Ein Gedankenexperiment (1)

Ein weiteres meiner Gedankenexperimente.
Wer sich auf das Gedankenexperiment einlässt, sämtliche Spuren des Christentums aus unserer europäischen Kultur zu tilgen, der wird sich schnell vor einem toten Gerippe oder einem seelenlosen Gehäuse wieder finden.
Erzbischof Zollitsch: Von welchen Werten lebt Europa?.

Dieses Gedankenexperiment ist nicht ganz einfach durchzuführen, weil die christlichen Kirchen ähnlich vorgingen wie heute "Microsoft": sehr viel, das ursprünglich nicht zum Christentum gehörte, wurde in den "Konzern" eingegliedert und mit dem "Firmenlogo" versehen. Selbst die Aufklärung, die teilweise gegen die organisierte Religion und stets gegen die Vorherrschaft der Kirchen im Geistesleben gerichtet war, wird heute von nicht ganz unwichtigen Kirchenvertretern, als "christlich" etikettiert. Zum Beispiel vom einem gewissen Joseph Ratzinger, dessen Titel "Pontifex Maximus" lange vor Christus im römischen Reich der eines sakralen Beamter war (was nicht genau das selbe wie ein Priester ist) - und zwar der Vorsitzende des Pontifikalkollegiums, das die religiösen Zeremonien organisierte. Später ging der Titel auf die römischen Kaiser in ihrer religiösen Funktion über. Dieser Papsttitel ist damit ein gutes Beispiel für eine ins (römisch-katholische) Christentum übernommene heidnische Tradition.

Nun wäre es sicher nicht ganz richtig, mit Karlheinz Deschner lapidar zu sagen: "Alles, was am Christentum nicht jüdisch ist, ist heidnisch". Damit meine ich nicht die Elemente der Gnostik und des streng dualistischen Manichäismus, die in das Christentum eingingen und es entscheidend prägten, sondern die eigenständige geistige Kultur, die sich sich im Laufe der Jahrhunderte auf diesen Grundlangen herausbildete. Die Theologie z. B. eines Thomas von Aquin ist nur vor dem Hintergrund eines jahrhundertelang praktizierten Christentums denkbar. Es gibt originär christliche Züge im der heutigen "westlichen" Kultur, die sich ohne Christianisierung schwerlich hätte entwickeln können. Vielleicht gehört indirekt sogar die Aufklärung dazu, denn ohne religiös begründete Unmündigkeit, ohne Herrschaft mittels und durch die geistliche Hierarchie, ohne Inquisition und Religionskriege hätten sich Humanismus und Aufklärung sicher anders entwickelt, vielleicht auch nie, auch wenn man sich hüten sollte, Humanismus und Aufklärung als bloße Gegenbewegungen zu verstehen.
„Dass die Ideen der Menschenwürde und der Menschenrechte christliche Wurzeln hätten, ist ein gern geglaubtes Märchen."
Herbert Schnädelbach

Ich teile die Ansicht, dass sowohl die Philosophie, ausgehend vom Griechenland der Antike, wie auch die jüdische Tradition einen deutlich größeren Beitrag zur Herausbildung moderner zivilisatorischer Werte geleistet als das Christentum.

Wie wurde das Christentum "Weltreligion"?
Eine nicht nur unter gläubigen Christen weit verbreitete Annahme ist, dass das Christentum quasi naturnotwendig die älteren, heidnischen Religionen ablöste. Die neuen religiösen Elemente des Christentums hätte sich gegen die Missstände der römischen Antike, wie Sklaverei und die menschenverachtende Gladiatorenkämpfen, aber auch die krasse soziale Ungleichheit und die Vergötterung des Staates gewandt. Das römische Imperium wäre zwar ein wegweisende Modell für einen auf abstrakte Werte gegründeten Vielvölkerstaat mit Ansätzen zum Rechtsstaat gewesen, aber letzten Endes wäre es durch Gewalt und Unterdrückung der Völker zusammengehalten worden. Es fehlte eine völkerverbindende Idee. Das Christentum erwies sich nicht nur als die universale, verbindende Idee, die Rom fehlte, es hätte auch die erwähnte Misstände abgeschafft (wie die Gladiatorenkämpfe) oder zumindest gelindert. Die Zeit war reif für das Christentum.
Ein Ansicht, wie sie z. B. Bernd Ehlert in seinem Aufsatz Der Denkfehler und die Inhumanität der „Neuen Atheisten“ um Richard Dawkins Vertritt.
Mit seiner völkerübergreifenden Nächstenliebe stößt das Christentum genau in diese Lücke und Notwendigkeit hinein, die sich durch die Entwicklung der Menschheit aufgetan hat.
Nun bedeutet "Entwicklung" nicht dasselbe "Höherentwicklung", geschweige denn "Unaufhaltsamer Fortschritt". Es mag gestimmt haben, dass Constantin I. im Christentum ein "einigendes Band" für das Imperium sah, nachdem er es zunächst mit dem Kult des "Sol Invictus" probiert hätte. Die Gladiatorenkämpfe bleiben, auch nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war, das ganze 4. Jahrhundert über sehr beliebt, im Jahre 365 wurden nicht etwa die Gladiatorenkämpfe, sondern nur die Beteiligung von Christen an diesen Kämpfen verboten. Die Sklaverei blieb unter den christlichen Kaisern unangetastet, und die Verarmung der Massen ging ebenfalls weiter.
Der "Aufstieg des Christentums" war auf eine ganze Reihe von Faktoren zurückzuführen. Es stimmt z. B. tatsächlich, dass die frühen Christen das Gebot der Nächstenliebe sehr ernst nahmen, im Gegensatz zu den meisten Mysterienkulten, bei denen das frühe Christentum ansonsten sehr viele "Anleihen" machte. Es war relativ einfach, Christ zu werden - im Gegensatz wiederum zu den Mysterienreligionen und auch dem Judentum. Nicht zuletzt hatte das Christentum den meisten konkurrierenden Gemeinschaften ein imponierendes Schrifttum (wenn auch größtenteils jüdischer Herkunft) und die zugleich Furcht erregende wie - für die Anhänger Christi - Hoffnungen auf eine bessere Welt erweckende Doktrin des nahen "jüngsten Tags" voraus. Als das Ende der Welt ausblieb, blieb die noch furchterrengendere Doktrin der "ewigen Verdammnis".

Ich bestreite gar nicht, dass das Christentum einen humanistischen Kern hat, der letzten Endes auf das Judentum zurück geht: Er ist die Vorstellung der Liebe eines Gottes, die nicht "Übermenschen", sondern ganz gewöhnlichen fehlbaren Individuen mit allerhand Macken und Fehlern gilt. Wobei auch die Bibel ihr gerüttelt Maß an von Gott geliebten "Übermenschen" hat - und auch Beispiele, in der Gott ohne nachvollziehbaren Grund jene "schwer prüft" die ihn lieben. Der humanistische Kern ergibt sich also nicht automatisch aus der Bibel, sondern aus dem Prinzip, dass der Mensch ein autonomes Wesen ist, das sich aus freiem Willen zur Befolgung der von Gott gegebenen Gebote entschließt. Dieser Humanismus, der den freien Willen in den Mittelpunkt stellt, ist nicht auf die monotheistischen Religionen beschränkt. Er kann auch von Polytheisten und sogar von Atheisten praktiziert werden - etwa in dem Sinne, dass "göttliche Gebote" aus Vernunftgründen akzeptiert werden.
In der Kirchengeschichte des "Abendlandes" war (und ist) dieser ursprünglich jüdische Humanismus allerdings eher die Ausnahme, weitaus häufiger wurde mit der göttlichen Strafe jene gedroht, die sich nicht getreu an die religiösen Gebote - die fast immer Verbote sind - hielten.

Der Humanismus der frühen Neuzeit war hingegen ein bewusster Rückgriff auf Antike, ihre Philosophie und ihre Werte.

Humanismus und Aufklärung erwuchsen nicht aus dem Christentum heraus, und schon gar nicht aus kirchlichen Traditionen, allerdings gingen aus dem Judentum übernommene christliche Vorstellungen in den Humanismus und teilweise auch die Aufklärung ein.
Ich bin der Ansicht, dass es auch ohne Christentum den Humanismus geben würde, und vielleicht auch eine Art Aufklärung. Ohne das Erbe der (heidnischen) Antike wäre beides nicht denkbar gewesen.

Neben dem "Erbe der heidnischen Antike" wird das "christliche Abendland" von jüdischen und islamischen Einflüssen geprägt.
Alan Posener schrieb vor einigen Wochen einen sehr lesenswerten Artikel über eine Tagung auf Schloss Elmau, die sich mit Juden und Muslimen im christlichen Europa vom Mittelalter bis heute befasste: "Du musst dich entscheiden, ob du für Araber oder für Juden bist". Er endet mit den Worten:
(...) Eine Selbstkritik, die es verbietet, von einer "judäo-christlichen" Identität Europas zu sprechen, weil im Bindestrich so viel Misstrauen und Leid versteckt wird. Das "Meisternarrativ", die Große Erzählung dieses Kontinents, so viel wurde in Elmau deutlich, wird nicht nur von Christen, sondern auch von Muslimen und Juden - und Atheisten aller Konfessionen - mitgeschrieben.
Dem kam ich nur zustimmen.

Die Frage, was von der modernen europäischen bzw. "westlichen" Kultur bliebe, wenn es das "christliche Erbe" nicht gäbe, versuche ich im zweiten Teil dieses Beitrags zu beantworten.
FFD (Gast) - 11. Sep, 10:58

humanistisches Erbe

hmm, in zwei Aspekten stimme ich dir nicht zu. Das Christentum ist ja nicht in einem luftleeren oder rein-jüdischem Raum entstanden, sondern in einer Zeit, als der römisch-griechische Geist auch in die letzte Provinz des vordere Orient frischen Wind geblasen hat. Wenn man noch die Einflüsse aus dem persischen Raum hinzunimmt, kann man sich eher vorstellen, daß dort ein wahrer "intellektueller Diskurs" stattgefunden hat. Das wird heute alles fälschlicherweise dem Christentum gutgeschrieben, was tatsächlich aber eine gefällige Synthese der verschiedenen Strömungen darstellt. Das humanistische Erbe ist sicherlich vor Jesus entstanden, und wenn mich auch jeder Philosophieprofessor dafür schlagen wird: wenn jemand den Urhebertitel dafür verdient, dann Sokrates.

MMarheinecke - 11. Sep, 17:14

Ich sehe nicht ganz, inwiefern Du mir da widersprichts.
Den jüdischen Einfluss bei der Entstehung des antiken Humanismus habe ich deshalb in meinem Artikel betont, weil die humanistischen Traditionen innerhalb des Christentums tatsächlich jüdische Wurzeln haben. Der Humanismus der Neuzeit wurzelt eher in der antiken Philosophie als im Judentum, aber das war ein Humanismus neben oder manchmal sogar entgegen dem Christentum.

Sokrates ist einer jener, die ich zu den Begründern des antiken Humanismus zähle, aber als nur einer von vielen.

Gut, dass Du die Perser erwähnst. Ihr Einfluss auf die europäische Kultur, und zwar von der Antike an, wird oft übersehen, ebenso, dass die blühende islamische Kultur des Mittelalters keine rein arabische Kultur war, sondern ganz entscheidend von Persern getragen wurde.
Jari (Gast) - 11. Sep, 15:20

"Das humanistische Erbe ist sicherlich vor Jesus entstanden, und wenn mich auch jeder Philosophieprofessor dafür schlagen wird: wenn jemand den Urhebertitel dafür verdient, dann Sokrates."

Bin zwar kein Philosophieprofessor, aber wieso Sokrates?
Ich würde sagen, wenn schon altgriechische Urheber, dann doch die vorsokratischen Philosophen. Am ehesten meines Erachtens die Sophisten, für die m.W. auch "der Mensch das Maß aller Dinge" war.

Ich denke aber, dass es überall gewisse humanistische Traditionen gibt - mal stärker, mal schwächer. Sicher kein Humanismus in unserem Sinne ... aber vielleicht vergleichbar mit dem der Antike auf den der Humanismus einst zurückgriff.
Desweiteren wird Humanismus in unserer Gesellschaft zum Teil ein Anthropozentrismus mitgedacht oder mit diesem untrennbar gedacht. Dies ist m.E. nicht zwingend!

Gruß, Jari

MMarheinecke - 11. Sep, 17:50

Humanismus

Humanismus ist in der Tat kein eindeutiger Begriff.

Abgesehen von Humanismus im Sinne von "Besinnung auf antike Traditionen" - im Sinne von "humanistisches Gymnasium" - steht Humanismus für Weltanschauungen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, die sich also an den Interessen, den Werten und der Würde vor allem des einzelnen Menschen orientiert. In dem Moment, in dem Menschen im Namen einer Weltanschauung "verdinglicht", zu reinem "Menschenmaterial" (Unwort des 20. Jahrhunderts) herabgewürdig werden, ist diese Weltanschauung als antihumanistisch zu bezeichnen. Eine humanistische Auffassung von Religion ist, dass die religiösen Bräuche, Riten und Gebote für den Menschen da sind, und nicht der Mensch für die religiösen Bräuche, Riten und Gebote. Ebenso verhält es sich mit dem Staat, der dem Bürger dienen sein sollte, nicht der Bürger dem Staat.

Humanismus ist nicht anthropozentrisch - tatsächlich entstammt der Tierschutz- und Naturschutzgedanke dem humanistischen Denken. Für das humanistische Denken stehen "die Menschen" (als reale, idividuelle Wesen) im Mittelpunkt, für den Anthropozentrismus "der Mensch" (als abstrakte Einheit) gegen "die Natur".

Humanismus ist nach heutigem Verständnis eine demokratische und aufklärerische Kulturbewegung, deren Grundsätze sich in den Menschenrechten spiegeln. "Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet..." (Präambel der Charta der Vereinten Nationen)

Die moderne philosophische Auffassung des Humanismus spitzt den weltanschaulichen Kern des Humanismus zu, in dem sie fragt, ob sich Menschen selbst Verfassungen (Gesetze, Moral, Lebensregeln) geben, als Individuen, als Gesellschaften bzw. als Staaten und sie verneint, dass Menschen diese Verfassungen von einem Gott oder einem höheren Prinzip ableiten bzw. darauf zurückführen müssen. Damit gerät der Humanismus zwangsläufig in Konflikt mit religiösem Offenbarungsdenken, und zwar umso stärker, je stärker die jeweilige Religion den "gottgegeben" Charakter ihrer religiösen Gebote betont.

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