Religion, Magie, Mythen

Donnerstag, 26. Februar 2009

Evolutionstag statt Christi Himmelfahrt

Christi Himmelfahrt soll künftig Evolutionstag heißen. Das ist das Ziel einer Kampagne, die die Giordano Bruno Stiftung (gbs) am Aschermittwoch startete.
Evolutionstag statt Christi Himmelfahrt!.
Darwin
Für die Umbenennung von Christi Himmelfahrt in Evolutionstag spreche, meint der gbs-Vorsitzende Michael Schmidt-Salomon, dass die Mehrheit der in Deutschland lebenden Christen nicht mehr „an das Glaubensdogma der leiblichen Auffahrt Jesu in den Himmel“ glaube. Außerdem müsse endlich auch das konfessionsfreie Drittel der Gesellschaft berücksichtigt werden, dem aus Fairnessgründen ein Drittel der gesetzlichen Feiertage zustehe. Das ist wahrlich wahr - außerdem suggeriert "Christi Himmelfahrt" die selbst für dogmentreue Christen schwer hinnehmbare Vorstellung eines fahrstuhlählichen Vorganges. Das heißt - christlichen Fundamentalisten traue ich ohne Weiteres zu, dass sie tatsächlich glauben, Jesus wäre mittels einer göttlichen Seilwinde in den Himmel gehievt worden. Es gibt ja auch Fundis, die glauben, die Hölle würde sich tatsächlich im Erdinneren befinden. Sind eben durch und durch unspirituell, die Leute.
(Kleines Special für Fundi-Christen: In der Hölle herrscht eine Temperatur zwischen 115,2 °C und 444,6°C. In der Offenbarung des Johannis 21,8 heißt es: "Aber die Furchtsamen und Ungläubigen sollen ihren Platz in dem See finden, der von Feuer und Schwefel brennet." Da es einen See aus geschmolzenem Schwefel gibt, muss die Temperatur der Hölle zwischen der Schmelztemperatur und der Siedetemperatur von Schwefel liegen.)

Zur Kampagne gehört auch ein passendes Lied mit einem ziemlich witzigen Video: Children of the Evolution.

Bei allem Respekt vor der Giordano-Bruno-Stiftung - Children of the Revolution finde ich rein musikalisch gesehen doch flotter ...

Montag, 26. Januar 2009

Was passiert am 21.Dezember 2012?

Geht es nach einigen führenden Eso-Leuchten, dann werden am 21. Dezember 2012 ganz ungewöhnlich Dinge passieren:
In der einfachsten Ausführung ist dieser Tag der Tag des Weltunterganges. In der Variante verschiedener religöser Sekten mit durchaus gegensätzlichen Weltanschungen werden einige Auserwählte (also Anhänger der jeweiligen Weltuntergangssekte) auf wundersame Weise errettet. Einige "UFO-logen" glauben hingegen, dass an diesem Tag die außerirdischen "Astronauten-Götter" zur Erde zurückkehren werden. Andere kombinieren beide Varianten und glauben sowohl an überirdisch mächtige Außerirdische, wie an die Errettung der Auserwählten: die werden per UFO-Großeinsatz von der bedrohten Erde evakuiert.
Vielleicht gibt es aber auch - einige Nummern kleiner - Revolutionen, die vom Sonnenflecken-Maximum ausgelöst werden. Oder die mit den Sonnenflecken-Maximum einhergehenden Sonnenstürme legen gleich direkt unsere technische Zivilisation lahm. Wobei noch niemand weiß, ob es 2012 überhaupt ein Sonnenflecken-Maximum geben wird - und es sehr fraglich ist, ob das nächste Sonnenflecken-Maximum intensiver als bereits überstandenen Sonnenflecken-Maxima seien werden.

Ursache des größten Esoterik-Hypes seit dem glücklich überstandenen Weltuntergang am 31.12.1999 ist der Maya-Kalender. Am 21.12.2012 endet die "Lange Zählung" des Maya-Kalenders - er ist also für die Maya so etwas wie ähnliches wie der 31.12.1999 für uns - alle Stellen des Kalenders ändern sich und zahlenmäßig beginnt eine neue Epoche. Übrigens haben die Maya mit diesem Datum nicht wirklich den Weltuntergang in Verbindung gebracht.

Des Hintergrundes des Maya-Kalenders und der esoterischen Spekulationen, die sich um den Maya-Kalender ranken, hat sich der Astronom Florian Freistetter auf scienceblogs angenommen: Kein Weltuntergang am 21. 12. 2012

Als Freund des Science-Fiction-Rollenspiels Shadowrun und des damit verbundenen literarischen Universums weiß ich natürlich, dass das entscheidende Datum genau ein Jahr früher ist, nämlich der 21. Dezember 2011:
21. Dezember, Großbritannien: Steinkreise und Monolithen brechen plötzlich aus der Erde hervor, während die Ley-Linien im ganzen Land aktiv werden.
(Quelle: Shadowhelix, Jahr 2011.) Das Jahr 2011 ist bekannt als das Jahr des Chaos. Nachdem das Jahr 2010 mit dem Ausbruch von der verheerenden VITAS-Pandemie bereits erheblichen Schaden angerichtet, wird es 2011 nur noch schlimmer. Viele der Ereignisse des Jahres 2011 werden durch Magie ausgelöst oder sind Vorboten des Erwachens.

Shadowrun ist selbstverständlich reine Fiktion, allerdings eine für Rollenspiel- und Roman-Verhältnisse ungewöhnlich gut durchdachte. Wenn auch die in Shadowrun "vorhergesagten" Ereignisse bisher nicht eintraten - zumindest nicht "termingerecht" - ist es keineswegs unplausibel, dass die nahe Zukunft ähnlich aussehen wird, wie sie im Wikipedia-Artikel über Shadowrun beschrieben wird:
Der Hintergrundgeschichte nach haben sich Konzerne zu weltumspannenden Strukturen ausgebaut, die nur noch wenigen Gesetzen unterliegen. Die größten multinationalen Konzerne – sogenannte Megakons – besitzen eine Form der Exterritorialität, was ihnen erlaubt, unbehelligt von staatlichen Gesetzen auf ihrem eigenem Grund zu agieren. Polizeiliche Aufgaben werden ebenfalls von einzelnen Konzernen übernommen. Weite Teile der Erde sind durch rücksichtslose Ausbeutung und Katastrophen zerstört. Die Katastrophen haben zusammen mit mehreren Pandemien eines stark mutagenen Virus – dem ein Drittel der Weltbevölkerung zum Opfer fiel – die urbane Gesellschaft stark polarisiert: eine vergleichsweise wohlhabende Schicht von Konzernangestellten, die in geschützten Enklaven ihres jeweiligen Konzerns leben und eine große Schicht von Armen, die weitgehend rechtlos außerhalb der Konzerne leben. Außerhalb der zu Megaplexen zusammengewachsenen Städte verwildern viele Gebiete oder werden zu autonomen Kleinstaaten.
Im Großen und Ganzen lässt sich sagen, dass die reale Welt, seitdem die erste Version Shadowruns 1989 erschien, den darin beschriebenen Zuständen deutlich näher gekommen ist.
Mit einem gewissen Sarkasmus lässt sich außerdem sagen: Das nur zu Unterhaltungszwecken erdachte Shadowrun-Universum zeigt sich als Prognoseinstrument nicht nur sämtlichen esoterischen Szenarien, sondern auch den meisten seriösen Zukunftsprognosen überlegen.
Selbst die Szenarien zum "Erwachen der Magie", die gewöhnlich als das "Fantasy-Element" in Shadowrun wahrgenommen werden, sind beim näheren Hinsehen meistens weniger phantastisch, als es auf den ersten Blick scheint. (Ich rechne trotzdem nicht wirklich mit dem Erwachen der Drachen oder damit, dass sich Menschen in Zwerge, Oks, Trolle oder Elfen verwandeln werden ... )

Doch zurück zur Konsensrealität bzw. der Alltäglichen Wirklichkeit. Als Asatruar bin der Ansicht, dass es so etwas wie "die Zukunft" gar nicht gibt. Wen das verwirrt, den verweise ich auf die Essays No future! Warum das Germanische keine Zukunft hat und Im Zeitstrom des Lebens - Die Nornen, die Zeit und ein Weltbild - oder zwei, oder drei ….
In einem einfachen Bild: wir gehen in unserer ("abendländischen") Kultur normalerweise von einem linear-kausalem Wirklichkeitsbild aus. Aus dem Vergangenen folgt die Gegenwart und daraus wieder die Zukunft. Der "Zeitstrahl" ist so etwas wie eine Eisenbahnstrecke, die in Richtung "Zukunft" führt. Der Diskurs in unserer Kultur kreist allenfalls darum, ob "die Zukunft" determiniert ist, also "von Anfang an" feststeht (alle Weichen sind schon gestellt, der Zug der Zeit kann weder gebremst noch beschleunigt werden) oder ob wir "Weichensteller" oder "Lokführer" der Zukunft sein können. In der Weltsicht, der ich anhänge, gibt es keine Bahnschienen, sondern nur Spuren, die wir selbst beim Gehen verursachen. Liegt z. B. eine Schlucht auf unserem Weg, dann rauschen wir nicht etwa ungebremst in den Abgrund bzw. haben allenfalls die Möglichkeit stillzustehen (selbst ein Zurücksetzen ist in den meisten Weltmodellen nicht möglich), sondern können auch seitlich weitergehen oder, wenn wir gute Kletterer sind, langsam den Abgrund hinabsteigen. Daher sind auch "zwingende" Prognosen niemals sicher. Wem der Ausdruck "die Zukunft gibt es nicht" nicht behagt, der mag Karl Poppers Formulierung "die Zukunft ist offen" den Vorzug geben.
Es gibt keine sicheren Prognosen, weil die künftigen Ereignisse noch nicht eingetreten sind. Selbst bei so sicheren Wetten wie "auch morgen wird es wieder Tag werden" handelt es sich um Wahrscheinlichkeiten, deren Eintrittswahrscheinlichkeit gegen "1" geht - aber nie ganz gleich 1 sein kann.

Es gibt den 21. Dezember 2012 noch nicht. Was es allenfalls gibt, sind mögliche Entwicklungen, die im Sein der Welt bzw. im Wyrd angelegt sind, etwa die, dass sich in Deutschland die Menschen auf das Weihnachtsfest vorbereiten werden.
Prognosen, die nicht im Urd - dem Gewordenen - verankert sind, oder die den Prozess des Werdens - Werdani - nicht berücksichtigen, sind soviel Wert, wie nun die Aktien jener Investmentbanken, deren Spekulationen das, was ist, und das, was wird, großzügig dem Wunschdenken unterordneten.
Nun sind die meisten esoterischen "Prognosen" sehr schlecht im Sein verankert. Sie türmen eine unbewiesene Vermutung auf die andere. Andere Szenarien sind noch schlechter verankert, weil sie z. B. auf Wunschdenken (z. B. überoptimistische Spekulanten), Angst (Weltuntergangspropheten, aber auch z. B. "Sicherheitsexperten", die ständig von einer "abstrakt erhöhten" Terrorismusgefahr reden), auf nachweislich falschen Voraussetzungen (z. B. Überlegungen, dass die Erde 2012 mit einem anderen Planeten zusammenstoßen wird - der "Planet X" wäre längst entdeckt) oder schlicht auf Lügen beruhen. Solche Zukunftsszenarien machen vor allem eines: blind – für das, was ich verändern kann!
Wieder andere Zukunftsszenarien sind besser verankert - egal, ob sie im Gewand der Science Fiction oder dem der Futurologie erscheinen. Sie unterscheiden sich im Grad ihrer Unsicherheit, aber sicher sind sie alle nicht. Da es erfahrungsgemäß meistens anders kommt, als man denkt, ist auch jeder Gedanke an "die Zukunft" eine gewisse Kraftverschwendung. Er kann, spielerisch betrieben, wie die "Kraftverschwendung" Sport Spaß bringen. Kraftverschwendungen, die nichts bringen, nicht einmal Spaß oder Muskeltrainung, sollten man tunlichst vermeiden. Ungleich wichtiger als jede Zukunftsvision einschließlich jedes Pläneschmieden ist es, sich darum zu kümmern, was tatsächlich erfahrbar ist, und um das, auf das es zu reagieren gilt.

Eine interessante Überlegung zum Schluss: was geschah eigentlich bei der letzten Zeitenwende, dem Beginn der "Langen Zählung" des Maya-Kalenders, am 11. August 3114 v.u.Z?

Dienstag, 30. Dezember 2008

Plastikschamanen?

Ich gebe ohne Weiteres zu, dass ich Heide (und schlimmer noch: Neuheide der bösen, bösen "germanischen Richtung") bin. Ich gebe ferner zu, dass ich ab und an schamanisch "unterwegs" bin.
An und für sich erfordert so ein "Bekenntnis" keinen sonderlichen Mut. Jedenfalls für einen Menschen, der wie ich, nicht in einer kirchlichen Einrichtung arbeitet, oder z. B. im sensiblen Bereich der Erziehung / Sozialpädagogik tätig ist. Eine "Heidenverfolgung" existiert nur in der paranoiden Phantasie einiger Neuheiden, die sich offensichtlich in einer Opferrolle wohl fühlen - und in den Behauptungen rassistischer Vereinigungen wie der "Artgemeinschaft", die ungern zugeben, dass sie nicht wegen ihres Heidentums, sondern wegen ihres Rassismus im Verfassungsschutzbericht auftauchen.

Die meisten Vorwürfe gegen mein "Neuheidentum" lassen mich kalt. Aber nicht alle. Derzeit hadere ich - Julfrieden hin, Rauhnächte her - schwer mit dem Vorwurf, esoterischen "Plastikschamanismus" zu praktizieren. Denn diese Vorwürfen haben Substanz. Jedenfalls auf den ersten Blick.

Zur Erläuterung, was ich mit "Substanz" eines Vorwurfes meine, greife ich auf ein älteres Beispiel zum Thema "Neuheidentum" zurück, das nicht so ohne weiteres vom Tisch zu wischen ist:
Es gab zu keinem Zeitpunkt ein ›Neuheidentum‹, das emanzipatorisch gewesen wäre. Anders als die ›Öko-, Jugend- und Musikbewegung‹ ist das Wesen des ›Neuheidentums‹ mit seiner Irrationalität, seinen antihumanen Naturmythen, seinem germanischen Rassismus, seiner völkischen Schwärmerei, seinem Antisemitismus usw. per se antiemanzipatorisch und objektiv ein Baustein für faschistische Ideologien und Konzepte.
Jutta Ditfurth: Entspannt in die Barbarei - Esoterik, (Öko-) Faschismus und Biozentrismus (Konkret Literatur Verlag, 3. Auflage, 1996) S. 173

Dazu ist es vielleicht ganz wichtig zu wissen, dass Jutta Ditfurths Buch nicht nur einen heftigen Rundumschlag gegen die gesamte "Esoterik-Szene" und weite Teile der "Alternativ-Szene" enthält. Zwar ist Jutta Ditfurth äußerst polemisch und polarisierend, pauschalisiert stark, und eine gewisse ideologische Verbohrtheit ist ihr nicht abzusprechen. Aber Substanz haben ihre Urteile schon.
Sie warnte schon damals davor, dass eine faschistoide Bewegung, die in Deutschland regierungsfähig wäre, nicht von den offen auftretenden Neonazis und auch nicht von der Neuen Rechten getragen würde, sondern von der "verbürgerlichten" früheren Alternativ-Szene. Im Licht der seitdem erfolgten Entwicklung muss ich einräumen: wahrscheinlich hat sie damit recht. Ich fürchte auch, dass sie mit ihre Annahme, dass der nicht mehr selbstverantwortliche Mensch – geführt durch Natur, Götter, Führer oder inneres "Selbst" - die herrschenden (Ausbeutungs-)Verhältnisse akzeptiert oder sogar verstärkt, recht hat.
Gehe ich davon aus, wie sich die deutsche "Heidenszene" bis Mitte der 1990er Jahre nach außen präsentierte - und stelle ich in Rechnung, dass Jutta Ditfurth sich intensiv mit dem Problemkreis "Theosophie - Ariosophie" auseinandergesetzt hat, dann überrascht ihr harsches Urteil nicht. Es gibt und gab zwar Neuheiden, auf die es nicht zutrift - wahrscheinlich trifft ihre Aussage im vollem Umfang nur auf eine Minderheit der Neuheiden zu - aber diese Minderheit ist, anders als die relativ vielen "Blümchenheiden" und "Lamettahexen" politisch relevant. Organisationen wie der Armanenorden und erst recht die Artgemeinschaft sind gefährlich - und die Schanierfunktion jener "Unpolitischen", die unter dem gefährlichen Motto "Wir sind doch alle Heiden" rechtsextremen Personen und Positionen die Tür öffnen, ist nicht zu unterschätzen.
(Ich sehe die "Nornirs Ætt" durchaus als einen Versuch, Jutta Ditfurths Ansichten über das Neuheidentum in jedem Punkt Lügen zu strafen und dabei, trotz geringer Größe, so "politisch relevant" wie möglich zu sein.)

Zurück zum an mich gerichteten Vorwurf des "Plastikschamanismus". Der zentrale Punkt des an mich gerichteten Vorwurfes ist der, mich am "kulturellen Diebstahl" an traditionellen Stammeskulturen zu beteiligen - und das mittels einer "historischen Fiktion" zu bemänteln.
Ein “Plastikschamane” ist jemand, der zu Unrecht behauptet, in das schamanische Wissen einer Stammeskultur eingeweiht zu sein und aus dieser Amtsanmaßung Kapital schlägt.
So gesehen träfe der Vorwurf, ich würde "Plastikschamanismus" praktizieren, nicht zu. Zumal ich mich selbst nie "Schamane" nennen würde - und diejenigen, von denen ich schamanischen Praktiken erlerne, sich auch nicht "Schamanen" nennen.

Allerdings wird der Neoschamanismus oft als "plastikschamanisch" beargwöhnt - was angesichts dessen, was so alles in der Eso-Szene als "schamanisch" verkauft wird, nicht weiter erstaunlich ist. Auch der "Core Shamanism", auf den ich mich durchaus berufe, der auf gesichtetem ethnologischem Wissen beruht, und der sich nicht anmaßt, traditionelles "Stammeswissen" zu verbreiten, gilt manchen Kritikern als "plastikschamanisch".

Der Vorwurf des "kulturellen Diebstahls" mag in Einzelfällen zutreffen. Ganz gewiss im Falle jener "Natives", die sich die Naivität ihres Klientels zunutze machen und Traditionen verkaufen. Im Falle jener, die keine "Natives" sind, und auch nicht einen Teil dieser Kultur erlernten, sich aber als "Schamanen" ausgeben, sich in manchen Fällen sogar eine erfundene Biographie zulegen, um Geld auf Kosten einer fremden Kultur zu verdienen, halte ich die Bezeichnung "kultureller Betrug" für angemessener.

Im Falle des Neoschamanismus geht es nicht um "kulturellen Diebstahl" (oder auch "kulturelle Urheberrechtsverletzung"), sondern um "Kulturtransfer". Aus meiner Sicht sind auch Meditationstechniken, Schwitzhütten etc. kulturelle Errungenschaften. Und in der Geschichte der Menschheit ist es völlig normal, dass eine Kultur von einer anderen solche Errungenschaften übernimmt.
Hinter dem Vorwurf des "kulturellen Diebstahls" bzw. der "spirituellen Ausbeutung" steht die Vorstellung, dass schamanische Techniken nur den Angehörigen indigener Volksgruppen zukommt, verbunden mit Kritik an der "weißen Gesellschaft", die neben der jahrzehntelangen kolonialistischen und post-kolonialistischen Ausbeutung nun auch eine spirituelle Ausbeutung indigener Völker begonnen habe. Die Vorstellung einer "spirituellen Beraubung" mach meiner Ansicht nur dann Sinn, wenn man davon ausgeht, dass kulturelle Errungenschaften nur einem Volk oder Stamm zustehen. Tendenziell geht das schon in Richtung "völkisches Denken".

Der zweite Teil des Vorwurfs bezieht sich darauf, dass Seiðr von "uns" als "germanischer Schamanismus" dargestellt würde. Mit der Behauptung, dass "schon die alten Germanen" schamanisiert hätten, würden wir schamanistische Praktiken auch dort festzustellen, wo es sie nicht gäbe. Die Ausdehnung des Schamanismus auf die Germanen solle den Nachweis bewerkstelligen, dass man sich ja nur auf traditionellen Pfaden bewege und sich nicht etwa das Kulturgut anderer Völker aneigne.

Zu der Frage, ob es bei "den Germanen" Schamanismus gab, oder ob Seiðr schamanische Praktiken umfasste, kann ich nur sagen: ich weiß es nicht. Es gibt zwar typische schamanische Elemente in Mythologie, etwa den Weltenbaum Yggrasil, allerdings reicht das nicht für pauschale Aussagen wie "bei den Germanen (in welcher Region? Zu welcher Zeit?) gab es Schamanen" oder "von Schmanismus bei den Germanen kann keine Rede sein" aus.

Die Frage ist, in Hinblick auf die von mir praktizierte Form des "schamanischen Reisens" irrelevant - mir ist es egal, ob irgendwelche "Germanen" vor 1500 oder 2000 Jahren dergleichen praktizierten. Schon gar nicht benötige ich den Rückgriff auf "uralte eigene Traditionen", um meine schamanischen Praktiken zu rechtfertigen.

Das heißt, dass die Vorwürfe an mich zwar nicht aus der Luft gegriffen, also substanzlos, sind, aber auf mich - und Menschen, die auf die gleiche Weise mit dem Schamanismus umgehen wie ich - nicht zutreffen.

Donnerstag, 25. Dezember 2008

Jahresend-Moralinsäure

Die "Aktion 3.Welt Saar" fordert Hilfsorganisationen auf, den Appell 'Brot statt Böller' einzustellen.

"Der Aufruf trägt eine gehörige Portion Lustfeindlichkeit zur Schau. Mit seinem Appell an das schlechte Gewissen richtet er zudem politischen Flurschaden an", so Roland Röder, Geschäftsführer der "Aktion 3. Welt Saar".

Ich stehe der Silvesterknallerei mit gemischten Gefühlen gegenüber, und kann Menschen verstehen, die sie z. B. aus Gründen des Unweltschutzes völlig ablehnen. Trotzdem ärgere ich mich über diesen Slogan schon seitdem die Aktion vor über 20 Jahren von der evangelischen Kirchengemeinde in Bargteheide (Kleinstadt in Schleswig-Holstein, zwischen Hamburg und Lübeck) erfunden und wenig später von Brot für die Welt übernommen wurde. Ein Grund für meine Ablehnung ist der auch von Röder erwähnte fehlende Zusammenhang zwischen "überflüssigen Geldausgaben für Silvesterknaller" und dem Hunger in der Welt. Eben so gut könnte man eine Aktion "Brot statt Weihnachtsbäume", "Brot statt Fußball-Bundesliga" oder auch "Brot statt Kirchentage" ausrufen: Weder kausal noch moralisch ist das Eine mit dem Anderen verbunden. Der Slogan "Brot statt Böller" ist kein Deut logischer, moralischer oder hilfreicher, als die Mahnung einer Mutter an ihre Kinder, denen das Essen nicht schmeckt, doch an die armen hungernden Kinder in Afrika zu denken.

Röder folge ich auch darin, dass Hunger ist kein Schicksal ist, sondern gemacht wird. Hunger ist in erster Linie ein Verteilungsproblem, die Nahrungsmittelproduktion der Erde reicht (theoretisch) für alle (Weltagrarbericht).

In seiner Forderung nach Abkehr "von der viel gepriesenen Liberalisierung des Welthandels" mag ich ihm nicht ganz folgen - denn viele, wenn nicht die meisten, Probleme, die er zu recht anprangert, resultieren darin, dass auf dem Agrarsektor von "freien", ganz zu schweigen von "fairem" Welthandel keine Rede sein kann. Es stimmt, die EU-Subventionen für Agrarexporte und der Zwang zur Öffnung der Agrarmärkte vernichten in der 3. Welt jeden Tag Existenzen und sorgen dafür, dass Menschen verhungern. Wobei zu ergänzen wäre: die einseitige Öffnung der Agrarmärkte, denn der EU-Markt ist gegen Agrarimporte gut "geschützt".

Der Erfolg der Kampagne "Brot statt Böller" beruht, wie die Mahnung der Mutter an ihre essunwilligen Kinder, auf einem Appell ans schlechte Gewissen. Was vielleicht das Portemonnaie potenzieller Spender öffnet, jedoch den Blick für Problemlösungen und Verantwortlichkeiten verschleiert. Der Zweck - eintreiben von Spenden - heiligt keineswegs das fragwürdige, an einen "Sündenablass gegen milde Gabe" erinnernde, Mittel.
In ihren Projekten ist "Brot für die Welt" schon lange vom mehr schadenden als nützenden, aber das Gewissen beruhigenden, Almosengeben abgerückt. Schon aus diesem Grund wirkte die Böller-Kampagne von Anfang an wie ein Versatzstück aus dem 19. Jahrhundert.

Es ist meiner Ansicht nach kein Zufall, dass die Aktion von einer evangelischen Gemeinde ausging. Katholiken sind, was Appelle ans schlechte Gewissen angeht, zwar keineswegs zurückhaltender, aber ihre "Lieblingstodsünde" ist der Sex (außer zu Vermehrungszwecken innerhalb einer unauflösbaren heterosexuellen Einehe). Der geflissentliche Verzicht auf alles "Überflüssige" ist in der Tat sehr protestantisch. Beiden großen Konfessionen gemeinsam ist dann wieder der moralinsaure Unterton - die Weihnachtsbotschaften sind dieses Jahr, vom Papst an abwärts, anscheinend wieder besonders moralinsauer geraten.

Aus der evangelischen Kirchenpolitik ergeben sich z. B. für Silvester paradoxe Konsequenzen: Einerseits wird den evangelischen Christen geraten, von ganzen Herzen Silvester zu feiern - schließlich sind mit beiden Beinen im Leben stehende Lutheraner ja keine säuertöpferischen Puritaner. Aber bitte ohne Geld für Feuerwerk und Luftschlangen zu verschwenden, möglichst auch ohne unangemessenen Lärm, ohne Alkohol und ohne üppiges Essen. Abergläubisches Tun wie Bleigiessen, Neujahrshoroskope oder das Lichtorakel sind ebenfalls zu unterlassen.
Das Erstaunliche dabei ist nicht, dass kaum jemand an so einer "moralisch korrekten" Feier Spaß hat. Erstaunlich ist auch nicht das schlechte Gewissen vieler evangelischer Christen, die "unkorrekt" feiern.
Erstaunlich ist eher, dass evangelische Kirchenfunktionäre anscheinend den Eindruck haben, keineswegs lustfeindlich oder hypermoralisch zu sein.
Die katholische Kirche ist traditionell weit weniger feier- und ritualfeindlich. Dafür hat sie, gewissermaßen als Ausgleich, ein ausgeklügeltes System von Sünden und Absolution im Angebot - und vertritt weitaus energischer ihren Anspruch darauf, die höchste Instanz in allen Moralfragen zu sein.

Sonntag, 19. Oktober 2008

Dualismus

Ich schrieb in meinem Artikel Wie Schäuble wirklich denkt ... , dass mir die strickt dualistische Weltsicht unseres Innenministers unheimlich ist.

Dualismus dieser Art, ein starker, moralischer Dualismus, ist eine Weltsicht, in dem "gut" und "böse" klar voneinander geschieden sind, in dem Zwischentöne allenfalls als "Halbheiten" wahrgenommen werden, und in dem Ambivalenzen einfach nicht vorgesehen sind. Also kein Dualismus im Sinne des Substanzdualismus (die Existenz von materiellen und immateriellen Substanzen), sondern ein moralischer Dualismus im Sinne Thomas Hydes (1636–1703), der unter "Dualismus" die (religiöse) Überzeugung verstand, dass es ein gutes ("Gott") und ein böses ("Teufel") übernatürliches Wesen gibt - und davon abgeleitet eine Moral, in der es "das Gute" und "das Böse" gibt, und alles, was nicht "gut" ist, automatisch dem Bereich des "Bösen" zugeordnet wird. Weder in der jüdischen Bibel noch in den Evangelien ist dieser Dualismus angelegt - im Gegenteil, der Satan ist als dem einzigen Gott untergeordnet dargestellt, er handelt in seinem Auftrag, seine Funktion ist die der Anklägers und die des Prüfers. Im (religiösen) Dualismus ist der Satan hingegen "der Widersacher", ein zweiter, negativer "Gott", die die Macht Gottes permanent herausfordert. Nur in der "Offenbarung Johannis" ist ansatzweise ein Dualismus erkennbar. Das Weltbild, in denen die Mächte "des Lichts" und die "der Finsternis" im äonenlangen Kampf liegen, stammt ursprünglich wohl aus dem Manichäismus. Ich teile die Ansicht, dass der "Kirchenlehrer" Augustinus, ein ehemaliger Manichäer, auch als Christ vom Manichäismus (gegen den er heftig polemisierte) beeinflusst gewesen ist. Manichäisches, bzw. gnostisches Gedankengut im Christentum ist, neben dem starken moralischem Dualismus, die Fegefeuerlehre (katholische Kirche), die Höllenlehre, die Erbsündenlehre, die Lehre der Prädestination (vor allem in reformierten Kirchen) und wahrscheinlich auch die auch im Kontrast zum Judentum ausgeprägte Körper- und Sexualfeindlichkeit.

Herr Schäubles Schwarzweißdenken ist, denke ich, sittenchristlich geprägtes dualistisches Ausschlußdenken. Ein Denken, das für Denkfehler, die nur in Boulevardkomödien amüsant sind, höchst anfällig ist: "Hey, hübscher Pullover, den du da anhast!" – "Kreisch! Jammer! Was hast du gegen meine Hose!?"

Ein anschauliches Beispiel für tief augustinisches dualistisches Ausschlußdenken gibt dieser Artikel, den ich (über einen Umweg übers Brights Blog) auf RP-online fand: Was glaubt, wer nicht glaubt
Darin heißt es:
Wer über Atheisten spricht, redet noch über eine Minderheit. In Zahlen heißt das: Im Jahre 2005 war jeder dritte Deutsche ohne Konfession. Doch die Entwicklung der vergangenen 15 Jahre macht eine Umkehrung der Verhältnisse in absehbarer Zeit wahrscheinlich. Denn 1990 bezeichneten sich bloß 22,4 Prozent der Deutschen als ungläubig.

Und so prognostizieren mittlerweile etliche Gesellschaftsforscher, dass schon 2025 die Mehrheit der Deutschen keiner der beiden christlichen Volkskirchen angehört und mit dem Glauben nichts mehr zu tun haben wird.
Daran ist ungemein auffällig, dass in dem Artikel (wahrscheinlich ohne das es dem Autoren bewusst gewesen wäre), die Nichtzugehörigkeit zu einer der beiden "christlichen Volkskirchen" mit "Konfessionslosigkeit" und diese wieder mit "ungläubig sein" bzw. atheistisch gleichgesetzt wird.

Nun ist es aber so, dass eine große Vielfalt an religiösen, spirituellen und weltanschaulichen Ansichten längst zu einer gewissen gesellschaftlichen Normalität geworden ist. Außer Christen unterschiedlicher Konfession (von denen es weit mehr als nur die beiden von der Steuerkarte her bekannten gibt) leben in Deutschland Muslime, Juden, Buddhisten, Taoisten, Hindus, Esoteriker (unterschiedlichster Couleur), Neuheiden (von Asátrú bis Wicca), Scientologen, Satanisten usw. usw., daneben selbstverständlich zahlreiche Freidenker und Agnostiker, religös Indifferente und sicherlich auch viele Atheisten. Und natürlich auch alle möglichen bis unmöglichen Mischformen (im Extremfalle sogar vereint in einer einzigen Person).

Interessanterweise wirft der Artikel, dabei Ralph Bergold, Leiter des Katholischen Instituts in Bad Honnef, paraphrasierend, dem "neuen Atheisten" eine gewissermaßen denunziatorische Haltung vor, um dann den "Glauben der nicht Gläubigen" zu denunzieren:
Bei all dem gibt es zwar Spuren eines neuen Interesses am Religiösen, freilich ohne das neue Interesse an Gott. Gewünscht wird eher eine Spiritualität als Wohlfühl-Medium, die „ein Stück weit“ einfach nur gut tut wie der frisch gebrühte Kaffee am Morgen.
Ich kenne in der Tat Menschen, vor allem solche mit esoterischer Weltsicht, die sich mit sanft-unverbindlicher "Morgenkaffeespiritualität" begnügen. Ich kenne aber noch mehr, denen jede Form von Spiritualität und Religiösität schnuppe ist. Daneben gibt es, gerade bei den an "östlichen Religionen" Interessierten, aber auch bei Naturreligiösen bzw. Neuheiden (und ganz sicher in der Nornirs Ætt) eine Form der Spritualität, die in etwa dem entspricht, was Fulbert Steffensky "Schwarzbrotspiritualität" nennt. An Schwarzbrot hat man mehr zu kauen als an Esoterik-Müsli, Theosophie-Eintopf, (traurigem) Tantriker-Toast, "Lebenshilfe"-Fertiggerichten - aber auch den trockenen Oblaten eines unkritischen Christentums. Es ist aber auch nahrhafter und hält lange vor. Die Asátrú-Version der "Schwarzbrot-Spritualität" ist, zumindest in der Nornirs-Ætt-Variante, eine dick mit Wurst oder Käse belegte, und je nach Tageszeit mit starkem Kaffee oder kühlem Bier heruntergespülte. Denn trockene Spiritualität, ohne Freude und Ekstase, ist auf die Dauer so unbefriedigend wie trockenes Brot ...
Zurück zum Artikel:
Wer aber nicht an einen Gott glaubt, der kennt folglich auch keine Verantwortung vor Gott – wie sie in der Präambel des deutschen Grundgesetzes geschrieben steht. Mit dem Gottesbegriff allerdings ist auch die Begründung von Moral verknüpft.
Offensichtlich kann oder mag sich Bergold eine von religiöser Letztbegründung - bzw. göttlicher Offenbarung unabhängige Moral nicht vorstellen. Die gibt es aber - z. B. im Humanismus. Moralisch zu handeln ist zum Beispiel vernünftig.
Weiter:
Nun meint Glauben weniger die Gewissheit darüber, dass die Welt in sechs Tagen erschaffen wurde; vielmehr sind Glaubensaussagen, so Bergold, immer auch Lebensorientierungen, die etwas „über den Stand des Menschen in der Welt“ sagen. Gerade vor diesem Hintergrund nimmt das wachsende Glaubensloch inmitten unserer nach wie vor christlich geprägten Gesellschaft schon jetzt bedrohliche Ausmaße an.
Diese Aussage ist nur dann sinnvoll, wenn man stillschweigend annimmt, dass ein "Glaubensloch" auch ein Ethik- bzw. Moral bzw. Werteloch impliziert.
Dass Fragen bleiben, ist der Vorteil der neuen Debatte: Fragen danach, was vom Abendland bleibt, wenn es nicht mehr christlich ist. Müssen dann neue Werte erfunden werden? Heißt Atheismus auch Amnesie? Und was ist der Mensch ohne metaphysische Beheimatung?
Meine Antworten auf diese Fragen: Vom "Abendland" blieben, wenn es nicht mehr christlich ist, immer noch Demokratie, Humanismus, Aufklärung, industrielle Revolution, "offene Gesellschaft", Gleichheit, Gewaltenteilung, Religionsfreiheit, über 2500 Jahre Philosophie, Kunst, Wissenschaft und noch viel mehr. Es würde nur eine Komponente von den vielen fehlen, die zusammen das "Abendland", "den Westen" ausmachen. Andere - fast alle anderen! - sind aus meiner Sicht wichtiger. Ein "Westen" mit Christentum, aber etwa ohne Bürgerrechte kann mir gestohlen bleiben!
Nein, es müssen keine neuen Werte gefunden werden.
Nein, Atheismus heißt nicht Amnesie. (Neben: Wie kommt man auf so eine Frage?)
Was ist der Mensch ohne metaphysische Beheimatung ist, kann ich für "den Menschen" nicht sagen. Ich kann nur sagen, dass jemand, der nicht an den Christengott glaubt, dadurch nicht metaphysisch heimatlos wird. Ich kann sogar sagen, dass jemand, der an gar keine Götter glaubt, nicht notwendigerweise keine metaphysische Beheimatung hat. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sehr viele Menschen problemlos und mit funktionierender Ethik, intakter Moral, ausgeprägtem Gewissen und entwickeltem Wertesystem auf jede Metaphysik dankend verzichten können.

Nun ist es so, dass eine kritisch-rationalistische Einstellung zu den Grundfragen des Lebens fast zwangsläufig zum Agnostizismus führt. Kommt ein ausgeprägt materialistisches Weltbild hinzu, ist die Hinwendung zum Atheismus fast unvermeidlich.
Das könnte die wachsende Zahl der Agnostiker und Atheisten erklären. Da ich eine kritisch-rationalistische Einstellung sehr begrüße, vermag ich in dieser Entwicklung keine Gefahr sehen. Allerdings hege ich den Verdacht, dass die meisten Atheisten das ebenso wenig aus eigenem Entschluss geworden sind, wie die meisten Kirchenmitglieder bewusst in die Kirche eintraten.

Anderseits zieht eine spirituellen Herangehensweise fast genauso zwangsläufig eine unkritischere Betrachtung, beispielsweise von moralischen Fragen, nach sich. Besonders auffällig ist das bei Menschen, die eine mystische Erfahrung gemacht haben.

Ich betone dabei das Wört "fast". Nur in einem streng dualistischen Weltbild schließt kritisches Bewusstsein "Glauben", Religion, Spritualität aus - und umgekehrt.

Ausgemachter Unsinn ist übrigens der (alte) Witz, mit dem der Artikel der "Rheinischen Post" endet:
Ein Witz markiert diesen Wert der neuen Auseinandersetzung. Frage: Warum nerven Atheisten eigentlich so? Antwort: Weil die dauernd über Gott reden.
Ich kenne einige Atheisten - darunter ist keiner, der der überhaupt "von Gott" reden würde, geschweige denn dauernd.
Vielleicht ist der Autor des Artikels so sehr in der augustinischen dualistischen Gedankenmatrix gefangen, dass er sich einen Atheisten gar nicht richtig vorstellen kann ...

Donnerstag, 16. Oktober 2008

Palins "Hexenjäger" lügt

Ein kenianischer Geistlicher, der die US-Vize-Präsidentschafts-Kadidatin Sarah Palin mittels Gebet vor Hexen schützen will, wird in seiner Heimat kritisiert: der wichtigste "Beweis" seiner Kräfte - er behauptete, eine böse, zaubernde Frau aus der Stadt verjagt zu haben - ist falsch.

telegraph.co.uk: False claims exposed of Kenyan pastor who protected Sarah Palin from witches.

Mehr zu diesem bizarrem Fall im Gjallarhorn.

Donnerstag, 2. Oktober 2008

Gedanken über Magie (2)

"Wir sagen und Ich meinen ist eine von den ausgesuchtesten Kränkungen" (Theodor W. Adorno, Minima Moralia)
Es mag merkwürdig anmuten, einen Beitrag über Magie mit dem Zitat eines Mannes einzuleiten, der ein ausgewiesener Gegner des magischen Denkens und des Okkultismus - heute würden wir wohl sagen: der Esoterik - war.
Weitaus gewöhnlicher, auf alle Fälle klischeegerechter, wäre es sicherlich gewesen, wenn ich ein Zitat Aleister Crowleys gewählt hätte. Über Crowley erschien ja vor kurzem ein guter und vor allem sachlicher und fairer zweiteiliger Artikel von Hans Schmid auf "telepolis": Der böseste Mann von der Welt: Aleister Crowley und die Schrecken der Magie. Schmid entlarvt viele Klischees über den Magier, Literaten und Exentriker, aber vernachlässigt meines Erachtens einen wichtigen Punkt: Crowley war ein begnadeter Hochstapler. Dass er sich falsche Titel zulegte und unhaltbare Behauptungen über sich in die Welt setzte, geht zwar aus dem Artikel hervor, nicht aber, wie Crowley sich selbst inszenierte und wie er Anhänger und Gegner aufs Glatteis führte.

Bei allen Hochstapeleien, Betrügereien und Lügen Crowleys fällt allerdings auf, dass er vor einer Form der Wahrheitsverdrehung zurückschreckte: Vor der "ausgesuchten Kränkung", "wir" zu sagen und "ich" zu meinen, die Adorno erwähnt. Auf seine Art und Weise war Crowley, so manipulativ er auch war, "anständig".

Wobei es einen erheblichen Unterschied macht, welches "wir" sich jemand, der dabei "ich" denkt, gerade gemeint ist: Maßt sich derjenige an, für eine Gruppe zu sprechen, oder, was schlimmer ist, schafft er künstlich einen "Wir"-Begriff, in den er sein Publikum einbezieht? Für letzteres, eine klassischer demogogischer Kniff, sind viele Schlagzeilen der "Bild" (und vergleichbarer Medien) ein gutes Beispiel, man kann "wir", "ganz Deutschland", "alle", "der Bürger" usw. mühelos durch "die Bild-Redaktion" ersetzen. Misstrauen ist dringend geboten, wenn ein Politiker von "wir" spricht und dabei sein Publikum einbezieht.

Zurück zu Crowley: Crowley war ein "Poser", jemand, der "dick auftrug", auf "dicke Hose machte", sich übertrieben selbst in Szene setzte, provozierte: Schein und Sein stimmen nicht überein.
Aber: Hinter seiner "großen Klappe" war etwas, und zwar nicht wenig: umfangreiches Wissen, schriftstellerisches Talent und vor allem der Spaß daran, Dinge einfach auszuprobieren. War er ein Magier? Ja. Allerdings darf man nicht fälschlicherweise "magisch" mit "übernatürlich" gleichsetzen.

Darüber, was ich unter "Magie" verstehe, habe ich in Gedanken über Magie (1) etwas geschrieben.
Eine gute Definition, was Magie wirklich ist, stammt von Dion Fortune:
Magie ist die Wissenschaft und Kunst, das Bewusstsein willkürlich zu Verändern.
Magie ist mehr als die Anwendung einiger "Psycho-Techniken" - und schon gar nicht besteht sie darin, psychologische Tricks mit imponierendem esoterischem Jargon aufzubrezeln. Magie - oder "Magick", wie Crowley schrieb, um sie von den Tricks von "Zauberkünstlern" auf Partys oder Bühnenmagiern abzugrenzen - ist im wesentlichen eine Sichtweise, eine bestimmte Perspektive. Ein anderer Blick auf die Welt, ein Blick, um die Dinge nicht nur anzuschauen, sondern zu durchschauen. Wie Hermann Ritter schrieb:
Wenn Magie etwas erreichen soll, dann darf ich mir nicht überlegen, was ich beherrschen, kontrollieren, verändern, beeinflussen oder manipulieren will. Es geht im ersten Schritt nur darum, etwas anders zu sehen, etwas wirklich zu sehen, etwas ganz zu sehen.
(Hermann Ritter "Naturspiritualität heute". Lüchow-Verlag, 2006)

Diese "andere Sichtweise" ist nicht mit dem magischen Denken im psychologischen Sinne zu verwechseln. Ein klassisches Beispiel für "magisches Denken" in diesem Sinne äußert sich in dem Kind, das sich dadurch zu verstecken glaubt, dass es die Hände vor die Augen hält. Diese Art magisches Denken findet sich erstaunlich oft in der Politik und besonders ausgeprägt bei den größten Feinden der Magie, den Fundamentalisten.
Das entscheidende Merkmal des Fundamentalismus, mit dem sich dieser von anderen Formen des Fanatismus und des ideologischen Denkens abgrenzen lässt, ist der feste Glaube an die buchstäbliche Unfehlbarkeit der jeweilige "heiligen Schrift" und die unbeirrbare Gewissheit, dass die "heilige Schrift" keinen Irrtum enthalten könne. Dabei kann die "heilige Schrift" durchaus eine "weltlichen" Schrift oder Überlieferung sein - es gibt durchaus marxistische Fundamentalisten. Was es hingegen nicht gibt, sind Aufklärungsfundamentalisten - auch der Begriff eines "fundamentalistischen Darwinisten" ist falsch, ein streitbarer Darwin-Anhänger kann allenfalls dogmatisch sein (das ist so, weil Darwin ausdrücklich eine Theorie gemäß dem seinerzeitigem Wissensstand beschrieb - und keine "endgültige Wahrheit"). Fundamentalisten kennen genau zwei Arten, die Welt zu sehen, eine "richtige" (die ihre) und eine "falsche" (aller, die die Dinge anders sehen als sie). Dieses streng dualistisches Konzept, in dem die wenigen "Guten" im Kampf gegen die Schlechten, das "Böse" (Andersgläubige, Andersdenkende) stehen, ist nicht nur hochgradig anfällig für bizarre Weltverschwörungstheorien, mit denen "erklärt" wird, warum "die Bösen", die schließlich Gott (oder die Gesetze der Geschichte usw.) gegen sich hätten, immer noch so "mächtig" sind, sondern auch für "magische" Erklärungsmuster, etwa in dem Sinne, dass "sündiger Lebenswandel" oder schon "falsche Gedanken", allein durch ihre Existenz "das Böse" - das religöse Fundamentalisten oft als "der Teufel" personalisieren - stärken. Fundamentalistisches Denken steht sowohl der historisch-kritischen, wie der mythischen wie auch der allegorischen Auffassung "heiliger Schriften" entgegen.

Mythen sind aber der "Schlüssel zur Magie". Ein Magier versteht es, willentlich mythisch oder kritisch-rational denken, fühlen, wahrnehmen zu können. Für einen Magier gibt es unzählige Möglichkeiten, die Dinge zu sehen. Ein modernes Beispiel dafür, die Welt quasi magisch zu sehen, ist die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik - wobei vermutlich zahlreiche Physiker empört bestreiten werden, "Magier" zu sein. Es ist auch kein Zufall, dass Bruchstücke der Quantenphysik in den "esoterischen Jargon" Eingang gefunden haben - leider meistens ohne deren Bedeutung wirklich zu verstehen, und oft genug ins "magische Denken" (im Sinne des kindlichen Wunschdenkens) abgleitend. Allzu viele Esoteriker meditieren sich ganz entspannt am Leben vorbei, Ziel eines Magiers sollte sein, gut geerdet im Leben zu stehen.

Ein schönes Beispiel für die "magische Sicht" der Welt gibt Andreas Stadelmann mit seiner Visionsuche.

Samstag, 27. September 2008

Ein Gedankenexperiment (2)

Unsere europäische Kultur ist in Jahrhunderten gewachsen und lebt von tragenden Werten. Im Bild gesprochen sind es vier Hügel, in denen unsere europäische Identität wurzelt: Der Areopag in Athen mit den griechischen Idealen von Freiheit und Demokratie; das Kapitol in Rom mit dem klassischen Ideal von Recht und Gerechtigkeit; der Sinai mit dem Dekalog und der Bundesweisung Gottes; und schließlich der Berg Kalvaria in Jerusalem, auf dem Jesus Christus für uns in den Tod ging und bis heute zeigt, dass Liebe und Solidarität größer sind als alles, was wir uns ausdenken und erfinden können.

Unsere abendländisch christliche Kultur hat die tragenden Ideen und Werte der Antike aufgenommen und integriert. Durch Jesus Christus und sein Evangelium erhielten sie ein neues Vorzeichen. Solidarität und Nächstenliebe machen Freiheit, Recht und Gerechtigkeit zu wahrhaft menschlichen Werten.
(Aus dem Vortrag des Erzbischofs Zollitsch, dem ich auch die Anregung zu meinem Gedankenexperiment verdanke.)

Dabei mag dahingestellt sein, ob die Hinrichtung Jesus am Berg Kalvaria wirklich zeigte, dass "Liebe und Solidarität größer sind als alles, was wir uns ausdenken und erfinden können", ganz zu schweigen davon, dass es fraglich ist, dass das Christentum die Ideale der Antike zu "wahrhaft menschlichen Werten" transformiert hat.
Fraglich auch, ob die großen Errungenschaften jüdischen Denkens für die moderne Demokratie, nämlich die Gleichheit vor dem Gesetz und der Universalismus der Werte, schon zur Zeit der Niederschrift der Thora formuliert waren. Allerdings sieht Zollitsch nicht diese Werte, sondern die "10 Gebote" als konstituierend an - wobei einzig das Bekenntnis zum Monotheismus und das Bildverbot diese Gesetze von anderen antiken Gesetzessammlungen abhob (und mit beidem hat es gerade die katholische Kirche nie sonderlich genau genommen).

Als "Wurzeln" der westlichen Staatsordnung sehe ich die Gleichheit vor dem Gesetz (altes Israel), die Demokratie (Athen) und den Rechtsstaat (Rom). Hinzu kämen Parlamentarismus / repräsentative Demokratie (Island), die föderative Staatsordnung (Perserreich) - und eine ganze Reihe "neuer Werte", die erst während der Aufklärung, den Revolutionen der Neuzeit und später formuliert wurden, man denke an die Pressefreiheit oder die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Wichtig ist auch, dass viele dieser Werte gegen den Widerstand der Kirchen erkämpft worden, so auch die Religionsfreiheit. (Die negative Religionsfreiheit schützt den Einzelnen vor den Ansprüchen der vorherrschenden Religion bzw. ist das Recht des Einzelnen, von der Religion in Ruhe gelassen zu werden, die positive Religionsfreiheit schützt religiöse bzw. weltanschauliche Minderheiten.)

Wie sähe die Welt heute aus, wenn es kein Christentum gäbe?

Religion ist immer ein unvorhersehbarer Faktor, und auch in der Geschichte ist der Einfluss der Religion weitaus schwerer abzuschätzen als etwa ökonomische Faktoren, Umweltbedingungen oder kulturelle Einflüsse, denn Religion ist ihrem Wesen nach irrational. Es ist schwierig, in der Religionsgeschichte "harte Fakten" zu finden. Man kann ziemlich sicher sein, dass Amerika auch ohne Columbus früher oder später europäisch Kolonisiert worden wäre, aber es ist einfach nicht möglich, zu entscheiden, ob es so etwa wie das Christentum gegeben hätte, wenn Pilatus auch nur die geltenden römischen Gesetze etwas gewissenhafter ausgelegt hätte, oder vielleicht etwas mehr politisches Augenmaß oder gar mehr Gerechtigkeitssinn gehabt hätte. (Denn dann hätte die Kreuzigung nicht stattgefunden. Es ist auch sehr fraglich, ob im Falle einer Hinrichtung Jesus durch jüdische Autoritäten, also durch Steinigung, es heute einen "Steinhaufenstreit" anstelle des "Kruzifixstreits" geben würde.)

Die Folgen für das römische Reich, hätte es das Christentum nicht gegeben, wären eher marginal geblieben, nach Konstantin I. wäre wahrscheinlich der Kult des "Sol Invictus", eine "romanisierte" Variante des Mithraismus, Staatsreligion geworden bzw. geblieben. (Das wir heute nicht am Samstag - Sabbat - den Ruhetag haben, ist ebenso ein Erbe der mithraistischem Phase Roms, wie das große Jahresfest des "Sol Invictus" am 25. Dezember. Die frühen Christen maßen dem Geburtsfest Jesu keine große Bedeutung bei, erst im 3. Jahrhundert wurde es überhaupt begangen, und zwar am 6. Januar.)
Die Unterschiede zwischen dem stark synkretistischen Mithraismus, der andere Götter durchaus zuließ, wären zunächst nicht zutage getreten, das weströmische Reich wäre wohl ebenso untergegangen. Anderseits ist es unwahrscheinlich, dass ohne das Christentum der Islam hätte entstehen können - und noch unwahrscheinlicher, dass er sich in einem rein "heidnischen" Nordafrika und Kleinasien so leicht hätte ausbreiten können.

Bestimmt hätten in einer Welt ohne Christentum heute andere Religionen den Platz des Christentums (und des Islams) eingenommen. Vielleicht wären das der
Mithraismus
, der Odinismus und der Soterismus gewesen, wie Lyon Sprague de Camp in seiner Alternativweltgeschichte "Aristotele and the gun" vorschlug. (Der Soterismus wäre eine ägyptisch-hellenistische Synthese gewesen, gegründet von einem glühenden ägyptischen Propheten, dessen Anhänger ihn mit dem griechischer Wort für "Erlöser" bezeichneten.)
Oder der Buddhismus hätte sich "im Westen" durchgesetzt, wie Arnold J. Toynbee spekulierte.

Die Annahme, Europa wäre ohne Christentum "geistig primitiv" geblieben, ist schlicht falsch ist. Ein Blick nach Fernost, z. B. nach Japan, widerlegt diese europazentrierte Annahme sofort.

Die Annahme, Europa wäre ein sich in blutigen Stammeskriegen verzehrende Region geworden, entbehrt jeder Grundlage. Vielleicht wäre Europa tatsächlich heute noch stärker durch Stammesdenken geprägt, und mit Stämmen lässt sich in der Tat "kein Staat" machen (was z. B. das "Nation Building" in Afghanistan so schwer macht). Aber "blutige Stammesfehden" sind ein Klischee - und die europäische Geschichte wurde erst mit der Bildung der Nationalstaaten so richtig blutig. Auf die "Völkerwanderung" hatte das Christentum noch wenig Einfluss, ich nehme daher an, dass es, schon durch die Übernahme römischen politischen Denkens, zur "germanischen Staatenbildung" auf zuvor weströmischem Gebiet gekommen wäre, und später die Staatenbildung in Nord- und Osteuropa gefolgt wäre.

Es kann durchaus sein, dass der Einfluss des Judentums in einem "heidnischen" Europa größer gewesen wäre, als in einem christlichen Europa, dass seine "jüdischen Wurzeln" eher verdrängte und den Juden in der Regel eher feindselig begegnete. Daher könnten jüdische Ideen, wie die der Nächstenliebe oder die der Gleichheit vor dem Gesetz, in einem "Europa ohne Christentum" weitaus weiter verbreitetet sein, als in unserer Welt. Wobei die Idee der Gleichheit vor dem Gesetz nicht zwangsläufig auf die Idee der Gleicheit aller Menschen vor dem einzigen Gott zurückgeführt werden muss.
Es ist aber meiner Ansicht nach unwahrscheinlich, dass das Judentum die dominante Religion Europas geworden wäre.

Es ist außerdem sehr wahrscheinlich, dass es in einem heidnisch-polytheistischem oder in einem buddhistischen Europa weniger Religionskriege gegeben hätte - wenn überhaupt. (Religionskriege wären aber dann möglich gewesen, wenn z. B. der Polytheismus sich nach dem Muster des Hinduismus entwickelt hätte - in einem mithraistischem Europa eine meiner Ansicht nach eine recht wahrscheinliche Entwicklung. Anderseits wäre die Entwicklung des Hinduismus ohne die Konfrontation mit dem Islam und später dem nominell christlichen britischen Imperialismus anders verlaufen.)

Ansonsten ist ein "Europa ohne Christentum" ein reizvoller Stoff für Alternativweltgeschichten.

Mittwoch, 10. September 2008

Ein Gedankenexperiment (1)

Ein weiteres meiner Gedankenexperimente.
Wer sich auf das Gedankenexperiment einlässt, sämtliche Spuren des Christentums aus unserer europäischen Kultur zu tilgen, der wird sich schnell vor einem toten Gerippe oder einem seelenlosen Gehäuse wieder finden.
Erzbischof Zollitsch: Von welchen Werten lebt Europa?.

Dieses Gedankenexperiment ist nicht ganz einfach durchzuführen, weil die christlichen Kirchen ähnlich vorgingen wie heute "Microsoft": sehr viel, das ursprünglich nicht zum Christentum gehörte, wurde in den "Konzern" eingegliedert und mit dem "Firmenlogo" versehen. Selbst die Aufklärung, die teilweise gegen die organisierte Religion und stets gegen die Vorherrschaft der Kirchen im Geistesleben gerichtet war, wird heute von nicht ganz unwichtigen Kirchenvertretern, als "christlich" etikettiert. Zum Beispiel vom einem gewissen Joseph Ratzinger, dessen Titel "Pontifex Maximus" lange vor Christus im römischen Reich der eines sakralen Beamter war (was nicht genau das selbe wie ein Priester ist) - und zwar der Vorsitzende des Pontifikalkollegiums, das die religiösen Zeremonien organisierte. Später ging der Titel auf die römischen Kaiser in ihrer religiösen Funktion über. Dieser Papsttitel ist damit ein gutes Beispiel für eine ins (römisch-katholische) Christentum übernommene heidnische Tradition.

Nun wäre es sicher nicht ganz richtig, mit Karlheinz Deschner lapidar zu sagen: "Alles, was am Christentum nicht jüdisch ist, ist heidnisch". Damit meine ich nicht die Elemente der Gnostik und des streng dualistischen Manichäismus, die in das Christentum eingingen und es entscheidend prägten, sondern die eigenständige geistige Kultur, die sich sich im Laufe der Jahrhunderte auf diesen Grundlangen herausbildete. Die Theologie z. B. eines Thomas von Aquin ist nur vor dem Hintergrund eines jahrhundertelang praktizierten Christentums denkbar. Es gibt originär christliche Züge im der heutigen "westlichen" Kultur, die sich ohne Christianisierung schwerlich hätte entwickeln können. Vielleicht gehört indirekt sogar die Aufklärung dazu, denn ohne religiös begründete Unmündigkeit, ohne Herrschaft mittels und durch die geistliche Hierarchie, ohne Inquisition und Religionskriege hätten sich Humanismus und Aufklärung sicher anders entwickelt, vielleicht auch nie, auch wenn man sich hüten sollte, Humanismus und Aufklärung als bloße Gegenbewegungen zu verstehen.
„Dass die Ideen der Menschenwürde und der Menschenrechte christliche Wurzeln hätten, ist ein gern geglaubtes Märchen."
Herbert Schnädelbach

Ich teile die Ansicht, dass sowohl die Philosophie, ausgehend vom Griechenland der Antike, wie auch die jüdische Tradition einen deutlich größeren Beitrag zur Herausbildung moderner zivilisatorischer Werte geleistet als das Christentum.

Wie wurde das Christentum "Weltreligion"?
Eine nicht nur unter gläubigen Christen weit verbreitete Annahme ist, dass das Christentum quasi naturnotwendig die älteren, heidnischen Religionen ablöste. Die neuen religiösen Elemente des Christentums hätte sich gegen die Missstände der römischen Antike, wie Sklaverei und die menschenverachtende Gladiatorenkämpfen, aber auch die krasse soziale Ungleichheit und die Vergötterung des Staates gewandt. Das römische Imperium wäre zwar ein wegweisende Modell für einen auf abstrakte Werte gegründeten Vielvölkerstaat mit Ansätzen zum Rechtsstaat gewesen, aber letzten Endes wäre es durch Gewalt und Unterdrückung der Völker zusammengehalten worden. Es fehlte eine völkerverbindende Idee. Das Christentum erwies sich nicht nur als die universale, verbindende Idee, die Rom fehlte, es hätte auch die erwähnte Misstände abgeschafft (wie die Gladiatorenkämpfe) oder zumindest gelindert. Die Zeit war reif für das Christentum.
Ein Ansicht, wie sie z. B. Bernd Ehlert in seinem Aufsatz Der Denkfehler und die Inhumanität der „Neuen Atheisten“ um Richard Dawkins Vertritt.
Mit seiner völkerübergreifenden Nächstenliebe stößt das Christentum genau in diese Lücke und Notwendigkeit hinein, die sich durch die Entwicklung der Menschheit aufgetan hat.
Nun bedeutet "Entwicklung" nicht dasselbe "Höherentwicklung", geschweige denn "Unaufhaltsamer Fortschritt". Es mag gestimmt haben, dass Constantin I. im Christentum ein "einigendes Band" für das Imperium sah, nachdem er es zunächst mit dem Kult des "Sol Invictus" probiert hätte. Die Gladiatorenkämpfe bleiben, auch nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war, das ganze 4. Jahrhundert über sehr beliebt, im Jahre 365 wurden nicht etwa die Gladiatorenkämpfe, sondern nur die Beteiligung von Christen an diesen Kämpfen verboten. Die Sklaverei blieb unter den christlichen Kaisern unangetastet, und die Verarmung der Massen ging ebenfalls weiter.
Der "Aufstieg des Christentums" war auf eine ganze Reihe von Faktoren zurückzuführen. Es stimmt z. B. tatsächlich, dass die frühen Christen das Gebot der Nächstenliebe sehr ernst nahmen, im Gegensatz zu den meisten Mysterienkulten, bei denen das frühe Christentum ansonsten sehr viele "Anleihen" machte. Es war relativ einfach, Christ zu werden - im Gegensatz wiederum zu den Mysterienreligionen und auch dem Judentum. Nicht zuletzt hatte das Christentum den meisten konkurrierenden Gemeinschaften ein imponierendes Schrifttum (wenn auch größtenteils jüdischer Herkunft) und die zugleich Furcht erregende wie - für die Anhänger Christi - Hoffnungen auf eine bessere Welt erweckende Doktrin des nahen "jüngsten Tags" voraus. Als das Ende der Welt ausblieb, blieb die noch furchterrengendere Doktrin der "ewigen Verdammnis".

Ich bestreite gar nicht, dass das Christentum einen humanistischen Kern hat, der letzten Endes auf das Judentum zurück geht: Er ist die Vorstellung der Liebe eines Gottes, die nicht "Übermenschen", sondern ganz gewöhnlichen fehlbaren Individuen mit allerhand Macken und Fehlern gilt. Wobei auch die Bibel ihr gerüttelt Maß an von Gott geliebten "Übermenschen" hat - und auch Beispiele, in der Gott ohne nachvollziehbaren Grund jene "schwer prüft" die ihn lieben. Der humanistische Kern ergibt sich also nicht automatisch aus der Bibel, sondern aus dem Prinzip, dass der Mensch ein autonomes Wesen ist, das sich aus freiem Willen zur Befolgung der von Gott gegebenen Gebote entschließt. Dieser Humanismus, der den freien Willen in den Mittelpunkt stellt, ist nicht auf die monotheistischen Religionen beschränkt. Er kann auch von Polytheisten und sogar von Atheisten praktiziert werden - etwa in dem Sinne, dass "göttliche Gebote" aus Vernunftgründen akzeptiert werden.
In der Kirchengeschichte des "Abendlandes" war (und ist) dieser ursprünglich jüdische Humanismus allerdings eher die Ausnahme, weitaus häufiger wurde mit der göttlichen Strafe jene gedroht, die sich nicht getreu an die religiösen Gebote - die fast immer Verbote sind - hielten.

Der Humanismus der frühen Neuzeit war hingegen ein bewusster Rückgriff auf Antike, ihre Philosophie und ihre Werte.

Humanismus und Aufklärung erwuchsen nicht aus dem Christentum heraus, und schon gar nicht aus kirchlichen Traditionen, allerdings gingen aus dem Judentum übernommene christliche Vorstellungen in den Humanismus und teilweise auch die Aufklärung ein.
Ich bin der Ansicht, dass es auch ohne Christentum den Humanismus geben würde, und vielleicht auch eine Art Aufklärung. Ohne das Erbe der (heidnischen) Antike wäre beides nicht denkbar gewesen.

Neben dem "Erbe der heidnischen Antike" wird das "christliche Abendland" von jüdischen und islamischen Einflüssen geprägt.
Alan Posener schrieb vor einigen Wochen einen sehr lesenswerten Artikel über eine Tagung auf Schloss Elmau, die sich mit Juden und Muslimen im christlichen Europa vom Mittelalter bis heute befasste: "Du musst dich entscheiden, ob du für Araber oder für Juden bist". Er endet mit den Worten:
(...) Eine Selbstkritik, die es verbietet, von einer "judäo-christlichen" Identität Europas zu sprechen, weil im Bindestrich so viel Misstrauen und Leid versteckt wird. Das "Meisternarrativ", die Große Erzählung dieses Kontinents, so viel wurde in Elmau deutlich, wird nicht nur von Christen, sondern auch von Muslimen und Juden - und Atheisten aller Konfessionen - mitgeschrieben.
Dem kam ich nur zustimmen.

Die Frage, was von der modernen europäischen bzw. "westlichen" Kultur bliebe, wenn es das "christliche Erbe" nicht gäbe, versuche ich im zweiten Teil dieses Beitrags zu beantworten.

Dienstag, 10. Juni 2008

Entlarvend: Bischof verbietet einem Querschnittgelähmten die kirchliche Trauung

Skandale wirken manchmal entlarvend. Zum Beispiel der, dass ein italienischer Bischof einem Querschnittgelähmten die kirchliche Trauung verbietet.
Es war schon alles vorbereitet für die Hochzeit von Renzo und Lucia, beide 25, da hatte Renzo einen schweren Autounfall. Zwei Monate ist das her, der Mann aus Viterbo bei Rom ist querschnittgelähmt und impotent, nun will der Bischof von Viterbo, Lorenzo Chiarinelli, dem Paar die kirchliche Trauung untersagen. Seine Begründung: Die katholische Ehe sei auf Nachkommenschaft ausgerichtet, und dazu sei der Mann nun einmal nicht mehr in der Lage.
Weiterlesen auf Tagesspiegel.de : Romeo und Julia von Viterbo.

Die harte Haltung Bischof Chiarinellis mag ein Einzelfall sein und selbst unter katholischen Kirchenrechtlern umstritten - sie gründet sich aber auf geltendes Kirchenrecht, und zwar nicht das aus finsterer ferner Vergangenheit, sondern auf das kirchliche Gesetzbuch, den "Codex Juris Canonici" von 1983. Im Kanon 1084 des Gesetzbuches steht, dass "der Ehebund von Mann und Frau hingeordnet ist auf das Wohl der Ehegatten und auf die Zeugung und die Erziehung von Nachkommenschaft" und dass die Verbindung ansonsten "aus ihrem Wesen heraus ungültig" ist. Damit das Sakrament der Ehe gestiftet werden kann, manövrieren sich einsichtigere katholische Geistliche in solchen Fällen um das Kirchenrecht herum. Chiarnelli lehnt diese kleinen Tricksereien offensichtlich ab - und entlarvt so das offizielle katholische Ehe- und Familenbild als menschenfeindlich.

Für ebenfalls menschenfeindlich halte ich den Kern einer Rede, die Bischof Fürst am 4. Juni beim Mediziner-Forum "Der Gläserne Mensch" in Ravensburg zum Thema "Designerbaby - Entwicklung in unserer Gesellschaft und die Würde des Menschen" hielt:
Designerbaby: Bischof Fürst warnt vor Machbarkeitswahn mit Folgen Auf den ersten Blick möchte ich als Humanist dem Bischof zustimmen, denn es verletzt die Würde des Menschen, wenn Menschen instrumentalisiert, verdinglicht, zum "Humanfaktor" oder "Menschenmaterial" reduziert werden. Aber Fürst wählt ausgerechnet den Fall "Molly Nash" als Beispiel: Ein sechsjähriges Mädchen aus dem US-Bundesstaat Colorado litt an angeborener Blutarmut und benötigte eine Knochenmarkspende um zu überleben. Da weder die Eltern noch Verwandte als Spender infrage kamen, ließen die Eltern ein Dutzend Eizellen künstlich befruchten und die Embryos untersuchen - einer erwies sich tatsächlich als geeigneter Knochmarksspender. Molly wurde durch die Spende ihres so gezeugten kleinen Bruders Adam wieder gesund.

Aus meiner Sicht ist das im Prinzip zwar eine "Verdinglichung" eines Menschen als Mittel zum Zweck, aber nach Lage der Dinge handelten die verzweifelten Eltern nicht gegen die Menschenwürde des kleinen Adam.
Es stimmt, er hat seinen "Zweck" erfüllt: Molly ist geheilt. Sie hat nicht nur überlebt, sie ist gesund. Und ihr Bruder ist nicht umgekommen, wurde nicht als "unerwünscht" ausgestoßen und ist auch nicht in die Besenkammer verbannt worden. Er ist ein vollwertiges Mitglied der Familie, geliebt und beschützt durch seine Eltern und durch seine große Schwester, die ihm ihr junges Leben verdankt.
Bischof Fürst sieht das anders, grundsätzlicher, lebensfremder:
Aber ist der Preis nicht zu hoch, wenn Kinder wie Adam Nash zum Gebrauchsgegenstand gemacht werden, zum ‘Medikamentenschrank auf zwei Beinen’? Denn, erinnern wir uns: Adam verdankt seine Existenz nur seinen Blutwerten. Für sich selbst scheint er keine Lebensberechtigung zu haben. (...) Denn dieser Adam ist nicht um seiner selbst willen wichtig, Menschenwürde wird vertauscht durch Materialwert.
Wenn ich der Vater von Adam wäre, dann würde ich mir diese Frechheit nicht gefallen lassen!

Wohlgemerkt: ich bestreite gar nicht, dass die Prä-Implantations-Diagnostik (PID) ethisch problematisch sein kann (mit den "überzähligen" Embryonen, die bei einen In-Vitro Befruchtung entstehen, habe ich, im Gegensatz zur katholischen Kirche und zum deutschen Gesetzgeber, keine Probleme, schon weil die meisten natürlich gezeugten Embryonen sich erst gar nicht in der Gebärmutterschleimhaut einnisten - siehe hierzu mein Beitrag: Wie hältst Du es mit den Stammzellen?). Ich bin auch völlig einer Meinung mit Fürst, wenn er feststellt, dass die Ökonomie nicht die moralische Grundrichtung bestimmen dürfe - und ich bin sogar bei ihm, wenn er Erich Fromm zitiert: "Wenn der Mensch sich in ein Ding verwandelt, wird er krank, ob er es weiß oder nicht."

Wenn er aber sagt:
Eine letzte Verfügung über uns selbst haben wir weder am Anfang noch am Ende unseres Lebens. Dies zu respektieren bedeutet überhaupt keinen Verzicht auf medizinisch-therapeutisches Handeln, sondern lässt dies erst wirklich menschlich und hilfreich sein.
- dann stellt er meines Erachtens eine theologisch begründete moralische Forderung - nämlich die, dass sich der Mensch gefälligst aus der Zeugung herauszuhalten hätte (was bekanntlich bis zur Ablehnung von Kondomen geht) wie aus dem Tod (womit Suizid und Töten auf Verlangen dem Mord moralisch gleichgestellt werden) - über die Möglichkeit, Leiden zu vermindern. Damit diese wenig menschenfreundliche Moraltheologie als "Verteidigung der Menschenwürde" erscheint, werden gern die Schreckensbilder "Euthanasie"-Morde der Nazis und "Züchtung des perfekten Menschen" an die Wand gemalt - so als ob die Möglichkeit des Missbrauchs die des Gebrauchs ausschlösse.

Um den Kreis zum Eheverbot zu schließen: Es geht um eine beileibe nicht auf die katholische Kirche beschränkte Moral, in der Sex nur dann keine "Sünde" ist, wenn dabei (zumindest im Prinzip) Kinder gezeugt werden können. Wenn ich bösartig wäre, würde ich auch das "Verdinglichung von Menschen" nennen.

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