Sonntag, 19. Oktober 2008

Dualismus

Ich schrieb in meinem Artikel Wie Schäuble wirklich denkt ... , dass mir die strickt dualistische Weltsicht unseres Innenministers unheimlich ist.

Dualismus dieser Art, ein starker, moralischer Dualismus, ist eine Weltsicht, in dem "gut" und "böse" klar voneinander geschieden sind, in dem Zwischentöne allenfalls als "Halbheiten" wahrgenommen werden, und in dem Ambivalenzen einfach nicht vorgesehen sind. Also kein Dualismus im Sinne des Substanzdualismus (die Existenz von materiellen und immateriellen Substanzen), sondern ein moralischer Dualismus im Sinne Thomas Hydes (1636–1703), der unter "Dualismus" die (religiöse) Überzeugung verstand, dass es ein gutes ("Gott") und ein böses ("Teufel") übernatürliches Wesen gibt - und davon abgeleitet eine Moral, in der es "das Gute" und "das Böse" gibt, und alles, was nicht "gut" ist, automatisch dem Bereich des "Bösen" zugeordnet wird. Weder in der jüdischen Bibel noch in den Evangelien ist dieser Dualismus angelegt - im Gegenteil, der Satan ist als dem einzigen Gott untergeordnet dargestellt, er handelt in seinem Auftrag, seine Funktion ist die der Anklägers und die des Prüfers. Im (religiösen) Dualismus ist der Satan hingegen "der Widersacher", ein zweiter, negativer "Gott", die die Macht Gottes permanent herausfordert. Nur in der "Offenbarung Johannis" ist ansatzweise ein Dualismus erkennbar. Das Weltbild, in denen die Mächte "des Lichts" und die "der Finsternis" im äonenlangen Kampf liegen, stammt ursprünglich wohl aus dem Manichäismus. Ich teile die Ansicht, dass der "Kirchenlehrer" Augustinus, ein ehemaliger Manichäer, auch als Christ vom Manichäismus (gegen den er heftig polemisierte) beeinflusst gewesen ist. Manichäisches, bzw. gnostisches Gedankengut im Christentum ist, neben dem starken moralischem Dualismus, die Fegefeuerlehre (katholische Kirche), die Höllenlehre, die Erbsündenlehre, die Lehre der Prädestination (vor allem in reformierten Kirchen) und wahrscheinlich auch die auch im Kontrast zum Judentum ausgeprägte Körper- und Sexualfeindlichkeit.

Herr Schäubles Schwarzweißdenken ist, denke ich, sittenchristlich geprägtes dualistisches Ausschlußdenken. Ein Denken, das für Denkfehler, die nur in Boulevardkomödien amüsant sind, höchst anfällig ist: "Hey, hübscher Pullover, den du da anhast!" – "Kreisch! Jammer! Was hast du gegen meine Hose!?"

Ein anschauliches Beispiel für tief augustinisches dualistisches Ausschlußdenken gibt dieser Artikel, den ich (über einen Umweg übers Brights Blog) auf RP-online fand: Was glaubt, wer nicht glaubt
Darin heißt es:
Wer über Atheisten spricht, redet noch über eine Minderheit. In Zahlen heißt das: Im Jahre 2005 war jeder dritte Deutsche ohne Konfession. Doch die Entwicklung der vergangenen 15 Jahre macht eine Umkehrung der Verhältnisse in absehbarer Zeit wahrscheinlich. Denn 1990 bezeichneten sich bloß 22,4 Prozent der Deutschen als ungläubig.

Und so prognostizieren mittlerweile etliche Gesellschaftsforscher, dass schon 2025 die Mehrheit der Deutschen keiner der beiden christlichen Volkskirchen angehört und mit dem Glauben nichts mehr zu tun haben wird.
Daran ist ungemein auffällig, dass in dem Artikel (wahrscheinlich ohne das es dem Autoren bewusst gewesen wäre), die Nichtzugehörigkeit zu einer der beiden "christlichen Volkskirchen" mit "Konfessionslosigkeit" und diese wieder mit "ungläubig sein" bzw. atheistisch gleichgesetzt wird.

Nun ist es aber so, dass eine große Vielfalt an religiösen, spirituellen und weltanschaulichen Ansichten längst zu einer gewissen gesellschaftlichen Normalität geworden ist. Außer Christen unterschiedlicher Konfession (von denen es weit mehr als nur die beiden von der Steuerkarte her bekannten gibt) leben in Deutschland Muslime, Juden, Buddhisten, Taoisten, Hindus, Esoteriker (unterschiedlichster Couleur), Neuheiden (von Asátrú bis Wicca), Scientologen, Satanisten usw. usw., daneben selbstverständlich zahlreiche Freidenker und Agnostiker, religös Indifferente und sicherlich auch viele Atheisten. Und natürlich auch alle möglichen bis unmöglichen Mischformen (im Extremfalle sogar vereint in einer einzigen Person).

Interessanterweise wirft der Artikel, dabei Ralph Bergold, Leiter des Katholischen Instituts in Bad Honnef, paraphrasierend, dem "neuen Atheisten" eine gewissermaßen denunziatorische Haltung vor, um dann den "Glauben der nicht Gläubigen" zu denunzieren:
Bei all dem gibt es zwar Spuren eines neuen Interesses am Religiösen, freilich ohne das neue Interesse an Gott. Gewünscht wird eher eine Spiritualität als Wohlfühl-Medium, die „ein Stück weit“ einfach nur gut tut wie der frisch gebrühte Kaffee am Morgen.
Ich kenne in der Tat Menschen, vor allem solche mit esoterischer Weltsicht, die sich mit sanft-unverbindlicher "Morgenkaffeespiritualität" begnügen. Ich kenne aber noch mehr, denen jede Form von Spiritualität und Religiösität schnuppe ist. Daneben gibt es, gerade bei den an "östlichen Religionen" Interessierten, aber auch bei Naturreligiösen bzw. Neuheiden (und ganz sicher in der Nornirs Ætt) eine Form der Spritualität, die in etwa dem entspricht, was Fulbert Steffensky "Schwarzbrotspiritualität" nennt. An Schwarzbrot hat man mehr zu kauen als an Esoterik-Müsli, Theosophie-Eintopf, (traurigem) Tantriker-Toast, "Lebenshilfe"-Fertiggerichten - aber auch den trockenen Oblaten eines unkritischen Christentums. Es ist aber auch nahrhafter und hält lange vor. Die Asátrú-Version der "Schwarzbrot-Spritualität" ist, zumindest in der Nornirs-Ætt-Variante, eine dick mit Wurst oder Käse belegte, und je nach Tageszeit mit starkem Kaffee oder kühlem Bier heruntergespülte. Denn trockene Spiritualität, ohne Freude und Ekstase, ist auf die Dauer so unbefriedigend wie trockenes Brot ...
Zurück zum Artikel:
Wer aber nicht an einen Gott glaubt, der kennt folglich auch keine Verantwortung vor Gott – wie sie in der Präambel des deutschen Grundgesetzes geschrieben steht. Mit dem Gottesbegriff allerdings ist auch die Begründung von Moral verknüpft.
Offensichtlich kann oder mag sich Bergold eine von religiöser Letztbegründung - bzw. göttlicher Offenbarung unabhängige Moral nicht vorstellen. Die gibt es aber - z. B. im Humanismus. Moralisch zu handeln ist zum Beispiel vernünftig.
Weiter:
Nun meint Glauben weniger die Gewissheit darüber, dass die Welt in sechs Tagen erschaffen wurde; vielmehr sind Glaubensaussagen, so Bergold, immer auch Lebensorientierungen, die etwas „über den Stand des Menschen in der Welt“ sagen. Gerade vor diesem Hintergrund nimmt das wachsende Glaubensloch inmitten unserer nach wie vor christlich geprägten Gesellschaft schon jetzt bedrohliche Ausmaße an.
Diese Aussage ist nur dann sinnvoll, wenn man stillschweigend annimmt, dass ein "Glaubensloch" auch ein Ethik- bzw. Moral bzw. Werteloch impliziert.
Dass Fragen bleiben, ist der Vorteil der neuen Debatte: Fragen danach, was vom Abendland bleibt, wenn es nicht mehr christlich ist. Müssen dann neue Werte erfunden werden? Heißt Atheismus auch Amnesie? Und was ist der Mensch ohne metaphysische Beheimatung?
Meine Antworten auf diese Fragen: Vom "Abendland" blieben, wenn es nicht mehr christlich ist, immer noch Demokratie, Humanismus, Aufklärung, industrielle Revolution, "offene Gesellschaft", Gleichheit, Gewaltenteilung, Religionsfreiheit, über 2500 Jahre Philosophie, Kunst, Wissenschaft und noch viel mehr. Es würde nur eine Komponente von den vielen fehlen, die zusammen das "Abendland", "den Westen" ausmachen. Andere - fast alle anderen! - sind aus meiner Sicht wichtiger. Ein "Westen" mit Christentum, aber etwa ohne Bürgerrechte kann mir gestohlen bleiben!
Nein, es müssen keine neuen Werte gefunden werden.
Nein, Atheismus heißt nicht Amnesie. (Neben: Wie kommt man auf so eine Frage?)
Was ist der Mensch ohne metaphysische Beheimatung ist, kann ich für "den Menschen" nicht sagen. Ich kann nur sagen, dass jemand, der nicht an den Christengott glaubt, dadurch nicht metaphysisch heimatlos wird. Ich kann sogar sagen, dass jemand, der an gar keine Götter glaubt, nicht notwendigerweise keine metaphysische Beheimatung hat. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sehr viele Menschen problemlos und mit funktionierender Ethik, intakter Moral, ausgeprägtem Gewissen und entwickeltem Wertesystem auf jede Metaphysik dankend verzichten können.

Nun ist es so, dass eine kritisch-rationalistische Einstellung zu den Grundfragen des Lebens fast zwangsläufig zum Agnostizismus führt. Kommt ein ausgeprägt materialistisches Weltbild hinzu, ist die Hinwendung zum Atheismus fast unvermeidlich.
Das könnte die wachsende Zahl der Agnostiker und Atheisten erklären. Da ich eine kritisch-rationalistische Einstellung sehr begrüße, vermag ich in dieser Entwicklung keine Gefahr sehen. Allerdings hege ich den Verdacht, dass die meisten Atheisten das ebenso wenig aus eigenem Entschluss geworden sind, wie die meisten Kirchenmitglieder bewusst in die Kirche eintraten.

Anderseits zieht eine spirituellen Herangehensweise fast genauso zwangsläufig eine unkritischere Betrachtung, beispielsweise von moralischen Fragen, nach sich. Besonders auffällig ist das bei Menschen, die eine mystische Erfahrung gemacht haben.

Ich betone dabei das Wört "fast". Nur in einem streng dualistischen Weltbild schließt kritisches Bewusstsein "Glauben", Religion, Spritualität aus - und umgekehrt.

Ausgemachter Unsinn ist übrigens der (alte) Witz, mit dem der Artikel der "Rheinischen Post" endet:
Ein Witz markiert diesen Wert der neuen Auseinandersetzung. Frage: Warum nerven Atheisten eigentlich so? Antwort: Weil die dauernd über Gott reden.
Ich kenne einige Atheisten - darunter ist keiner, der der überhaupt "von Gott" reden würde, geschweige denn dauernd.
Vielleicht ist der Autor des Artikels so sehr in der augustinischen dualistischen Gedankenmatrix gefangen, dass er sich einen Atheisten gar nicht richtig vorstellen kann ...

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