Wie hältst Du es mit den Stammzellen?

Heute startete eine gemeinsame Kampagne der katholischen und evangelischen Kirche unter dem Titel "Gesundheit - höchstes Gut?"
Die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland sorgen sich nun etwa nicht um unsere Gesundheit, sondern darum, dass das Nachdenken über äußerliches Wohlbefinden und körperliche Fitness inzwischen einen derart breiten Raum einnähme, dass man bereits von einer "Gesundheitsreligion" sprechen könne, wie es führende Kirchenvertreter in Würzburg ausdrückten.
SpOn: Kirchen verdammen Fitnesskult.
Kritik an Übertreibungen beim Streben nach Fitness und Gesundheit sind das eine. Eine Kampagne unter dem Titel "Gesundheit - höchstes Gut?" das andere. Schon die Frage konstruiert einen Gegensatz zwischen "Streben nach Gesundheit" und "Streben nach dem Seelenheil", wobei letzterem der Vorrang eingeräumt wird:
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, kritisierte den "Gesundheitswahn unserer Tage". Gesundheit sei wichtig, aber es sei nicht richtig, sie zum Idol zu machen, mahnte Huber beim ökumenischen Gottesdienst im Kiliansdom der Stadt. "Wo es früher noch um das Heil der Seele ging, geht es heute nur noch um den heilen Körper", beklagte der Bischof.
Ich sehe keinen Gegensatz zwischen dem Streben nach körperlichem und psychischem Wohlbefinden und dem Streben nach dem Heil der Seele - für mich geht beides Hand in Hand, das Eine ist ohne das Andere nicht zu haben. Übrigens kann man sich trotz schwerer Krankheit "wohl befinden", während andererseits sogar leichte "Störungen", die die (berufliche) Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigen, einem "das Leben zur Hölle" machen können - nach meinem Empfinden lebt man dann nicht im Heil.
Wenn man allerdings "Gesundheit" nicht als "Wohlbefinden", sondern etwa als "maximale Leistungsfähigkeit" definiert, und mit "Heil der Seele" die "Erlösung" im christlichen Sinne meint, dann, ja dann gibt es durchaus einen "Zielkonflikt".

Von berechtigten, aber banalen Mahnungen wie der, dass Krankheit, Leiden und Tod zum Leben gehören, oder dass es "keine Garantie für ewige Jugend" gäbe (seltsam, ich dachte immer, kein Mensch bliebe ewig jung) oder der, dass kein Mensch "immerwährend gesund" sei, abgesehen: Worauf zielt die Kampagne ab?

Während der "Woche für das Leben" soll kritisch hinterfragt werden, wer Definitionen von Gesundheit vorgibt und warum. Das ist eine in der Tat eine wichtige Frage, denn das Gesundheit instrumentell gesehen wird ist ein drängendes Problem: etwa, das "gesund" gleich "arbeitsfähig" gesetzt wird, egal, wie es dem Einzelnen dabei geht, oder politischer Druck zur "gesunden Lebensführung", mit dem immer im Hintergrund stehenden Vorwurf, jemand sei an seinem Herzinfarkt (Lungenkrebs, Hautkrebs, Bluthochdruck usw. ) doch "selber Schuld", oder - besonders widerlich - die Ausgrenzung Kranker, Gebrechlicher und Behinderter, weil sie der "Leistungsnorm" nicht entsprächen. Aus humanistischer Sicht ist das sehr zu begrüßen!

Aber ich ahne bei diesen Worten, dass da noch ein ganz anderes Thema auf der Tagesordnung steht:
Mit der Woche für das Leben setzten sich die Kirchen gemeinsam ein "für die Würde und den Schutz des menschlichen Lebens in all seinen Phasen und für alle Menschen – gleich welchen Alters und welcher physischer und psychischer Verfassung."
Die allererste "Woche für das Leben" war eine Woche für den "Schutz des ungeborenen Kindes" und seitdem sind die Fragen "Abtreibung" und "Sterbehilfe" ständig auf der Agenda dieser Veranstaltung präsent.
Der vermutlich heikelste Streitpunkt zwischen "christlicher Moral" (nach Maßgabe der römisch-katholischen und - teilweise - der evangelisch-lutherischen Kirchenleitung) und dem "Streben nach Gesundheit" ist die Frage nach den embryonalen Stammzellen.

Auch wenn manche Hoffnungen, die auf die Heilungschancen durch den Einsatz embryonaler Stammzellen gesetzt werden, wahrscheinlich übertrieben sind: die Stammzellforschung ist eines der wichtigsten Forschungsgebiete der modernen Medizin. Und ein wichtiger Teil dieser Forschung ist ohne menschliche embryonale Stammzellen nicht zu machen.
Das Problem (aus christlicher Sicht): der Beginn des menschlichen Lebens wird bei der Befruchtung der Eizelle gesehen. Also muss man (potenzielle) Menschen ermorden, um an embryonale Stammzellen zu kommen. Weshalb sich die Debatte in christlich geprägten Ländern an der moralischen Frage: "Darf man Leben vernichten, um Leben zu retten?" festfährt.

Es fällt auf, dass das vergleichsweise winzige Israel in der Erforschung und Nutzung menschlicher Embryonalzellen weltweit eine führende Position innehat. Einer der wichtigsten Gründe dafür liegt in der jüdischen Religion.
Ein Menschenleben zu retten ist eines der wichtigsten Gebote des Judentums (wie auch des Christentums, des Islams und aller anderen mir bekannten Religionen, mit der mögliches Ausnahme des Satanismus). Dieses Gebot steht im Judentum über fast allen anderen Glaubensgesetzen - durchaus im Gegensatz zu einigen nicht unwichtiger Richtungen des Christentums und des Islams, für die das "irdische Leben" eine untergeordnete Bedeutung hat.
Eine der Grundbedingungen zur Menschwerdung ist laut rabbinischer Auslegung die Einnistung des Embryos im Mutterleib. Föten aus künstlicher Befruchtung genießen deswegen, solange sie nicht erfolgreich eingesetzt wurden, keinen rechtlichen Schutz. Hinzu kommt, dass die jüdische Religion selbst einen Fötus im Mutterleib erst ab dem vierzigsten Tag als ein vollwertiges menschliches Wesen betrachtet - eine pragmatische Annahme, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die Mehrzahl der Embryonen in der Frühschwangerschaft spontan "abgeht".
Deswegen gibt es in Israel fast keine gesetzlichen Einschränkungen in der Stammzellforschung. Dennoch kann die Forschungsethik in Israel gegenüber vielen "christlich" geprägten Staaten als vorbildlich angesehen werden: es ist keineswegs so, dass Embryonen einfach als "Verbrauchsgut" gesehen werden - wenn bei einer künstlichen Befruchtung mehr befruchtete Eizellen entstehen, als benötigt werden, dürfen sie auf keinen Fall einfach weggeworfen werden.
Aber ein Gebrauch für medizinische Forschungszwecke geht in Ordnung - das moralische Gebot "Menschenleben retten" steht über der Heiligkeit der befruchteten Eizellen. Jeder andere Zweck außer der Bekämpfung lebensbedrohlicher Krankheiten (etwa der Gebrauch embryonaler Stammzellen für kosmetische Zwecke) ist verboten.
Das Klonen von Menschen ist in Israel ausdrücklich verboten und jedes Experiment mit embryonalen Stammzellen muss von einem Komitee genehmigt werden. Die Kommerzialisierung menschlicher Embryos, dass heißt Handel oder ihr Ankauf, ist ebenfalls untersagt.

Aus humanistischer wie aus "neopaganer" Sicht (der Sicht einer "Religion", für die das Jenseits Hypothese und das Diesseits Realität ist ) finde ich die israelische Sichtweise äußerst begrüßenswert. So begrüßenswert, dass ich sie mir ohne weiteres zu eigen mache.
Sebastian (Gast) - 7. Apr, 12:09

Guter Beitrag!

Ich selbst bin zwar Atheist und - wie anglophone Menschen sagen würden - "Pro-Choice", habe aber durchaus ein Problem damit, befruchtete Eizellen einfach als "Verbrauchsgut" anzusehen. Anderseits halte ich den religiös begründeten "Null Toleranz"-Standpunkt der Kirchen für regelrecht schädlich.

Die israelische Lösung halte ich daher ähnlich wie du für den wohl besten Kompromiss zwischen wissenschaftlicher Notwendigkeit und "Menschenwürde". Menschenwürde in Anführungszeichen, weil ich Föten *nicht* als menschliche Wesen betrachte, aber jetzt auch kein besseres Wort wüsste ;-)

Jari (Gast) - 7. Apr, 16:39

Hm...

Was mich an der ganzen Diskussion über Stammzellen und Abtreibung immer stört, ist dass die Frage was ein Mensch ist nicht sachlich erörtert wird, sondern je nach Interessen ausfällt. Wenn ich einen Vorteil dadurch erziele, dass das kein Mensch ist, dann ist es keiner und wenn ich einen Vorteil habe wenn es einer ist, dann ist es einer. Und dann kommt oft noch Ideologie hinzu was noch nie gut war und nie gut sein wird.

Mir fiel das bei einer Freundin auf, die beim Thema Abtreibung immer auf das Recht auf Selbstbestimmung der modernen Frau pochte, dann aber bei einem Fall, bei dem ein biologischer zukünftiger Vater seiner Freundin brutalst durch Schläge in den Bauch das ungeborene Kind tötete, ihre Position wechselte, weil sie es als unerträglich empfand, dass der Täter nicht für Mord ins Gefängnis wanderte. Begründung: Es war ja noch kein Mensch!

Ich bekomme bei dem Thema was ein Mensch ist und was nicht immer Bauchschmerzen, weil m.E. nichts in der Menschheitsgeschichte je schlimmer war als die Abwertung von Menschen zu Tieren bzw. zu "unwertem Leben".

Was die Stammzellen angeht kann ich mich jedoch auch getrost der jüdischen Sichtweise anschließen und beim Thema Abtreibung finde ich Aufklärung wichtig und Verbote schädlich und falsch.

Jari

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