Samstag, 27. September 2008

Ein Gedankenexperiment (2)

Unsere europäische Kultur ist in Jahrhunderten gewachsen und lebt von tragenden Werten. Im Bild gesprochen sind es vier Hügel, in denen unsere europäische Identität wurzelt: Der Areopag in Athen mit den griechischen Idealen von Freiheit und Demokratie; das Kapitol in Rom mit dem klassischen Ideal von Recht und Gerechtigkeit; der Sinai mit dem Dekalog und der Bundesweisung Gottes; und schließlich der Berg Kalvaria in Jerusalem, auf dem Jesus Christus für uns in den Tod ging und bis heute zeigt, dass Liebe und Solidarität größer sind als alles, was wir uns ausdenken und erfinden können.

Unsere abendländisch christliche Kultur hat die tragenden Ideen und Werte der Antike aufgenommen und integriert. Durch Jesus Christus und sein Evangelium erhielten sie ein neues Vorzeichen. Solidarität und Nächstenliebe machen Freiheit, Recht und Gerechtigkeit zu wahrhaft menschlichen Werten.
(Aus dem Vortrag des Erzbischofs Zollitsch, dem ich auch die Anregung zu meinem Gedankenexperiment verdanke.)

Dabei mag dahingestellt sein, ob die Hinrichtung Jesus am Berg Kalvaria wirklich zeigte, dass "Liebe und Solidarität größer sind als alles, was wir uns ausdenken und erfinden können", ganz zu schweigen davon, dass es fraglich ist, dass das Christentum die Ideale der Antike zu "wahrhaft menschlichen Werten" transformiert hat.
Fraglich auch, ob die großen Errungenschaften jüdischen Denkens für die moderne Demokratie, nämlich die Gleichheit vor dem Gesetz und der Universalismus der Werte, schon zur Zeit der Niederschrift der Thora formuliert waren. Allerdings sieht Zollitsch nicht diese Werte, sondern die "10 Gebote" als konstituierend an - wobei einzig das Bekenntnis zum Monotheismus und das Bildverbot diese Gesetze von anderen antiken Gesetzessammlungen abhob (und mit beidem hat es gerade die katholische Kirche nie sonderlich genau genommen).

Als "Wurzeln" der westlichen Staatsordnung sehe ich die Gleichheit vor dem Gesetz (altes Israel), die Demokratie (Athen) und den Rechtsstaat (Rom). Hinzu kämen Parlamentarismus / repräsentative Demokratie (Island), die föderative Staatsordnung (Perserreich) - und eine ganze Reihe "neuer Werte", die erst während der Aufklärung, den Revolutionen der Neuzeit und später formuliert wurden, man denke an die Pressefreiheit oder die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Wichtig ist auch, dass viele dieser Werte gegen den Widerstand der Kirchen erkämpft worden, so auch die Religionsfreiheit. (Die negative Religionsfreiheit schützt den Einzelnen vor den Ansprüchen der vorherrschenden Religion bzw. ist das Recht des Einzelnen, von der Religion in Ruhe gelassen zu werden, die positive Religionsfreiheit schützt religiöse bzw. weltanschauliche Minderheiten.)

Wie sähe die Welt heute aus, wenn es kein Christentum gäbe?

Religion ist immer ein unvorhersehbarer Faktor, und auch in der Geschichte ist der Einfluss der Religion weitaus schwerer abzuschätzen als etwa ökonomische Faktoren, Umweltbedingungen oder kulturelle Einflüsse, denn Religion ist ihrem Wesen nach irrational. Es ist schwierig, in der Religionsgeschichte "harte Fakten" zu finden. Man kann ziemlich sicher sein, dass Amerika auch ohne Columbus früher oder später europäisch Kolonisiert worden wäre, aber es ist einfach nicht möglich, zu entscheiden, ob es so etwa wie das Christentum gegeben hätte, wenn Pilatus auch nur die geltenden römischen Gesetze etwas gewissenhafter ausgelegt hätte, oder vielleicht etwas mehr politisches Augenmaß oder gar mehr Gerechtigkeitssinn gehabt hätte. (Denn dann hätte die Kreuzigung nicht stattgefunden. Es ist auch sehr fraglich, ob im Falle einer Hinrichtung Jesus durch jüdische Autoritäten, also durch Steinigung, es heute einen "Steinhaufenstreit" anstelle des "Kruzifixstreits" geben würde.)

Die Folgen für das römische Reich, hätte es das Christentum nicht gegeben, wären eher marginal geblieben, nach Konstantin I. wäre wahrscheinlich der Kult des "Sol Invictus", eine "romanisierte" Variante des Mithraismus, Staatsreligion geworden bzw. geblieben. (Das wir heute nicht am Samstag - Sabbat - den Ruhetag haben, ist ebenso ein Erbe der mithraistischem Phase Roms, wie das große Jahresfest des "Sol Invictus" am 25. Dezember. Die frühen Christen maßen dem Geburtsfest Jesu keine große Bedeutung bei, erst im 3. Jahrhundert wurde es überhaupt begangen, und zwar am 6. Januar.)
Die Unterschiede zwischen dem stark synkretistischen Mithraismus, der andere Götter durchaus zuließ, wären zunächst nicht zutage getreten, das weströmische Reich wäre wohl ebenso untergegangen. Anderseits ist es unwahrscheinlich, dass ohne das Christentum der Islam hätte entstehen können - und noch unwahrscheinlicher, dass er sich in einem rein "heidnischen" Nordafrika und Kleinasien so leicht hätte ausbreiten können.

Bestimmt hätten in einer Welt ohne Christentum heute andere Religionen den Platz des Christentums (und des Islams) eingenommen. Vielleicht wären das der
Mithraismus
, der Odinismus und der Soterismus gewesen, wie Lyon Sprague de Camp in seiner Alternativweltgeschichte "Aristotele and the gun" vorschlug. (Der Soterismus wäre eine ägyptisch-hellenistische Synthese gewesen, gegründet von einem glühenden ägyptischen Propheten, dessen Anhänger ihn mit dem griechischer Wort für "Erlöser" bezeichneten.)
Oder der Buddhismus hätte sich "im Westen" durchgesetzt, wie Arnold J. Toynbee spekulierte.

Die Annahme, Europa wäre ohne Christentum "geistig primitiv" geblieben, ist schlicht falsch ist. Ein Blick nach Fernost, z. B. nach Japan, widerlegt diese europazentrierte Annahme sofort.

Die Annahme, Europa wäre ein sich in blutigen Stammeskriegen verzehrende Region geworden, entbehrt jeder Grundlage. Vielleicht wäre Europa tatsächlich heute noch stärker durch Stammesdenken geprägt, und mit Stämmen lässt sich in der Tat "kein Staat" machen (was z. B. das "Nation Building" in Afghanistan so schwer macht). Aber "blutige Stammesfehden" sind ein Klischee - und die europäische Geschichte wurde erst mit der Bildung der Nationalstaaten so richtig blutig. Auf die "Völkerwanderung" hatte das Christentum noch wenig Einfluss, ich nehme daher an, dass es, schon durch die Übernahme römischen politischen Denkens, zur "germanischen Staatenbildung" auf zuvor weströmischem Gebiet gekommen wäre, und später die Staatenbildung in Nord- und Osteuropa gefolgt wäre.

Es kann durchaus sein, dass der Einfluss des Judentums in einem "heidnischen" Europa größer gewesen wäre, als in einem christlichen Europa, dass seine "jüdischen Wurzeln" eher verdrängte und den Juden in der Regel eher feindselig begegnete. Daher könnten jüdische Ideen, wie die der Nächstenliebe oder die der Gleichheit vor dem Gesetz, in einem "Europa ohne Christentum" weitaus weiter verbreitetet sein, als in unserer Welt. Wobei die Idee der Gleichheit vor dem Gesetz nicht zwangsläufig auf die Idee der Gleicheit aller Menschen vor dem einzigen Gott zurückgeführt werden muss.
Es ist aber meiner Ansicht nach unwahrscheinlich, dass das Judentum die dominante Religion Europas geworden wäre.

Es ist außerdem sehr wahrscheinlich, dass es in einem heidnisch-polytheistischem oder in einem buddhistischen Europa weniger Religionskriege gegeben hätte - wenn überhaupt. (Religionskriege wären aber dann möglich gewesen, wenn z. B. der Polytheismus sich nach dem Muster des Hinduismus entwickelt hätte - in einem mithraistischem Europa eine meiner Ansicht nach eine recht wahrscheinliche Entwicklung. Anderseits wäre die Entwicklung des Hinduismus ohne die Konfrontation mit dem Islam und später dem nominell christlichen britischen Imperialismus anders verlaufen.)

Ansonsten ist ein "Europa ohne Christentum" ein reizvoller Stoff für Alternativweltgeschichten.

Rechnungshof kritisiert Schäubles Abbhörpläne

Vorabmeldung des "Spiegels".
Die von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) geplante gemeinsame Abhörzentrale wichtiger deutscher Sicherheitsbehörden steht grundsätzlich in Frage. (...) Die Rechnungsprüfer monieren in ihrem Bericht vom 18. September, das BVA habe "im Auftrage des Bundesinnenministeriums" bei der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung die Parameter "so lange geändert, bis sich das gewünschte Ergebnis zugunsten des Bündelungsmodells errechnen ließ". Die Prüfer kommen für den Zeitraum bis 2015 auf Ausgaben von insgesamt 132,4 Millionen Euro gegenüber 126,2 Millionen bei der bisherigen, dezentralen Organisation der Abhörtechnik.
Siehe auch Heise: Schönrechnung bei Schäubles Abhörzentrum beklagt.

Warum hält das Bundesinnenministerium so hartnäckig und mit so fragwürdigen Methoden an der Bündelung der TK-Überwachung fest? Eine nahe liegende Antwort wäre sicherlich: Die Staatsmacht wird ins Bundesinnenministerium verlagert bzw. Kompetenzen sollen auf das Bundesverwaltungsamt (BVA) übertragen werden, wo eine Art "übergeordnete Denkfabrik" für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), die Bundespolizei und das Bundeskriminalamt (BKA) etabliert werden soll.

Noch vor einigen Monaten erschien mir der Ausdruck "Stasi 2.0" unangemessen, weil er die Praktiken des "Ministeriums für Staatssicherheit" der DDR verharmlost. Allerdings ist die Zentralisierung der Telekommunikations-Überwachung (unter dem Vorwand der "Effitivitätssteigerung" - der nun wohl tatsächlich als Vorwand entlarvt ist) tatsächlich ein deutlicher Schritt zu MfS-ähnlichen Strukturen.

Derweil drischt Schäuble leere Sprüche: Schäuble will Nutzung des Internets durch Islamisten erschweren - leer, weil der der Minister völlig offen lies, wie er sich das vorstellt.
Ich erwarte von einem Minister nicht, dass er Fachmann für Internetfragen ist - aber wenigstens, dass er einfach mal den Mund hält, wenn er keine Ahnung hat. Ebensogut hätte er fordern könne, die Nutzung der Briefpost für Islamisten zu erschweren - oder die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel.

Schäuble ist meiner Ansicht nach kein machthungriger "kalter Putschist" - er ist ein angstgetriebener Minister mit z. T. irrealen Vorstellungen über eine ihm unheimliche Technik, die er nicht versteht.
Ein weiteres Beispiel für die Gefährdung der Demokratie durch Inkompetenz.

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