiben und Diskussionen vor Ort zu vermeiden.
Metronom startet Alkoholverbot (taz-nord).

Das ist ein Beispiel dafür, dass eine "Null-Toleranz"-Regelung auch ganz pragmatische Gründe haben kann - auch wenn das Feierabend-Bier niemanden weh tut und die Regelung damit streng genommen über das Ziel hinaus schießt.

Samstag, 3. Oktober 2009

Die Herrschaft der '82er

Typisch für die aktuelle Politikergeneration ist nun einmal Beratungsresistenz, Unfähigkeit in der Realität zu leben und die Vorliebe Schwächere zu quälen und zu beleidigen.
Elternforum

Es ist viel, zu viel, über die angebliche kulturelle Hegemonie der "´68er" die Rede. Abgesehen davon, dass es nur verhältnismäßig wenige '68er gibt und dass längst nicht alle, die von konservativer Seite zu den "´68er" gezählt werden, wirklich welche (oder überhaupt "links") sind, sind die meisten "´68er" längst im Rentenalter oder kurz davor.
Die heute tatsächlich tonangebene Generation wurde in den 1980er und frühen 1990er Jahren politisch sozialisiert. Für "Westdeutschland" bedeutet das: in der Ära Helmut Kohl.
Wobei es eine Überschätzung des eher gemäßigten und pragmatischen Politikers Helmut Kohl wäre, die einschneidenden kulturellen Veränderungen, die es im "Westen" gab, "seiner" "geistig-moralische Wende" im Jahr 1982 zuzuschreiben.
Der "Kanzler der Einheit" wäre 1989 beinahe von den eigenen Leuten gestürzt worden. Wenn nicht, wäre es fraglich gewesen, ob er die Bundestagswahl 1990 gewonnen hätte. Er hatte Glück und nutzte die Gunst der Stunde aus: der politischen Umbruch in Osteuropa, die "Wende" (politische, nicht "geistig-moralische") in der DDR, rettete ihn vom politischen Abstellgleis und sicherte dem geschickten und oft unterschätzten Machtpolitiker den Platz in der deutschen Geschichte. Dass er überschwänglich "blühende Landschaften" in den neuen Ländern versprach, wird wahrscheinlich sogar ehrlich gemeint gewesen sein. Der Mann neigte nun einmal zum Überschwang.

Der entscheidende Faktor für "´82" liegt meiner Ansicht nach nicht etwa in der "Ökonomie", sondern im Wandel der tonangebenden "westlichen" ökonomischen Lehre. Anlass zum Bruch der SPD-FDP-Koalition war ein Strategiepapier der FDP, das von Otto Graf Lambsdorff ausgearbeitet worden war und marktradikale Positionen, heute würde man sie wohl "neoliberal" nennen, zur Reform des Arbeitsmarkts enthielt. (Es entbehrt nicht der historischen Ironie, dass das, was damals Lambsdorf-Papier vorgesehen war, gut 20 Jahre später unter einer SPD-Grünen-Koalition ziemlich getreu vollendet wurde.) Die "Wende" der vorherrschenden ökonomischen Lehrmeinung, hin zu einem "klassischen Kapitalismus" und einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik verlief in anderen westlichen Ländern noch weitaus heftiger - etwa unter der Regierung Thatcher in Großbritannien oder unter Reagan in den USA ("Reganomics"). Für derart massive Reformen waren die deutschen Marktradikalen noch zu schwach - und der Kanzler zu konservativ.

Zum Alltag. Eine ungemein typische Erscheinung in der Jugendkultur der frühen '80er Jahre waren die "Popper". Eine Jugendkultur, die sich sowohl vom traditionellen Konservativismus wie von den zur selben Zeit ihren Höhepunkt erreichenden "Protestkulturen" ("Alternativler", "Ökopaxe" aber auch Punks) abgrenzten. Die meist aus "gesicherten Verhältnissen" stammenden Popper zelebrierten demonstrativen Hedonismus und unverhohlenen Egoismus. Wichtig war ihr materialistisches Imponiergehabe - sie legten es darauf an, beneidet zu werden. Es gelang ihnen. Obwohl die ehemaligen Popper ihre Allüren später ablegten, setzten sich jene Teile ihrer "Weltsicht", die sozusagen mit den "bürgerlichen Sekundärtugenden" wie Fleiß, Disziplin und Gewinnstreben kompatibel waren, fest. Leicht überspitzt kann man sagen, dass die heutige Führungsriege der FDP und weite Teile der CDU, so wie große Teile der Medienlandschaft von Ex-Poppern und von Menschen, die einst die Popper beneideten, dominiert werden.

Ebenfalls in die frühen 80er-Jahre fällt der Beginn der "neuen Prüderie" - die AIDS-Epidemie war für die Gegner der sexuellen Befreiung und der Schwulen-Emanzipation quasi ein "Geschenk des Himmels". Ironischerweise wurde die neue Prüderie flankiert von einer zeitgleich einsetzenden Fitness- und Body-Styling-Welle, und einem zunehmend auch in sexueller Hinsicht voyeuristischen Boulevardjournalismus. Es entbehrt nicht der bitteren Ironie, dass ein seltsames Zweckbündnis von religiös Konservativen und einer bestimmten Sorte Feministinnen der "neuen Prüderie" Vorschub leistete (Stichwort "Por-NO!").

Es gibt aber auch ganz praktische "Langzeitprägungen". Denn die ´80er waren nicht nur die Zeit der angehenden "Generation C 64", sondern, im Falle der etwas älteren Jahrgänge, auch die Brutstätte der heutigen "Internetausdrucker" und "Computeranalphabeten". Noch von meiner eigenen Ausbildung zum Datenverarbeitskaufmann (heute: IT-Kaufmann) kenne ich die "Faustregel", dass jemand, der den Tag am Computer arbeitet, in der Freizeit ebenso wenig Neigung verspüren würde, sich mit dem PC zu beschäftigen, wie ein Tischler zuhause eine Werkbank hätte. Folgerung: der private Sektor sei für die Computerbranche uninteressant - abgesehen von der Nische der "jugendlichen Spieler". Nicht alle begriffen, dass das Bild des Arbeiters in der Autoindustrie, der selbstverständlich privat Auto fährt, die tatsächliche Situation besser beschrieb. Für viele meiner Altersgenossen galt: Computer gehören ins Büro, und zwar nicht das des Chefs!
Es gab damals "Ratgeber", die Unternehmern dringend davor abrieten, sich einen PC auf den Chefschreibtisch zu stellen. Das würde Verhandlungspartner fragen lassen: "Hat der denn keine EDV-Abteilung?" Der Computer wurde in den 80er von vielen Geschäftsleuten als Nachfolger von Schreibmaschine und Buchungsautomat angesehen - etwas für Sekretärinnen und Buchhalter, aber nicht fürs Management - oder Menschen, deren Karriereziele in Richtung Management gingen.

Bei den "´82ern" wirkt diese Anschauung bis heute nach. Ironischerweise sind jene, die damals zu den "technikfeindlichen" Grünen und Alternativen gehörten, heute oft stärker "internetaffin" als die an der "technologischen Führungsrolle des Wirtschaftsstandortes Deutschland" interessierten Kohl- und Lambsdorf-Anhänger von damals.

Freitag, 11. September 2009

"Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie früher mal war"

Dieser Ausspruch, der schon vor Jahrzehnten wahrscheinlich von Karl Valentin geprägt wurde, fiel mir ein, als ich diesen Artikel auf "Telepolis" las: Die Zukunft für uns heute ist nur noch Bedrohung. Viele der Überlegungen und Einsichten des interviewten Historikers Philipp Blom sind bedenkenswert, obwohl praktisch nichts davon neu ist. Fast habe ich den Eindruck, dass Bloms Aussage:
Wir haben uns bereits musealisiert, und damit machen wir uns irrelevant.
auf ihn selbst gemünzt sein könnte. Oder allgemeiner formuliert: dass Blom sicher einiges zum aktuellen Zeitgeschehen sagen kann, man aber dabei nicht vergessen sollte, dass er als Historiker, also "rückwärts gewandter Prophet", bestenfalls Erfahrungswerte für künftige Entwicklungen angeben kann. Ich vermute, dass einer der wesentlichen Gründe für die heute weit verbreite "Angst vor der Zukunft" darin zu suchen ist, dass es für viele aktuelle Probleme keine historischen Präzedenzfälle, keine Erfahrungswerte gibt.
Diese Jahre um 1900 waren nicht nur eine Zeit voller Unsicherheit, sondern auch voller Zukunft; eine Zeit voller Utopien, voller Hoffnungen, voller Versuche, die Zukunft zu gestalten. Wir haben inzwischen gesehen, wie die meisten dieser Versuche in der Zwischenzeit tragisch an die Wand gefahren wurden. Aber es bedeutet auch, dass die Zukunft für uns heute nur noch Bedrohung ist.
Ich würde das positiver formulieren: Wir haben, auf die harte Tour, gelernt, dass utopisches Denken immer einen Zug ins Totalitäre hat. Faktisch laufen politische Utopien ja stets darauf hinaus, dass eine "perfekte Welt" sozusagen am Reißbrett entworfen wird, in der die Menschen dann plangemäß zu funktionieren haben. Notfalls postuliert man dann einen noch zu schaffenden "neuen Menschen", wenn die schöne utopische Gesellschaft mit real existierenden Menschen einfach nicht gelingen will. Das schmälert den Wert etwa der literarischen Utopien in keiner Weise. Oder den von Zukunftsvisionen. Nur misstrauen heute mehr Menschen "Patentrezepten", die man "nur" realisieren müsste, damit alle Menschheitsprobleme für immer gelöst wären. Aus gutem Grund.
Zukunft ist Verschlechterung, Zukunft ist Klimaerwärmung, Zukunft ist Zusammenbruch von Gesundheitssystemen, Zukunft ist Überfremdung, Zukunft ist, was auch immer Sie da reinsetzen wollen. Zukunft ist nie etwas Gutes.
Das hat meiner Ansicht nach nur am Rande mit dem Abschied vom "utopischen Denken" zu tun. An andere Stelle bemerkt er sehr richtig:
Heute, wenn jemand wagt, Utopist zu sein, dann heißt er Barack Obama, und verbindet das mit einer ausgesprochen pragmatischen Politik.
Etwas anderes wäre eher Tagträumerei als Politik - oder eben tendenziell totalitär. Ich bin ja der Ansicht, dass es so etwas wie "die Zukunft" gar nicht gibt. Es gibt allenfalls mögliche Entwicklungen. Weniger radikal, aber das selbe meinend, formulierte Karl Popper: "Die Zukunft ist offen". Die Zeit ist kein Eisenbahngleis, wir sind zu Fuß unterwegs und können daher Hindernissen ausweichen. Sogar einen drohenden Abgrund kann man, wenn man gut klettern kann, überwinden. Aber da wir zu Fuß gehen, können wir die Entwicklung nur stückweise beeinflussen. Das ist aber grundsätzlich eine optimistische Einstellung, so wie Obamas pragmatischen Vorstellungen von einer einer besseren Welt von einem Optimismus seiner Anhänger getragen werden, wie es ihn in den USA vielleicht seit den Tagen Präsident Kennedys nicht mehr gegeben hat.
Wenn "die Zukunft" nur noch aus Ängsten und Befürchtungen zu bestehen scheint, dann liegen die Ursachen dafür am wenigsten beim Verlust der "ganz großen" politischen Zukunftsentwürfe.

Etwas näher an die Gründe für den weit verbreiteten Pessimismus kommt meiner Ansicht nach ein Buch, dass vor Kurzem auf Spektrum.de besprochen wurde:
Wider den Katastrophen-Konsens. Es geht dabei um das Buch "Frohe Botschaften" von Dirk Maxeiner und Michael Miersch. Zwei Wissenschaftsjournalisten, die ich für etwa die Hälfte ihrer in diesem Buch zusammengefassten Kolumnen küssen könnte - und für fast alle anderen ohrfeigen.
Ich halte M & Ms Optimismus bei manchen Entwicklungen für doch zu rosa gefärbt, mag ihren "antigrünen" Polemiken nicht unbedingt beipflichten, und kann ihnen den Vorwurf nicht ersparen, dass z. B. ihre (durchaus berechtigte) Skepsis hinsichtlich der Gültigkeit von Klimaprognosen sie vom "Katastrophen-Konsens" ins andere Extrem kippen ließ: sie zeigen sich immer wieder als "Klimaskeptiker", die den menschlichen Einfluss auf's Klima als solchen kleinreden. Dennoch liege ich ihren Gedankengängen nicht ganz fern, wie z. B. mein 2005 verfasster Essay “Rachegöttin Natur” Apokalyptisches Denken in der Umweltbewegung verrät. (Interessanterweise trägt "Frohe Botschaften" das selbe Titelfoto, übrigens unabhängig voneinander - als ich meine Aufsatz schrieb, war das Buch noch nicht einmal geplant, umgekehrt ist es so gut wie ausgeschlossen, dass M & M meinen Essay und sein Titelbild kennen.)
M & M zufolge würden Moralaktivisten eine einmal begonnene Sache ohne Ansehen der Realität bis zum Ende durchziehen. Also ideologisches Denken, dass dem utopischen Denken mancher Endzeitpropheten von vor 100 Jahren gar nicht einmal unähnlich ist.
Weiter Gründe sind in dem tief in der abendländischen Kultur verankertem apokalyptischen Denken zu suchen. Dass das "Ende der Welt nahe" sei, haben selbst ausgemachte Atheisten "im Hinterkopf" - allerdings ohne den Glauben an einen gerechten Gott.

Ein weiterer Grund dürfte im Schulddenken und dem sich daraus ergebenden Prinzip der Schuldzuweisung zu suchen sein. Traurige Praxis ist das "Schwarze-Peter-Spiel", in dem jeder potentiell Verantwortliche auf den seiner Meinung nach "Schuldigen" verweist, ohne die Frage nach eigener Mitverantwortung zu stellen. (Inzwischen fließen weiterhin ungeklärte Abwässer in den Fluss, wird der Regenwald abgeholzt oder fahren kaum noch seetüchtige Tanker Rohöl über die Ozeane.) Ist dann ein Schuldiger, z. B. für einen Giftmüllskandal, gefunden, ist der Fall scheinbar erledigt – aber der Giftmüll ist damit noch nicht aus der Welt.
Mit der Erkenntnis, dass die ungehemmte Ausbeutung der Erde das Leben künftiger Generation gefährdet und dem vorherrschenden Denken in Kategorien der Schuld entstand die weltliche Vision des göttlichen Strafgerichts: Die Welt geht unter, die Menschheit wird vernichtet, und wir alle, zumindest wir alle in den Industrienationen sind daran Schuld! (Wenn alle Schuld haben, ist niemand verantwortlich, auch kein noch so skrupelloser Konzernmanager, Behördenchef, Politiker!)
Ein Faktor der Zukunftsangst ist sicherlich die "Aufmerksamkeitsökonomie" – nur schockierende Sensationen schaffen es noch in die Massenmedien, "nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten".

Ein ganz entscheidender Grund für die Angst vor "der Zukunft" ist schlicht und einfach Angstmache. Zu den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts gehört auch die Erkenntnis, wie wirksam sich mit Angst Menschen manipulieren lassen. Wer Angst hat, muckt nicht auf.
Autoritär-obrigkeitsstaatliche "Lösungen" tatsächlicher oder vermeintlicher Probleme sind ohne Bedrohungen schier apokalyptischen Ausmaßes als "sinnstiftendem" Noch-nicht-Ereignis nicht zu vermitteln. Ich halte es nicht für einen Zufall, dass die Angst vor Kriminalität entgegen den Fakten (wie sie z. B. aus der Polizeilichen Kriminalstatistik ersichtlich sind), derart gesellschaftlich bestimmend ist. Wobei man sich vor dem Missverständnis hüten sollte, etwa angstmachende Politiker für kalt berechnende Manipulatoren zu halten. Gerade die "politischen Entscheider" werden von Ängsten geplagt. Die "wirksamsten" Angstmacher sind selber ängstlich. Was es weder besser macht, noch die Angstmacher entschuldigt.
Werden rostige Ideen aufpoliert zu neuem Glanz,
Und von Angst genährtes Gift in eure Köpfe eingepflanzt

Mittwoch, 26. August 2009

Zeichen der Hoffnung

Ein kleiner Trost, in Zeiten, die lausig scheinen:
Kommandieren ... Damit hatte sie es nun sonst nicht leicht. Denn wo sich die Schweden beugen, verbeugen sie sich höflich, weil sie es so wollen. Sie gehorchen nur, wenn sie eingesehen haben, daß es hier und an dieser Stelle nötig, nützlich oder ehrenvoll ist, zu gehorchen ... sonst hat einer, der in diesem Lande herrschen will, wenig Gelegenheit dazu. Man verstände ihn gar nicht; man lachte ihn aus und ginge seiner Wege.
aus: Kurt Tucholsky, Schloss Gripsholm
Als Tucholsky dies 1931 schrieb, da stellte er die - etwas idealisierte - Haltung der Schweden zum Gehorsam dem damals in Deutschland wahrlich nicht nur in extrem rechten Kreisen als "Tugend" verklärten "unbedingten Gehorsam" gegenüber.
Es ist, bei allen neuen obrigkeitsstaatlichen Tendenzen, erfreulich, dass der Untertanengeist, den Tucholsky so fürchtete und unter dem er so litt, nur noch in wenigen deutschen Köpfen spukt.
Meine Hoffnung für die deutsche Demokratie und für die offene Gesellschaft, liegt nicht darin, dass die Politiker heute besser oder auch nur weniger skrupellos wären als Anfang der 1930er Jahre.
Sie liegt in den Menschen, die dem "schwedischen" Ideal Tucholskys ein gutes Stück näher gekommen sind.

Dienstag, 25. August 2009

Einige Gedanken dazu, dass es "nach Apollo" nicht weiterging

"Hat man eine Erde gesehen, hat man alle gesehen."
Harrison Schmitt (Apollo 17) über den Anblick der Erde aus dem All.

"Es" steht hierbei nicht für die Raumfahrt - die ja weiterging, wenn auch in weitaus bescheidenerem Maße, als dies 1969 allgemein erwartet wurde. "Es" steht für eine technologische, kulturelle und allgemein-gesellschaftliche Aufbruchstimmung der später 1960er Jahre, deren spektakulärstes Symbol die bemannten Mondlandung war.
Karan schrob anlässlich des Apollo-11-Jubiliäums:
Die Grundhaltung war damals: alles ist möglich. Unbegrenzt wie der menschliche Forschungsdrang erschienen die Mittel und Gelegenheiten. Und ich frage mich bis zum heutigen Tag, wann genau das eigentlich gekippt ist. Es war wohl ein gradueller Prozeß…
Am einfachsten lässt sich diese Frage noch in Hinblick auf die Raumfahrt selbst beantworten. Ich sehr das von John F. Kennedy angeschobene Mondlandeprojekt einerseits als den Versuch, der Welt die technische und organisatorische Überlegenheit der USA zu demonstrieren - und zwar ohne die Gefahr einer militärische Auseinandersetzung mit der UdSSR. Anderseits war es der clevere Versuch, ein staatliches Technologieförderungsprogramm in einem Land durchzusetzten, in dem solche Programme traditionell auf starken Widerstand stoßen. "Apollo" regte, anders als die großen Rüstungsprojekte, die beteiligten Unternehmen zur Transparenz und Zusammenarbeit an. Erfindungen, die für "Apollo" gemacht wurden, verschwanden nicht erst mal wegen der militärischen Geheimhaltung, für einige Jahre im Panzerschrank, sondern der "Spin-Off" konnte sofort an die Zivilwirtschaft weitergegeben werden. Bei "Apollo" wurde nicht nur neue Technologien erprobt, sondern auch neue Managementmethoden.
Für die Militärtechnologie war und ist der Mond uninteressant - daran ändern auch Mondflug-Projekte unter militärischer Leitung wie Horizon (US Army) oder Lunex (US Air Force) nichts, die schon in ihrer Definitionsphase starben, weil die Frage, was das Militär auf dem Mond will, nicht zu schlüssig zu beantworten war.
Für das Militär reichen Raketen, die Satelliten für die Spionage, für die militärische Kommunikation in die Umlaufbahn bringen, aus. Auch für "Killersatelliten", die andere Satelliten stören oder zerstören, braucht man weder Mondflüge, noch Sonden, die andere Planeten erreichen. Man braucht, wie die US Air Force, die 1969
entsprechende Pläne
aufgab, im Verlauf der 1960er Jahre merke, dafür auch keine bemannten Raumstationen.
Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass der ausgeprägte Militärisch-industrielle-Komplex der USA Apollo nur so lange unterstützte, solange das Ziel "es die Russen zu zeigen", also die Propagandawirkung und die Demonstration technischer (auch indirekt: waffentechnischer) Überlegenheit klar im Vordergrund stand. Mit der geglückten Mondlandung wurde das Apollo-Projekt uninteressant.
Übrigens dachten auch viele Menschen abseits des Militärisch-industriellen-Komplexe ähnlich. Erinnert sei an den Ausspruch des CBS-Anchorman Walter Cronkite, dass das Geld für das Apollo-Programm verschwendet gewesen sei, weil "die Russen niemals im Rennen gewesen waren." (Siehe: Die echte "Mondlandungslüge".)

Indirekt wirkten die Mondflüge über das Bild der Erde aus dem Weltraum, das nicht zufällig zur "Ikone" der Umweltbewegung wurde:
NASA-Apollo8-Dec24-Earthrise
Wenn man so will, kam erst mit der Raumfahrt die "kopernikanische Wende" im Alltagsbewusstsein an: die Erde ist nicht die "große, weite Welt", sie eine winzige, blaue Oase vor dem immensen schwarzen Hintergrund des Weltalls. Erst seit Ende der1960er Jahren gibt es so etwas wie eine geistige Globalisierung - neben der ökonomischen, die es schon spätestens seit dem 19. Jahrhundert gibt.
Wo es eine "geistige Revolution" gibt, die Hinwendung zum globalem Denken - verbunden mit den ebenfalls etwa vor 40 Jahren populär gewordenen "Graswurzel-Bewegungen, dem "lokalen Handeln", da gibt es auch Gegenkräfte. So wie es heute politische Kräfte gibt, die das Internet (übrigens auch einem "Kind" des bewegten Jahres 1969) im Sinne der "bestehenden Ordnung" zu bändigen versuchen. Nicht alle diese Gegenkräfte kamen "von oben", der Natur und Umweltschutz war lange Zeit stark konservativ (bis reaktionär) und "antitechnisch" geprägt. Es ist m. E. kein Zufall, dass eine Umweltbewegung, in der gesellschaftlich progressiv gedacht wurde, und die in moderner Technik auch Chancen und nicht nur Gefahren sah, sich erst gut zehn Jahre nach "Apollo" und "Woodstock" etablieren konnte. Vorher dominierten noch Menschen, die mit der Vorstellung, für eine florierende Wirtschaften seinen nun einmal "rauchende Schlote" notwendig, und die natürlich Ressourcen seien im Prinzip unerschöpflich, aufgewachsen waren, Politik und Wirtschaft. (Umgekehrt wurde der Natur- und Umweltschutz lange Zeit von einem starken antitechnologischen Affekt beherrscht, der selbst heute noch spürbar ist.) Auch das Denken, dass Kriege "da hinten" in Ostasien oder Hungersnöte "da drunten" in Afrika "uns" nicht angingen, ist seit der geistige Globalisierung, die in den 1960er Jahren begann, "von gestern".
Unsere heutige Kommunikation ist weltumspannend. Was immer in einem Winkel der Erde geschieht, der Rest sieht es. Kein Despot kann mehr machen was er will, ohne dass die Bilder in alle Länder gehen. Dass das den wenigsten Mächtigen und sich für mächtig haltenden, nicht passt, sollte nicht überraschen.

Dabei bedeutet "progressiv", obwohl dieser Begriff gern von (extremen) Linken gekapert wurde und wird, nicht dasselbe wie "sozialistisch". In der BRD konnte man sich dem Vernehmen nach Ende der 1960er in "linken Kreisen" schnell zum Außenseiter stempeln, wenn man im "Apollo"-Projekt einen tieferen Sinn sah. Das überstieg offensichtlich den Horizont der damals tonangebenden "linken" Kräfte. Den der Konservativen sowieso.

Vielleicht sollte man das "Apollo-Projekt" aus Ausdruck des "Unbewussten einer Organisation" sehen.
Der Ausdruck stammt vom Physiker
Richard Feynman, und wurde von ihm während der Untersuchungen zur Challenger-Katastrophe im Jahr 1986 geprägt. (Bekannt wurde sein öffentlicher Auftritt, in dem er die Folgen von Frost an den Dichtringen der Feststoff-Treibstofftanks mit einem Glas Eiswasser vorführte.) Sein von der Mehrheit abweichender Bericht äußerte sich kritisch zur bürokratischen Organisation der NASA.
Feynman wusste innerhalb einer Woche, dass ein Dichtungsring die technische Ursache des Unfalls war. Hingegen verbrachte er sechs Monate damit, herauszufinden, wie es möglich war, dass einer Organisation wie der NASA so ein haarsträubender Fehler unterlaufen konnte. Seine Erklärung:
Vor der Mondlandung stand die ganze US-amerikanische Gesellschaft hinter den Raumfahrt-Projekten. Aus durchaus unterschiedlichen Gründen, im Zweifel war es reines Prestigedenken: man wollte "vor den Russen" auf dem Mond sein. Aus politische Gründen wurde das Raumfahrtprogramm schon während der Apollo-Flüge drastisch eingeschränkt. Die Folge: in den 1970er Jahren war die NASA eine 5 Milliarden-Bürokratie, die nicht ausgelastet wa.
Also erfand sie sich einen Arbeitsauftrag, den sie der Politik (und ich ergänze: dem Militärisch-industriellen-Komplex) "verkaufen" konnte - das "Space Shuttle"-Programm. Der Shuttle-Orbiter sollten, entgegen der ursprünglich Planung, so groß sein, dass er Satelliten nicht nur starten, sondern auch bergen und zur Erde zurückbringen konnte. Außerdem versprach man, dass die Raumfahrt mit einem teilweise wiederverwendbaren System wirtschaftlicher werden würde als mit "Wegwerf-Raketen" - eine schon damals umstrittene Ansicht. Folge: das Projekt wurde, anders als Apollo sozusagen "auf Kante genäht": man musste ja zugleich "wirtschaftlich" sein wie andererseits die hohen Erwartungen der Air Force und des CIA erfüllen. Die NASA musste außerdem trotz der Vorbehalte in der Bevölkerung (die es aus verschiedene Gründen und aus verschiedene Richtungen gab) sicherstellen, dass die Gelder weiterhin vom Parlament genehmigt würden.
Feynman sagte, die NASA hätte sich sozusagen in zwei Hälften gespalten: Das obere Management war damit beschäftigt, das Space-Shuttle-Projekt der Nation zu verkaufen und wollte von Sicherheitsfragen deshalb nichts wissen. Es verdrängte die Probleme in das "Unbewusste der Organisation".

Was Feyman für die NASA feststellte, gilt, dessen bin ich mir ziemlich sicher, auch für "westlichen Gesellschaften" als Ganzes: "Von unten", in der Bevölkerung, kam nach der Aufbruchstimmung der späten 1960er Jahre (die sowieso nur einen Teil der Bevölkerung mitriss - in Westdeutschland wollte längst nicht alle mit Bundeskanzler Willy Brandt "mehr Demokratie wagen") spätestens nach der "Ölkrise" 1973 die Ernüchterung. Zudem rächte es sich in dieser Zeit, dass in den 1950er und 1960er Jahren, der Begriff "Fortschritt" (Wandel zum Besseren) in der medialen Öffentlichkeit zumeist auf "technischen Fortschritt" und dieser wiederum auf "technische Neuerungen" reduziert worden war. Wer etwas gesellschaftlich bewegen wollte, musste sich anpassen - die Umweltschützer etwa an die oft stockkonservativen Naturschützer, während die "68er" (und noch mehr "69er"-Nachläufer) beim "Marsch durch die Institutionen" das Klüngeln und den Opportunismus lernten. Andere lernten, sich und ihre Idee zu verkaufen - so gut, dass am Ende oft nur nur heiße Luft als "Idee" verkauft wurde.

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