Gedankenfutter

Donnerstag, 17. April 2008

Nachtrag zu "Odysseus - der erste "bürgerliche" Mensch?"

In meinem Beitrag Odysseus - der erste "bürgerliche" Mensch? habe ich mich ein wenig mit der Interpretation der "Odyssee" durch Adorno / Horkheimer in "Die Dialektik der Aufklärung" beschäftigt.

Ich machte mir dabei natürlich auch Gedanken darüber, wie Adorno /Horkheimer zu ihrer bemerkenswerten (und meines Erachtens weder Homer, noch der Odyssee, noch der griechischen Antike gerecht werdenden) Interpretation kamen.

Je mehr ich mich in den Text vertiefte, desto stärker wurde mein Eindruck, dass Adorno / Horkheimer bei ihrer Interpretation nicht vom Urtext der "Odyssee", sondern von schon vorhandenen Interpretationen ausgingen.
Der "Odyssee"-Exkurs berührt so gesehen die Frage, ob Homers Odysseus wirklich auf dem Weg zum bürgerlichen Individuum war, überhaupt nicht. Allenfalls geht es darum, ob Odysseus gemäß einer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aktuellen, von der Psychoanalyse, dem Marxismus (historischen Materialismus) und dem bürgerlichen Fortschrittsgedanken inspirierten Interpretation Vorläufer des "aufgeklärten" bürgerlichen Menschen war.

Der zweite Eindruck: es ging Adorno / Horkheimer entweder gar nicht um die Antike - oder sie hatten eine Vorstellung von der antiken Gesellschaft, die mit dem, was wir über die griechische Gesellschaft zu Homers Zeit (und noch lange nach ihm) wissen, nicht viel zu tun hat.

Ein Beispiel zur Verdeutlichung:
Der Träger des Geistes, der Befehlende, als welcher der listige Odysseus fast stets vorgestellt wird, ist trotz aller Berichte über seine Heldentaten jedenfalls physisch schwächer als die Gewalten der Vorzeit, mit denen er ums Leben zu ringen hat. Die Gelegenheiten, bei denen die nackte Körperstärke des Abenteurers gefeiert wird, der von den Freiern protegierte Faustkampf mit dem Bettler Iros und das Spannen des Bogens, sind sportlicher Art. Selbsterhaltung und Körperstärke sind auseinandergetreten: die athletischen Fähigkeiten des Odysseus sind die des gentleman, der, praktischer Sorgen bar, herrschaftlich-beherrscht trainieren kann.
Genauer gesagt: A. / H. haben den Eindruck, es wären Kämpfe sportlicher Art. Ich sehe das anders: zur Zeiten Homers (und erst recht zur Handlungszeit der Odyssee, gut 400 Jahre vor Homer) und selbst in der "griechischen Klassik" waren diese athletischen Fähigkeiten zugleich die "selbsterhaltenden" bzw. überlebenswichtigen Fähigkeiten eines Kriegers. Beim waffenlosen Nahkampf und dem Spannen und Schießen mit einem schweren Kampfbogen war der unblutige, "sportliche", Wettstreit in erster Linie "Training" für den Ernstfall. Aus der Probe seiner Kraft und Geschicklichkeit, die Odysseus gibt, wird schnell blutiger Ernst - er erschießt die "Freier" / Thronrivalen.
Noch zur Zeit Platons, fast 400 Jahre nach Homer, war das harte athletische Körpertraining der Epheben (jedenfalls offiziell) dazu bestimmt, die jungen Männer zu ausdauernden und kräftigen Soldaten auszubilden. Platon schlug nicht ohne Grund vor, die Übungen wieder "kriegsnäher" zu gestalten, als es zu seiner Zeit üblich wurde. Den reinen "Gentlemen"-Sportler gab es im antiken Griechenland wahrscheinlich erst nachdem sich in hellenistischer Zeit Berufs- und Söldnerarmeen gegenüber den "Bürgermilizen" durchgesetzt hatten. Wobei die Athleten, die z. B. in Olympia antraten, schon lange vor Plato Zeit und wahrscheinlich nicht lange nach Homers Zeit im heutigen Sinne "Profis" waren. Aber weiter:
Die von der Selbsterhaltung distanzierte Kraft gerade kommt der Selbsterhaltung zugute: im Agon mit dem schwächlichen, verfressenen, undisziplinierten Bettler oder mit denen, die sorglos auf der faulen Haut liegen, tut Odysseus den Zurückgebliebenen symbolisch nochmals an, was die organisierte Grundherrschaft real ihnen längst zuvor antat, und legitimiert sich als Edelmann.
A. und H. schreiben hier offensichtlich nicht von der Zeit Homers: erst einmal war die Kraft des "Berufskriegers" Odysseus nicht von der Selbsterhaltung getrennt, dann dürfte zu bezweifeln sein, dass Odysseus der "Feudalherr" seiner Rivalen war - es waren eindeutig "Edle", keine "Knechte / Sklaven". Odysseus erschießt seine Rivalen keineswegs symbolisch - nur wenn man die Handlung unmittelbar nachdem Odysseus den Bogen gespannt und den Pfeil durch Öhre der zwölf Streitäxte geschossen hat, abbricht, könnte man von einem "sportlichem Sieg" sprechen. Es stellt sich außerdem die Frage, was denn den "Freiern" durch Odysseus Grundherrschaft "real angetan" wurde - und wieso sich Odysseus durch den Sieg im Faustkampf und im Bogenkampf als "Edelmann" legitimiert. Er zeigt nur, dass er stark und geschickt ist. A. und H. unterstellen offensichtlich, dass zu Homers Zeiten eine Gesellschaftsordnung geherrscht hätte, die es dem "einfachen Mann" unmöglich gemacht hätte, ein guter Faustkämpfer und Bogenschütze zu werden. Ich vermute eine falsche Analogie: im Mittelalter konnte sich ein Ritter durch seine Fähigkeiten im Kampf zu Pferde als "Ritter" legitimieren, weil ein einfacher Bauer weder die Mittel für Rüstung, Waffen und den Unterhalt eines Schlachtrosse, noch die Zeit für die nötigen Waffenübungen gehabt hatte. Aber sowohl im Faustkampf wie im Bogenschießen konnte ein Bauer durchaus einem Ritter überlegen sein!
Es könnte auch sein, dass A. / H. an die Verhältnisse im frühen Industriezeitalter dachten: ein Fabrik- oder Landarbeiter hatte nicht die Gelegenheit, sich sportlich so zu üben wie ein "Gentleman" aus den besitzenden Ständen. Allerdings reichte es im 19. Jahrhundert überhaupt nicht aus, ein guter Sportler zu sein, um als "Gentleman" anerkannt zu werden.
Wie auch immer: "Odysseus" als Beispiel für einen Vorläufer des bürgerlich-aufgeklärten Menschen - oder als frühes Beispiel eines Grundherren und "Gentlemans" - funktioniert einfach nicht - es sei denn, man übernimmt exakt die Vorstellungen und (Vor-)Urteile Horkdornos über Homer, Odysseus und ihr gesellschaftliches Umfeld.

Jedenfalls interpretieren Adorno und Horkheimer eher etwas in die Odyssee hinein, als heraus!

Sonntag, 13. April 2008

Odysseus - der erste "bürgerliche" Mensch?

Nachdem ich einen Bischof für die Art und Weise kritisierte, wie er Homers "Odyssee" als mythische Belegstelle für seine These heranzog (Marginalie: Warum lehnte Odysseus die Unsterblichkeit ab?) will ich über den wohl bekanntesten Fall, in dem die "Odyssee" als Steinbruch einer modernen philosophischen These verwendet wurde, nicht schweigen.

Ich meine natürlich Theodor W. Adorno und Max Horkheimer und ihre Deutung der homerischen Odyssee in ihrem berühmtesten Werk, der Aufsatzsammlung Dialektik der Aufklärung.
In der "Dialektik der Aufklärung" geht es zentral um die Fehlentwicklung der Zivilisation seit der Aufklärung, die im "Faschismus" kulminiert - wobei Horkheimer/Adorno vor allem an den deutschen "Nationalsozialismus" mit seinen Vernichtungskriegen und seinem millionenfachen, industriell organisierten Mord dachten.
Ihre zentrale These dabei ist, dass das Scheitern der Aufklärung, das zu einer Barbarei führte, das jeden noch so grausamen "Barbaren" der vorindustriellen Zeit vor Entsetzen hätte erbleichen lassen, bereits in der „instrumentellen Vernunft“ ihres Denkens angelegt ist.
Aus der "instrumentellen Vernunft" (die z. B. technischen Fortschritt als Machtinstrument gegenüber den einzelnen Menschen gebraucht) und ihrer Anwendung im Kapitalismus entsteht der Faschismus als logische Fortsetzung. Ich hoffe, dass philosophisch und soziologisch beschlagene Leser mich für diese etwas schräge Darstellung nicht schlagen werden.
Der "Odysseus-Exkurs" in dieser Sammlung wird Adorno zugeschrieben.
Adorno begreift (so verstehe ich ihn jedenfalls, ganz leicht verständlich ist der Text nämlich nicht) die Odyssee als Allegorie. Anhand der "Odyssee" veranschaulicht er die Entstehung des "bürgerlichen Individuums" bzw. "des autonomen Selbst". Odysseus kämpft gegen die Abhängigkeiten von der Natur und den die Natur interpretierenden Mythen. Die Natur erscheint in Gestalt der Götter, Nymphen und Ungeheuer gegen die er kämpft, die er überlistet und denen er widersteht. Er gewinnt diesen Kampf durch die Anwendung der List bzw. der instrumentellen Vernunft und durch Triebunterdrückung (er widersteht den Sirenen, der Kirke, der Kalypso usw.).
Die List (alias instrumentelle Vernunft) bildet den Kern des modernen Tauschprinzips, deren Äquivalent in der mythischen Zeit im Opfer bereits angelegt ist. (So wurde in der Regel nur ein Teil der Opfertiere wirklich dem menschlichen Gebrauch entzogen, also geopfert.) Das Moment des "Betruges im Opfer" setzt sich fort in der Listigkeit des Odysseus. Er setzt der Natur sein Bewusstsein entgegen. Indem er die Natur bekämpft, verleugnet er einen Teil seiner selbst, die Triebgesteuertheit. Diese Selbstverleugnung ist bereits eine Form der für die bürgerliche (= kapitalistische) "aufgeklärte" Gesellschaft typischen Entfremdung.
In Adornos/Horkheimers allegorischer Deutung stehen verschiedene Abenteuer des Odysseus für verschiedene geistige Zustände des Helden, die zugleich repräsentativ für die verschiedenen Stufen der "Zivilisationsgeschichte" ist - einer Entwicklung vom vorbewussten Denken über den Mythos, das Epos zur Ratio (und damit der Aufklärung).
Die Lotophagen stehen für einen vormythischen Geisteszustand (Zeitlosigkeit, scheinbares Glück durch Vergessen). Da sich aber Odysseus in der Zeit durch Vernunft und Fortschritt konstituiert, kann er ein Bleiben bei den glücklichen Lotosessern nicht dulden, da das einen Rückfall in die vormythische Zeit und damit den Zustand der Bewusstlosigkeit wäre.
Polyphem, der Zyklop, steht für einen Zustands der Barbarei, der Gesetzlosigkeit und des Mythos. Der Zustand der Gesetzlosigkeit, der Unordnung im Denken und Handeln, wurde von Odysseus überwunden. Um sich aus der Höhle des Polyphems retten zu können, muss Odysseus sich selbst verleugnen - er verleugnet seinen Namen - also einen Tausch eingehen. Indem er sich so verleugnet, entsagt er seinem Status als Subjekt. Um wieder Subjekt zu sein, gibt er auf der Flucht seinen Namen preis - obwohl er sich damit der Rache durch Polyphems Vater Poseidon aussetzt.
Die Zauberin Kirke repräsentiert die magische Stufe der Bewusstseinsentwicklung. Sie führt ihre Opfer in einen Zustand des Vergessens (vorbewusster, "animalischer" Zustand - bei Kirke wörtlich zu nehmen: sie verwandelt Männer in Schweine). Sie ist Prototyp der Hetäre (worunter Adorno offensichtlich eine "Femme Fatal" verstand und keine gebildete Prostituierte). Auch hier besteht wieder die Gefahr des Rückfalls in die vormythische Zeit des triebgesteuerten Handelns, des Verlustes von Selbstbewusstsein. Kirke sei das Urbild der Frau als "Naturwesen", die in der patriarchalen Gesellschaft in der Ehe nur als Machtempfangende bestehen kann.
Odysseus' Frau Penelope und die Heimkehr nach Ithaka steht für den zustand der Ratio, des verstandesmäßigen Denkens. Sie setzt die von Kirke eingesetzten Prinzipien fort (die Selbstentfremdung der Frau in der patriarchalen Gesellschaft). Penelope hat die Werte dieser patriarchalischen Gesellschaft völlig verinnerlicht.
Der Hades, das Totenreich, steht für das Reich der Mythen und Bilder. Odysseus erkennt ihre "Unwahrheit" (sieht, das es nur leblose Schatten sind) und erhebt sich als Subjekt über sie. Erst wenn er die Irrationalität der Mythen erkannt hat, kann er wirklich heimkehren. Hierin liegt das bürgerliche Prinzip der Heimat begründet, dem alle Sehnsucht des Subjekts gilt, das aber zugleich die Entfremdung in sich trägt.

Odysseus, der Prototyp des aufgeklärten Bürgers, kann nur Subjekt sein, indem er immer wieder Triebverzicht übt, mit ordnender Vernunft die innere und äußere Natur beherrschbar macht. Als Subjekt sichert er sich ab in den bürgerlichen Werten von Heimat und Eigentum. Das Tauschprinzip beherrscht stets sein Handeln. Um Macht über die Natur auszuüben, muss er ständig Verzicht üben und einen Preis zahlen - den Preis der Entfremdung.

***

Bezeichnend finde ich, dass Ardorno / Horkheimer fast immer
von "der Aufklärung" oder "der Vernunft" schreiben - und nicht von der Anwendung instrumenteller Vernunft für gelegentlich auch "unvernünftige" Zwecke (im Sinne einer "lebenspraktischen Vernunft"). Um Odysseus' Taten beurteilen zu können, müsste man sich also seine Ethik ansehen.
Nach dem Verlassen des "dank" seiner "instrumentellen Vernunft" eroberten, geplünderten und niedergebrannten Trojas überfällt er mit seiner Gefolgschaft die mit den Trojanern verbündeten thrakischen Kikonen. Damit handelt er nicht gegen die zu seiner Zeit gültigen "moralischen Gesetze" (Odysseus würde sagen: "Wer meinen Feind unterstützt hat, verfällt ebenfalls der Rache!"). Er folgt dabei, wie schon vor Troja, einer brutalen "der Zweck heiligt die Mittel"-Ethik. Das ändert sich im Verlauf der Odyssee.
Oberflächlich gesehen folgt seine Rache an den "Freiern" seiner Frau, also seinen Rivalen um die Macht, einem ähnlichen Schema - will er zurück auf den Thron, müssen erst die Rebellen vernichtet werden. Allerdings hat Odysseus dabei etwas, was er vorher nicht hatte: ein schlechtes Gewissen. Er erkennt, dass er mit seinen (politischen) Gegnern auch die fähigsten Männer Ithakas getötet hat. Außerdem handelte er, anders als vor Troja und bei den Kikonen, nicht ausschließlich aus egoistischen Motiven. Modern gesprochen stellt er die "staatliche Handlungsfähigkeit" wieder her. (Die Moglichkeit einer "geregelten Machtübernahme" besteht nicht, solange Penelope nicht Odysseus für tot erklärt hat. Außerdem ist sie zweifelhaft, da die Rebellen untereinander zerstritten sind - jeder von ihnen wäre gerne König.) Wenn man so will, kann man hier Ansätze einer "Staatsraison" erkennen. Soweit ist Adornos/Horkheimers Ansatz zwar arg überspitzt, aber nicht abwegig.
Aber die "ethische Vernunft" ist auch Thema der Odyssee. Geradezu revolutionär im Vergleich zu anderen, auch wesentlich jüngeren, Epen und Sagen, ist das Ende: Die Göttin Athene (Göttin der Weisheit) schlichtet den Streit zwischen Odysseus und den Verwandten der erschlagenen Freier. Oder, allegorisch interpretiert: die Weisheit ("ethische Vernunft") überwindet die Blutrache, die die Folge der "instrumentellen Vernunft" des Odysseus, die zum Massakers an den "Freiern" führte, ist.

Aber zurück zur Adorno/Horkheimers Odyssee-Interpretation. Dass sie anachronistisch ist, in dem Sinne, dass Homer bestimmt nicht absichtlich das hineingeschrieben hat, was sie aus dem Epos herauslesen, wissen sie selber. Im Grunde benutzen sie den allgemein bekannten Stoff als "Steinbruch" für griffige Beispiele - in wenig griffiger Sprache.
Einschub: Der Kontrast zwischen dem verschrobelt-bildungsbürgerlichen Professoren-Deutsch "Horkdornos" und dem ebenfalls stark vom heutigen Sprachgebrauch abweichendem Deutsch der mir vorliegenden Odyssee-Übersetzung von Johann Heinrich Voß schmerzt beinahe körperlich. Die Sprache der voßschen Versübersetzung ist konstruiert, eben eine "Kunstsprache", die niemals Umgangsprache war oder hätte sein können. Damit endet aber auch schon die Gemeinsamkeit mit Adorno/Horkheimer. Voß' über 200 Jahre alte Odyssee-Übersetzung ist trotz der manchmal ungewöhlichen Wortwahl auch heute noch gut verständlich. Die Syntax ist klar, trotz der Fesseln des strengen Versmaßes. Ein "schönes" Deutsch - so wie Homer ein klassisches "schönes" Griechisch schrieb. Ich bin noch niemandem begegnet, der Adornos oder Horkheimers Deutsch "schön" fand. Entschuldigung, das musste sein!

Ich halte Odysseus keineswegs für einen Vorläufer / Prototypen des modernen, aufgeklärten, aber stark "verkopften", triebunterdrückenden bürgerlichen Individuums. Auch von dem Modell der stufenweisen geistigen Entwicklung halte ich wenig.

Odysseus liegt keineswegs außerhalb der Tradition der griechischen Heroen. Schon Theseus, Iason, Oidipous, Daidalos usw., sogar der übermenschlich starke Herakles, bestanden ihre Abenteuer nicht nur mit körperlicher Stärke und Mut, sondern immer auch mit einer "ordentlichen Portion Grips". Seine List, die er gegen die "Naturgewalten" einsetzt, ist also nichts Neues. Neu ist allerdings, wie sehr Odysseus als unverwechselbares menschliches Individuum - und nicht als Idealtypus - gezeichnet wird. Darüber hinaus ist Odysseus weniger ein strahlender Held, sondern er ist ein im Großen und Ganzen vorbildlicher Charakter - mit "kleinen" Fehlern und deutlichen Schwächen. Odysseus wagt - wenn auch mit dem Beistand einer Göttin - Widerstand gegen göttliche Gesetze. Obwohl er weiß, dass er seinem Schicksal nicht entrinnen kann, versucht er es so weit wie möglich in die eigenen Hände zu nehmen.
Triebverzicht ist nicht seine Sache: Er zeugt mit der Kirke den Telegonos und teilt mit Kalypso das Lager. Er ist habgierig und legt seiner Habgier nur da Zügel an, wo unmittelbare Gefahr droht. Selbstbeherrschung ist bei ihm nur Taktik.

Odysseus markiert in der Tat einen wichtigen Schritt in Richtung "Aufklärung" - im Sinne der Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Aber er markiert keine Etappe auf dem Weg zum gut funktionierenden bürgerlichen Individuum.
Er ist ein "Selberdenker", ein Querkopf, ein hinterlistiger Bursche. Ich kann ihn mir mühelos 1500 Jahre nach Homer als Kommandant eines Wikingerschiffes oder noch mal 750 Jahre später als Freibeuterkapitän vorstellen - aber auch als Befehlshaber auf einem Expeditionsschiff des 19. Jahrhunderts. Aber nicht als Kapitän eines Containerfrachters oder einer Lenkwaffenfregatte oder gar als "Wirtschaftskapitän". Er ist alles andere als ein in irgend einer Weise "bürgerlicher" Mensch. In der heutigen Zeit wäre ein Mensch mit seiner unangepassten, rebellischen und skrupellosen Natur ein gesellschaftlicher Aussenseiter.
Nachtrag: ich habe meinen Text der besseren Verständlichkeit zuliebe leicht überarbeitet. Irgendwie steckt die "Dialektik der Aufklärung" sprachlich an.;-)

Samstag, 5. April 2008

Marginalie: Warum lehnte Odysseus die Unsterblichkeit ab?

Aus dem Statement von Bischof Huber auf der Pressekonferenz "Woche für das Leben" "Gesundheit – höchstes Gut?", Berlin:
Besonders anrührend wird das in einem alten Epos erzählt, das dem Menschheitstraum von Unsterblichkeit und Selbstentfaltung etwas anderes entgegensetzt: Der Dichter Homer erzählt in der Ilias, dass Odysseus die Unsterblichkeit, die ihm von der Nymphe Kalypso angeboten wurde, ablehnte. Er zog es vor, an der Seite seiner Frau Penelope alt zu werden. Liebe und Solidarität sind stark wie der Tod. Sie helfen, Leiden standzuhalten und den Grenzen menschlichen Lebens ins Gesicht zu sehen. Solidarität und Gerechtigkeit sind darum für das Gesundheitssystem so wichtig wie der Wunsch der einzelnen nach Gesundheit und das Recht auf eine Heilbehandlung.
Bemerkenswert finde ich zunächst, dass ein Bischof auf einen heidnischen Mythos zurückgreift, um eine christliche Position zu untermauern. Der Grund dürfte darin zu suchen sein, dass ein geeignetes Beispiel im biblischen Kanon fehlt.
Allerdings stimmt die Darstellung des Bischofes nicht. Im ersten Gesang der Odyssee ist ausdrücklich davon die Rede, dass der Rat der Götter beschließt, Odysseus die Heimkehr zu ermöglichen. (In seinem Zorn bat der von Odysseus geblendete Zyklop Polyphem seinen Vater Poseidon, Odysseus auf dem Meer umkommen zu lassen oder seine Heimkehr zu verhindern. Wobei Odysseus' Tat angesichts der Absicht des Zyklopen, ihn und seine Gefährten zu fressen, Notwehr war.) Der Götterbote Hermes fordert die Nymphe Kalypso auf, Odysseus, den sie sieben Jahre lang auf ihrer Insel zurückgehalten hat, ziehen zu lassen. Obwohl Kalypso ihm Unsterblichkeit verspricht, wenn er bei ihr bleibt, wünscht Odysseus sie zu verlassen, um zu Penelope zurückzukehren.
Odysseus ist also Gefangener bzw. Sklave der Kalypso, und ihr Versprechen ist ein Versuch, ihn "freiwillig" im goldenen Käfig auf der verborgenen Insel Ogygia zu halten. Es ist gerade der Drang zur Selbstentfaltung - neben der Loyalität zu seiner Königin / Frau und seinem Pflichtbewusstsein als König Ithakas - der Odysseus auf Unsterblichkeit in Unfreiheit verzichten lässt.
Dieser Abschnitt der Odyssee taugt also nicht als Beispiel für die Aussage: "Liebe und Solidarität sind stark wie der Tod".

Außerdem drängt sich mir, als praktizierendem Heiden (wenngleich vorzugsweise mit Bezug auf ein anderes Pantheon) eine Frage auf: Wer ist Kalypso, wenn sie die Macht über Leben und Tod hat?
Die Antwort ist - für mich - offensichtlich: eine Totengöttin. Dafür spricht ihr Name ("die Verbergende"), dafür spricht, dass ihre Insel mit Schwarzpappeln, Zypressen, Eppich/Efeu und Veilchen bewachsen ist, bei den alten Griechen - und bis heute - typischen Friedhofsbäumen und -Blumen. Sie lässt Odysseus auf Hermes' Geheiß frei - Hermes ist nicht nur Götterbote, sondern auch Psychopompos, Seelenführer, er geleitet die Seelen der Toten in die Unterwelt. Dafür spricht auch, dass Odysseus siebzehn Tage, Tag und Nacht, so segelt, dass die große Bärin stets zur Linken steht. Siebzehn Tage und Nächte Kurs Nordost, bei gutem Wind, das sind sogar mit einem einfachen Segelfloß mindestens 2500 Kilometer. Das große Mittelmeer ist zu klein dafür. Ogygia ist nicht der "Nabel des Mittelmeers", sondern eine Insel im bodenlosen Meer, am Rand der Zeit.
Odysseus verlässt Ogygia - und kehrt ins Leben zurück.

Donnerstag, 3. April 2008

Rassismus - leider immer noch ein Thema

Rassismus ist für mich ein Dauerthema, spätestens seitdem ich vor fast acht Jahren einen ausführlichen Artikel darüber schrieb: „Menschenrassen gibt es nicht!" Bringen die Ergebnisse der Genforschung das Ende des Rassismus?

Der aktuelle Anlass für mich, wieder einmal auf das Thema "Rassismus" zurückzukommen, ist ein hässlicher Vorgang, der diese Woche durch die Nachrichten ging: Eine Pfarrersfamilie, die ursprünglich aus Westdeutschland stammte, hat die thüringische Kleinstadt Rudolstadt wieder verlassen. Sowohl Frau Neuschäfer als auch ihre fünf Kinder sahen sich rassistischer Anfeindungen ausgesetzt. Ihre Kinder seien wegen ihrer dunklen Haut beleidigt und verprügelt worden. Der Bürgermeister des Ortes sieht "keine Ausländerfeindlichkeit". Vielleicht hat er recht, denn Frau Neuschäfer ist Deutsche - mit einem aus Indien stammenden Vater.

Sehr aufschlussreich finde ich folgendes Interview mit Herrn Neuschäfer, das heute in der "Netzeitung" erschien: Flucht aus dem Osten: "Ich hätte meine Frau in die Psychiatrie bringen müssen"

Um rassistisch zu sein muss man es nicht unbedingt ein Rassist sein. Das klingt paradox, aber ein Rassist hat eine rassistische Ideologie, zumindest im Hinterkopf. Wobei diese Ideologie nicht zwangsläufig "rechts" sein muss und auch nicht zwangsläufig mit dem biologischen bzw. biologistischen Rassebegriff arbeiten muss. Es gibt einen "Rassismus ohne Rassen", so wie es einen "'Antisemitismus ohne Juden" gibt.
Der Alltagsrassismus muss noch nicht einmal böse gemeint sein, und selbst jemand, der nichts gegen Schwarze (Asiaten, Orientale, Inder usw.) hat, kann rassistisch sein. Rassismus fängt nicht erst beim "Rassenhass" an.
Rassismus heißt, Menschen anhand bestehender oder auch nur konstruierte Unterschiede zu klassifizieren. (Zum Beispiel: wer eine sehr dunkle Haut hat, kommt in die Schublade "Schwarzafrikaner", wer blond und hochgewachsen ist, gilt als "nordisch" usw. - auch wenn das mit der realen Herkunft nichts zu tun hat.) Diesen - oft nur vermuteten - ethnischen oder "rassischen" - Klassen werden bestimmte Eigenschaften zugeordnet, typischerweise anhand unreflektierter Vorurteile und Klischees.
Es ist rassistisch, wenn Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft, Gesichtsform usw. abgewertet werden. Aber es gibt auch einen "Positivrassismus": "die" Schwarzen sind musikalisch, "die" Japaner sind fleißig, "der" Südamerikaner temperamentvoll,"der" Nordeuropäer kann gut organisieren usw. usw..
Dass solche Annahmen blanker Unsinn und kein Stück plausibler als die Vorstellung vom "vom Natur aus kulturfernen" Schwarzen sind, ist eigentlich klar. Eigentlich - denn auch ich bin dagegen nicht immun - und manchmal deshalb selber rassistisch.
Rassistische Tendenzen hat fast jeder (auch ich), es ist ein hartes Stück Arbeit, sie zu erkennen und zu versuchen, nicht mehr rassistisch zu sein.

Gerade derjenige, der von sich im Brustton der Überzeugung behauptet, doch "kein Rassist" zu sein, ist erfahrungsgemäß anfällig für rassistisches Denken. Manchmal sind solche Menschen sogar "echte" Rassisten, also mit entsprechender Ideologie.

Woher kommt der "Alltagsrassismus"?
Kein Mensch ist dagegen immun, Vorurteile und dämliche Verhaltensweisen aufzunehmen, vor allem dann, wenn sie sogar Bestandteil der Erziehung sind.

Eine mögliche Ursache, weshalb "im Osten" Deutschlands und hier besonders "in der Provinz" der Alltagsrassismus anscheinend erheblich stärker ist, als in den Metropolen und "im Westen", erwähnt Neuschäfer in seinem Interview:
Wir haben Fremdenfeindlichkeit selbst im kirchlichen Rahmen erlebt, etwa im Kinderkreis unseres Sohnes. Diese Ablehnung ist auch ein Problem der ehemaligen DDR, wo Monokultur und Kollektivismus das akzeptieren anderer Kulturen erschwerten. Da ist vieles unaufgearbeitet geblieben. Denn man gilt schnell als Nestbeschmutzer, wenn man dieses Problem anspricht.
Um eins Klarzustellen: auch "im Westen" und in Großstädten gibt es viel zu viel Rassismus. Ich thematisiere den offensichtlich tief verwurzelten "Kleinstadtrassismus" nicht, um die "Ossis" in die Pfanne zu hauen:
Der Thüringen-Monitor, eine Studie zu den politischen Einstellungen der Bürger, hatte 2007 zum Ergebnis, dass 48 Prozent der Befragten der Meinung sind, Ausländer kämen, um den Sozialstaat auszunutzen, 52 Prozent meinen gar, die Bundesrepublik würde durch Ausländer überfremdet, 19 Prozent antworten, Ausländer sollten nur unter eigenen Landsleuten heiraten.
- Thüringen ist übrigens das Bundesland, in dem es am wenigsten "Ausländer" gibt: ganze 2,0 Prozent "Ausländeranteil" - Bundesdurchschnitt: 8,8 Prozent, das Bundesland mit dem höchsten "Ausländeranteil" ist Hamburg mit 14,2 Prozent. Zahlen gemäß statistischem Bundesamt, Stand 2006.
Das entspricht einer alten Erfahrung: Rassismus gedeiht dort, wo Vorurteile und Klischees nicht durch tägliche Erfahrung korrigiert werden.
Ich sehe eine lange rassistische Tradition, die kaum unterbrochen wurde, und die buchstäblich in "Kaisers Zeiten" begann.
Die DDR war zwar offiziell antirassistisch, und auch die Alt-BRD brach nicht wirklich konsequent mit der rassistischen Tradition, aber tatsächlich konservierte die DDR-Realität viele alte Ängste und Klischees. Glaubte man den DDR-Medien, kam die Ursache aller Probleme immer "von außen", meistens aus dem Westen, aber auch aus "sozialistische Bruderländern" wie Polen. Dennoch kann man die
intolerante Staatsdoktrin schwerlich für den gesamten Rassismus in Thüringen und anderen ehemaligen DDR-Gebieten verantwortlich machen. Schließlich waren viele von denen, die sich heute rassistisch betätigen, 1990 noch nicht einmal geboren.

Rassismus ist bei uns immer noch so sehr Normalität, dass wir ihn in unseren alltäglichen Handlungen und Überzeugungen nicht einmal bemerken. Politiker - auch "im Westen", auch seitens demokratischer Parteien appellieren ungeniert an rassistische und nationalistische Vorurteile.
Mehr noch: die meterhohe Zäune um die "Festung Europa", der mit brutaler Härte geführte Kampf gegen "illegale Einwanderer", werden als "normal" wahrgenommen. (Hierzu empfehle ich: Der eiserne Vorhang steht und wird täglich neu ausgebaut von che 2001.)
Faktisch ist das Fremdenfeindlichkeit in Reinkultur, durchaus auch mit rassistischen Untertönen. Auch die faktische Abschaffung des Asylrechtes ist offen fremdenfeindliche Politik. Diesen harten Fakten stehen meistens nur "weiche" Lippenbekenntnisse gegen Rassismus gegenüber.

Noch etwas:
Wenn jemand behauptet, es gebe "kaum Rassismus", z. B. "in unserer Stadt", ist das eine schwere Beleidigung gegenüber jenen, die unter rassistischen Überbegriffen leiden. Solche Behauptungen ignoriert die Erfahrungen hunderttausender Menschen in Deutschland, die das, als Betroffene oder als Betroffenen nahe Stehende, besser als jeder Außenstehende beurteilen können.
Wer Rassismus leugnet, stellt sich auf anmassende und verletzende Art "über" die Opfer des Rassismus: es wird bestritten, dass das, unter dem sie leiden, real ist.

Sonntag, 9. März 2008

Bin ich Naturalist?

Im Großen und Ganzen: Ja. Aber nur im Großen und Ganzen.
(Ich erlaube mir mal die Arroganz, all jene, die nicht wissen, was "Naturalismus (Philosophie)" bedeutet, auf die Wikipedia zu verweisen: Naturalismus (Philosophie).)
Eigentlich könnte ich die Frage guten Gewissens mit "Ja" beantworten, denn ich bin davon überzeugt, dass sich alles im Universum als naturhaftes Geschehen beschreiben lässt. Oder, in Schlagworten: "Alles ist Natur" und "Übernatürlich ist ein leeres Wort".
Das Problem ist allerdings, dass ich Phänomene für "völlig natürlich" halte, die in unserer Kultur gemeinhin der Sphäre des "Übernatürlichen" zugeordnet werden - oder, was auch vorkommt, schlicht geleugnet oder "wegerklärt" werden - oder, was aus meiner Sicht besonders problematisch ist, mit wolkigen, meist "esoterischen", Ideologien eher instrumentalisiert als akzeptiert werden. Ein konkretes Beispiel: Synchronizitäten im Sinne des Physikers Wolfgang Pauli und des Tiefenpsychologen C. G. Jung. Ich bin mir völlig darüber im klaren, dass der Begriff der "Synchronizität" eine "Lizenz für Magie" bedeutet, wie es eine mit mir befreundete Skeptikerin (im Sinne der Skeptiker-Bewegung) ausdrückte. Wobei ich unter "Magie" nicht ganz dasselbe verstehe wie das magisches Denken im Sinne der Psychologie - und mit dem meist eher beklagenswertem Phänomen der Magisierung hat sie recht wenig zu tun.

Aber lassen wir die Probleme, die sich aus meiner sehr speziellen Sichtweise ergeben, einmal beiseite. Zurück zur Frage, ob ich Naturalist bin oder nicht.
Es ist sinnvoll, zwischen dem methodischen Naturalismus der Forschung und einem weltanschaulichen (besser: ontologischen) Naturalismus zu unterschieden. Ohne methodischen Naturalismus lässt sich nicht "sauber" naturwissenschaftlich (bzw. abstrahiert: erfahrungswissenschaftlich) argumentieren. Ich darf z. B. als Meteorologe weder den Sturmgott Wodan noch den heiligen Petrus bemühen, auch die Einflüsse eventueller Regenzauber sollte bei Wettervorhersagen nicht in Betracht gezogen werden. Dass sagt aber gar nicht über die religiösen - oder magischen - Praktiken des jeweiligen Meteorologen aus.
Anders als anderen, die sich mit dieser Frage beschäftigt haben, fällt es mir leicht wissenschaftliche und sprituelle bzw. metaphysische Aussagen als zwei Seiten derselben Wirklichkeit aufzufassen. Allerdings befinde ich mich dabei in einer relativ bequemen Position, da ich etwas anhänge, was gern und nicht ganz richtig "Naturreligion" genannt wird. "Religiöse Wahrheiten" in Form einer allgemein verbindlichen Offenbarung - etwa in Form einer Schöpfungsgeschichte - und naturwissenschaftliche Aussagen, etwa über die Evolution, lassen sich für den Gläubigen nicht ganz so leicht als "perspektivisch" oder "komplementär" deuten, wie "normale" Mythen, die Wahrheit enthalten, ohne im Wortsinn "wahr" zu sein.
Umgekehrt fällt es vielen onthologisch naturalistisch orientierten Denkern schwer, über (aus meiner Sicht nur vermeintliche) Widersprüche zwischen Mythos und empirisch erhärtbarer Wissenschaft "hinwegzusehen". Den "schwachen" Naturalismus kann man als pragmatische Vorgabe sehen, die es erlaubt, ungestört Wissenschaft zu betreiben.
Damit lässt sich meine Frage zum Teil beantworten: Ich bin also - mindestens - methodischer Naturalist.

Prof. Dr. Bernulf Kanitscheider, Dozent für Philosophie der Naturwissenschaften an der Uni Giessen, unterscheidet, David Armstrong folgend, zwischen einem "starken" und einem "schwachen" Naturalismus. (In seinem Aufsatz "Naturalismus, metaphysische Illusionen und der Ort der Seele", den ich im Brightsblog fand.) "Schwacher" Naturalismus bedeutet, dass das Universum in seinem empirisch, aber auch theoretisch fassbaren Bereich ohne "Rekurs auf autonome spirituelle Entitäten" (also: Götter, Geister und Dämonen) besondere Lebenskraft oder teleologische und transzendente Wirk-Faktoren erkannt werden kann. Dieser schwache Naturalismus schließt einen transzendenten Seinsbereich nicht aus - es könnte also Götter, Geister und Dämonen geben - sondern behauptet nur, dass für das Verständnis des Kosmos auch in den höheren Entwicklungsstufen (Leben, Bewusstsein, Erkennen) "übernatürliche" Faktoren nicht gebraucht werden - nach dem bewährten Grundsatz der ontologische Sparsamkeit.
Das unterscheidet sich insofern vom methodischen Naturalismus, da ein methodischer Naturalist ja durchaus von z. B. der Existenz einer "göttlichen Vorsehung" ausgehen kann, oder von einer transzendenten Begründung moralischer Regeln.
David Armstrong hat darüber hinaus auch einen "starken Naturalismus" verteidigt, wonach ein Transzendenzbereich ausgeschlossen wird und somit das prinzipiell mit den Methoden der empirischen Wissenschaften erforschbare Universum alles ist, was es gibt. Diese Unterscheidung in schwachen und starken Naturalismus halte ich für ziemlich willkürlich: je nachdem, wie weit man das ontologische Sparsamkeitsprinzip anwendet, könnte eine Annahme einmal "schwach" und einmal "stark" naturalistisch sein. Es ist also eine rein subjektive Unterscheidung. Außerdem könnte man der Ansicht sein, dass z. B. Dämonen durchaus natürliche Wesenheiten sind - die Gaia-Hypothese, die die irdische Biosphäre als "Gesamtorganismus" sieht, wäre dafür ein Beispiel. So gesehen kann man an Dämonen "glauben", ohne sich in den Bereich der Transzendenz zu begeben. Ein anderes Beispiel wäre die "Schwarmintelligenz". ("Dämon" jetzt verstanden im Sinne einer nicht an einen einzelnen Körper gebundenen, aber durchaus substanziellen Intelligenz - nicht im Sinne "böser Geist" oder "Diener des Teufels".)

Kanitscheider plädiert dafür, den Naturalismus als philosophische Hypothese über die Welt anzusehen: Sie ist nicht direkt falsifizierbar, ist aber indirekt fallibel, weil kritisierbar. Er greift dabei auf Popper zurück, nach dessen Wissenschaftstheorie die Kritisierbarkeit ausreicht, um eine Hypothese als wissenschaftlich zu qualifizieren. Eine Widerlegung des Naturalismus erfolgt damit nicht durch Beobachtung oder Experimente, sondern durch Bezug auf die heute bewährten Theorien der Wissenschaft - genau so, wie wissenschaftliche Theorien nur selten durch direkte Erfahrungen überprüft werden, sondern indem Vorhersagen, die aufgrund dieser Theorien gemacht werden, empirisch entweder erhärtet oder falsifiziert werden. (Etwas durch Beobachtung oder Experiment ein für alle mal zu "beweisen" ist hingegen nicht möglich.) Des weiteren plädiert er für eine naturalistische Ethik , die ich grundsätzlich für sympathisch halte:
Ziel einer naturalistischen Ethik ist, dass Menschen nicht aus Selbstzweck irgendwelche Prinzipien erfüllen müssen, sondern dass alle ein aus ihrer eigenen Sicht gelungenes Leben führen können.
- aber genau darin liegt ein Problem, dass ich mit einem mehr als nur methodischen Naturalismus habe.
Dieses Problem habe ich weniger mit "dem" Naturalismus als vielen naturalistischen Denkern, und es besteht natürlich im bekannten "naturalistischen Fehlschluss", wobei ich der gebotene Kürze und der Bequemlichkeit halber wieder mal auf die Wikipedia verweise. (In seiner primitivsten, aber auch populärsten Form ist es der Fehlschluss, dass etwas das "natürlich" sei, auch "gut" sein müsse. Besonders fatal wird das "natürlich" dann, wenn Dinge für "naturgegeben" gehalten werden, die reine Konstrukte sind, die nirgendwo existieren, als im der menschlichen Gedankenwelt. Z. B. gibt es "in der (nichtmenschlichen) Natur" weder Völker, noch Rassen - und auch Begriffe wie "gesund" sind tatsächlich kulturell konstruiert. Es ist z. B. mit naturwissenschaftlichen Methoden allein nicht möglich, zu erkennen, ob ein bestimmter Mensch "gesund" ist. Relativ einleuchtend ist das bei Geisteskrankheiten, aber sogar bei Lipid-Werten macht es einen Unterschied, ob man unter "Gesundheit" etwa das persönliche Wohlbefinden versteht - oder den Zustand mit der statistisch höchsten Lebenserwartung, den Zustand maximaler Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz - oder gar den Zustand, der die Krankenversicherung am wenigsten belastet oder vielleicht sogar die Einhaltung eines niedrig angesetzten Normwertes, der einen möglichst großen Absatz an cholesterinsenkenden Medikamenten und diätetischen Lebensmitteln bewirkt. Grade die Beispiele, in denen "Gesundheit" aufgrund von wirtschaftlichen, religiösen, ideologischen bzw. machtpolitischen Gründen "definiert" wird, sind gar nicht so selten.

Es ist grade die Einsicht, dass auch der Begriff "Natur" kulturell konstruiert ist, dass mich gegenüber dem (ontologischen) Naturalismus skeptisch macht.

Meine Frage kann ich so beantworten: Ob man mich als Naturalist bezeichnet, hängt davon ab, welche Form des "Naturalismus" gemeint ist, und vor allem davon, was der Fragesteller für "natürlich" hält.
Natürlich ist diese schwammige Antwort nicht befriedigend.

Freitag, 7. März 2008

Zum Tode Joseph Weizenbaums

"Die Erde ist ein Irrenhaus. Dabei könnte das bis heute erreichte Wissen der Menschheit aus ihr ein Paradies machen."
Joseph Weizenbaum, Computerpionier, Computerwissenschaftler und Computerkritiker 1923 - 2008

heise: Der letzte Service: zum Tode von Joseph Weizenbaum.

Mir wird Professor Weizenbaum vor allem wegen ELIZA im Gedächtnis bleiben, einem von ihm entwickeltem Computerprogramm, das die Möglichkeiten der Kommunikation zwischen einem Menschen und dem Computer über natürliche Sprache aufzeigen sollte.
Was ELIZA wirklich aufzeigte, war, wie viele Versuchspersonen davon überzeugt waren, dass der Computer tatsächlich ihre Probleme verstand. Selbst wenn man sie darüber aufklärte, wie simpel gestrickt das ELIZA-Programm war, auf wie wenigen einfachen Regeln es beruhte, weigerten sie sich oft dies zu akzeptieren und blieben bei ihrer Projektion: "Der Computer hat mich verstanden".

Klar, Menschen reden auch mit ihrem Auto oder behaupten, dass ihr Haustier "jedes Wort verstehen" würde. Aber jeder geistig gesunde Mensch wird von einem Auto oder einem Hund nichts prinzipiell Unmögliches verlangen, etwa (wie im Falle ELIZAs) ein therapeutisches Gespräch. Offensichtlich war (und ist) der Computer für viele Menschen ein "magisches Gerät" und ein Programm eine Art "Zauber", dem prinzipiell unmögliche Dinge ohne auch nur einen Hauch Kritik zugetraut werden.
Man denke nur an das Vertrauen mancher "Sicherheitsexperten", dass der "Bundestrojaner" auf offensichlich übernatürliche Weise automatisch die Intimsphäre des Beschnüffelten respektieren würde. Oder vielleicht das Vertrauen darauf, dass der "Normalbürger" den "Magiern" der Softwareentwicklung "Übernatürliches" naiv zutraut.
Übrigens halte ich einen "Bundestrojaner", in der Form, wie er von einigen ersehnt, von anderen befürchtet wird, an sich für ein Stück Spyware, das die Fähigkeiten wirklich existierender Spyware in einem Maße übersteigt, dass der ganze "Trojaner" für absehbare Zeit wenig mehr als ein Stück IT-sciencefiction bleiben dürfte. Gut, wenn zuverlässig funktionierende Quantencomputer auf den Markt kommen - um starke Verschlüsselung zu brechen - und es bei der starken künstlichen Intelligenz zu einem Durchbruch kommt (von dem Weizenbaum mit einigem Recht erwartete, dass er nie kommen wird) können wir noch mal drüber reden.

Zum selber Nachsehen und Ausprobieren: ein ELIZA-Programm in PHP: PHPLinza.

Sonntag, 13. Januar 2008

Das Zeitalter der Effizienz - oder: was fehlt, ist Neugier

Wir leben in einer Zeit, in der die Quantität des "Wissens der Menschheit" geradezu unvorstellbare Ausmaße angenommen hat - und dieses Wissen im Großen und Ganzen dank moderner Kommunikationsmittel - unter denen das Internet das spektakulärste und leistungsfähigste ist - in einem früher unvorstellbaren Maße allgemein verfügbar ist.

Trotzdem scheint es an großen, zündenden Ideen zu mangeln. Sowohl in der Wissenschaft wie auch in der Kunst und erst recht in der Politik.

Mangelt es unserer Zeit an großen Geistern?
Die beste Antwort darauf, die ich kenne, gab ein Philosoph, der keiner sein wollte vor gut 30 Jahren in einem anonymen Interview für "Le Monde":
Ich träume von einem neuen Zeitalter der Wißbegierde. Man hat die technischen Mittel dazu; das Begehren ist da; die zu wissenden Dinge sind unendlich; es gibt die Leute, die sich mit dieser Arbeit beschäftigen möchten. Woran leidet man? Am "Zuwenig“: ungenügende, quasi-monopolisierte, kurze, enge Kanäle. Es geht nicht darum, eine protektionistische Haltung anzunehmen, um zu verhindern, dass die "schlechte" Information durchkommt und die "gute“ erstickt. Man müßte eher die Hin- und Her-Wege und -Möglichkeiten vermehren . Kein Merkantilismus à la Colbert auf diesem Gebiet. Was nicht heißen soll, wie man es oft befürchtet, Uniformisierung und Nivellierung von unten aus. Sondern im Gegenteil, Differenzierung und Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Netze.
Michel Foucault: "Der maskierte Philosoph - Gespräch mit Christian Delacampagne"; S. 18; in: "Von der Freundschaft - Michel Foucault im Gespräch"; Merve Verlag, Berlin

Ich würde es so formulieren: Das "Zeitalter der Wissbegierde" scheiterte bisher daran, dass der "Merkantilismus à la Colbert" so etwas wie eine heimliche Leitideologie der heutigen "westlichen Kultur" ist - mehr noch als die Marktgläubigkeit des fälschlicherweise "Neoliberalismus" genannten dogmatischen Kapitalismus, der seit etwa 1980 eine der wichtigsten Ideologien des "Westens" ist. Ironischerweise wandten sich jene, die sich in den 1930er Jahren "Neoliberale" nannten, genau gegen jene strenggenommen "neoklassische" Wirtschaftsideologie, die heute mit dem Begriff "neoliberal" verbunden wird.

Der Leitgedanke des Merkantilismus ist die Effizienz. Das mag angesichts der zur gleichen Zeit grassierenden Verschwendungssucht am Hofe Louis XIV. merkwürdig anmuten, aber Sinn und Zweck der merkantilen Wirtschaftsordnung war es, die nötigen Mittel vor allem für die fortgesetzten "Kabinettskriege" des damaligen Frankreich zu beschaffen. Colbert erreichte das, indem er die Finanz- und Wirtschaftspolitik Frankreichs nach kaufmännischen (merkantilen) Prinzipien ausrichtete, so handelte, als wäre Frankreich ein großes Unternehmen. (Heute würde man von einer Wirtschaftspolitik nach BWL-Prinzipien sprechen.)

Es entbehrt nicht einer gewissen historischen Ironie, dass der "Vater" der klassischen marktwirtschaftlichen Lehre, Adam Smith, ein entschiedener Gegner des Merkantilismus war - und das nicht wenige jener "Neoliberaler" (in der Lesart ihrer Kritiker - sie selbst nennen sich lieber "Marktwirtschaftler") de facto eine Wirtschaftspolitik nach merkantilistischen Prinzipien fordern. Ich nenne die Wirtschaftsordnung, die z. B. von der Initivative "Neue Soziale Marktwirtschaft" propagiert wird, deshalb merkantilistisch, weil sich in ihr die Interessen "der Wirtschaft" (gemeint: Großunternehmen) mit der "Staatsraison" eng verquicken. Merkantilistisch ist auch, dass der Bürger nicht als Souverän, sondern als "Werkzeug" gesehen wird. (Ich habe die INSM als Beispiel gewählt, obwohl ich diese Lobbybude der Metallindustrie für längst nicht so wichtig oder gefährlich halte, wie manche ihre Gegner glauben. Anderseits ist sie leider auch keine Institution, die sachlich und ehrlich über die Vorteile der Marktwirtschaft aufklären würde.)

Zurück zu Adam Smith. Er entwickelte sein System der liberalen Marktwirtschaft als Gegenentwurf zum absolutistischen Staatsverständnis eines Thomas Hobbes ("Leviathan") und den aus diesem Staatsverständnis heraus abgeleiteten merkantilistischen Wirtschaftssystem. (Das sich, vor allem wegen der protestantischen Arbeitsethik, in Vielem vom colbertschen System unterschied, aber das Prinzip ist ähnlich.) Hobbes sah den Egoismus als einzig bestimmende menschliche Triebkraft. Der Staat ist eine Einrichtung, um per Vertrag die auf egoistische Selbsterhaltung bedachten Einzelnen voreinander zu schützen. Das Staatsziel und die auf dieses Ziel gerichtete "Staatsraison" wird nicht von den Einzelinteressen der Untertanen her gesehen (dazu sind sie ja viel zu egoistisch), sondern wird in einem Akt des Gottesgnadentums dem Monarchen zuteil. Dass sich Kaufleute und Fabrikanten bereichern, gilt in diesem System als ihr gutes (göttliches) Recht - allerdings sind sie von der politischen Macht weiterhin ausgeschlossen. (In Frankreich war die Kluft zwischen wirtschaftlicher Bedeutung und politische Bedeutungslosigkeit des (Besitz-)Bürgertums eine der Ursachen der Revolution.) In England gelang es dem Bürgertum hingegen an der politischen Macht teilzuhaben - dennoch blieb die Wirtschaftspolitik merkantilistisch, von "freiem Handel" konnte im Großbritannien des 18. Jahrhunderts noch keine Rede sein. Es gab hohe Schutzzölle, Einfuhr- und Exportverbote, Restriktionen für den Kolonialhandel, und vor allem die aus der Zeit der Cromwell-Diktatur stammende "Navigation Acts", der es ausländischen Schiffen verbot, britische Waren zu transportieren. Noch bis Anfang des 19. Jahrhunderts war das britische Wirtschaftssystem darauf gerichtet, dass der "Wohlstand" (der staatstragenden Klassen, die sich mit "dem Staat" identisch sahen) eher durch den reglementierten Handel mit den Kolonien als durch Freihandel mit aller Welt gefördert wurde. Die Handelsstrategie war darauf gerichtet, die Kosten für Nahrungsmittel durch billige Importe, vor allem aus den Kolonien und aus dem politisch abhängigen Irland, niedrig zu halten - und damit auch die Kosten für Arbeitskraft in britischen Manufakturen und Fabriken gering zu halten. In den Anfängen der industriellen Revolution war das ein kaum zu überbietender "günstiger Standortfaktor" - jedenfalls solange es aufnahmefähige ausländische Märkte für britische Produkte gab. Auf die Dauer grub sich dieses merkantilistisch-kapitalistische System selbst das Wasser ab, was Smith schon früh erkannte. (In mancher Hinsicht hat der viel bewunderte "chinesische Weg" eines staatlich regulierten Kapitalismus Ähnlichkeit mit dem klassischen Merkantilismus. Ich erwarte, dass die "China-Blase" irgendwann ganz gewaltig platzt - es sei denn, dass Chinas Wirtschaft noch rechtzeitig einen ähnlichen Weg nimmt, wie die Südkoreas: Teilhabe der Massen am wirtschaftlichen Erfolg - und an der Macht.)
Adam Smith setzte dem merkantilistischen System nicht nur die liberale Marktwirtschaft entgegen (die berühmte "unsichtbare Hand"). Er glaubte nicht daran, dass der freie Wettbewerb selbstsüchtiger Interessen die Gesellschaft spalten würde - denn er sah die soziale Rücksichtnahme, die er "Benevolence" nannte, als eine natürliche balancierende Gegenkraft an. Er ging z. B. davon aus, dass Fairness nicht nur auf die Dauer für alle am Markt Beteiligten vorteilhaft ist, sondern dass es außerdem einen zutiefst menschlichen Drang zur "Fairness" gäbe. (Übrigens sprechen experimentalpsychologische Erkenntnisse für so einen "angeborenen Hang zur Fairness".) "Benevolence" geht sogar noch weiter: Smith glaubte, dass gewisse Prinzipien seiner Natur den Menschen dazu bestimmen, an den dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen. Dieser Drang, das Glück auch des anderen zum eigenen Bedürfnis zu machen, ist zum Teil angeboren (gottgegeben, wie Smith es ausgedrückt hätte), zum Teil aber auch Sache der Erziehung und der öffentlichen Ethik und Moral.
Im späteren Kapitalismus war von der smithschen "Benevolence" wenig zu spüren - tatsächlich setzte sich Ideologien durch, die den ungehemmten Egoismus rechtfertigten. Schon zu Smith's Zeiten kamen Rechtfertigungen für Rücksichtslosigkeit aus der religiösen Sphäre (Prädestinationslehre, Gnade Gottes ist am Erfolg im Leben abzulesen, jeder ist an dem ihm gemäßen Platz gestellt usw.), gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen sozialdarwinistische Vorstellungen hinzu.

Unnötig eigentlich zu erwähnen, dass die "Benevolence" bei den den ökonomischen Neoklassikern, "Turbokapitalisten" und Marktideologen bestenfalls auf die Rolle des Almosengebens reduziert ist - und das nur, wenn es der Wettbewerbsfähigkeit nicht schadet. Eher findet man sie schon bei den ursprünglichen Neoliberalen, den Ordoliberalen ("soziale Marktwirtschaft") wieder - und natürlich bei Sozialisten (die es in der Regel aber nicht mit der Marktwirtschaft haben).

Ihrer besseren ökonomischen Effizienz verdankten die Staaten des kapitalistischen "Westens" (unter anderem) den Erfolg über die notorisch ineffizenten "realsozialistischen" Staaten.

Inzwischen ist die größtmögliche Effizenz aber zum "Wert an Sich" verkommen, was konkurrenzfähig ist, ist auch gut (im ethischen Sinne). (Ein weiterer zum ideologischen "Wert an Sich" verkommener Begriff ist die "Sicherheit". Das Kompositum aus beidem, die "effizente Sicherheit" ist nicht nur in Deutschland etwas das politische Entscheider gern den bürgerlichen Freiheitsrechten entgegen stellen.)

Damit sind wir wieder beim Foucault-Zitat. Effizienzdenken (und aus Angst gespeistes Sicherheitsdenken, dass ist hier aber nicht Thema) ist offensichtlich Gift für viele kulturelle Bestrebungen.
Wenn z. B. der Wert eines Kunstwerkes nur in seinem Marktwert gesehen wird, führt das auf die Dauer dazu, dass bestimmte Formen der Kunst nicht mehr "produziert" werden - eine Verarmung der kulturellen Landschaft droht.
Dem gegenüber steht ein Denken, dass den Künstler als jemanden sieht, der sich freiwillig aus dem produktiven Leben verabschiedet hat, um schöne Dinge zu produzieren. Folgt man dieser Annahme, dann ist es nur logisch, dass der Künstler mit dem zufrieden zu sein hat, dass er gerade zum Überleben braucht - Kunst als Selbstzweck. Diese Ideologie des sich freiwillig aufopfernden Künstlers ist nur die Kehrseite des Effizienzdenkens, rechtfertigt Ausbeutung - und sie lässt sich auch z. B. auf Menschen, die freiwillig im sozialen Bereich helfen, übertragen.
In einer extremen "Effizenzgesellschaft" würde man wohl die Kunst (abgesehen von reiner Gebrauchskunst) völlig über Bord werfen - was womöglich als Preis, der für die Stabilität der Gesellschaft bezahlt werden müsse, gerechtfertigt würde. Denn kreatives Denken, dass nicht "produktiv eingebunden" ist, ist potenziell destruktiv, Sand im Getriebe.
Auf den Fortschritt der Wissenschaft würde man auch verzichten müssen - soweit es nicht um effizenzsteigernde Innovationen geht. Denn Grundlagenforschung ist ökonomisch ineffizient. Wenn überhaupt geforscht wird, dann gezielt auf ein vermarktbares Produkt hin. Neben der Grundlagenforschung sind vor allem die Sozialwissenschaften - soweit sie nicht als Lieferanten von Sozialtechniken brauchbar sind - gefährdet. Denn zuviel Wissen über den Menschen und seine Bedürfnisse abseits des Ökonomischen ist gefährlich.

Es gäbe, neben der vernachlässigten und geradezu verfehmten ("Kuschelpädagogik", "Sozialromantik") Fähigkeit zur Empathie, zum Einfühlen und Eindenken in die Bedürfnisse Anderer, noch eine Gegenkraft zur lähmenden Ideologie der Effizenz: die Neugier. Womit nicht die aus Angst geborenen Datensammelwut funktionell verfolgungswahnsinniger Geheimdienste und Kriminalbeamter (denn es gehört zu ihrer Professionalität, auch dort Verdachtsmomente zu sehen, wo sie als Normalbürger unbesorgt wären) und vielleicht nicht nur funktionell verfolgungswahnsinniger, machtbeflissener Politiker gemeint ist. Auch nicht gemeint ist die Neugier auf Klatsch und "pikante Details" aus dem Privatleben anderer Leute.
Ich meine die Neugier, die aus einem Kind spricht, dass die Erwachsenen mit Fragen löchert - bis ihm dann womöglich in der Schule die selbstbestimmte Neugier zugunsten des Lernstoffes ausgetrieben wird. Es ist erstaunlich, wie oft "Bildung" mit "abfragbares Wissen aneignen" verwechselt wird. (Wie von jenem Physiklehrer, der seinen Schülern erst mal klar macht, dass der Physikunterricht nichts mit Weltraum und so zu tun hätte. Hier wird Stoff fürs Berufsleben gebüffelt, alles andere ist Luxus, Zeitverschwendung, Spassvergnügen - kurz: ineffizient.)

Künstler - abgesehen von bestimmten Bereichen der Gebrauchskunst - sind auf diese Weise neugierig. Wissenschaftler meistens auch. Aber diese - scheinbar zweckfreie - Neugier ist schwer zu vermitteln. Viel zu vielen Menschen wurde sie längst abtrainiert. Wie auch Empathie und Sympathie - "Mitleid" im ursprünglichen Wortsinn, "mit Leiden" nicht als aus schlechtem Gewissen oder Selbstüberhöhung geborenes herablassendes Verteilen von milden Gaben oder auch nur warmer Worte. Oder Solidarität - auch in der ursprünglichen Bedeutung, und nicht im Sinne von "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" oder "Opfer bringen für die Solidargemeinschaft".

Samstag, 1. Dezember 2007

Fundstück - zum Nachdenken

Kein Designer, kein Konzern wagt es dagegen, ein leichtes Fahrzeug mit umweltverträglichem Hybridmotor so aufregend zu verpacken, daß es nicht mehr wie ein motorisierter Jutesack daherkommt - was entscheidend zum Mißerfolg dieser neuen Fahrzeuggattung beiträgt.
Zitat aus einem nur noch partiell lesbaren Artikel von einer zerfledderten Seite aus einem alten "Spiegel", erspäht im überquellenden Altpapiercontainer.

Aufbruch in eine "schöne neue Welt" oder das enthumanisierte Menschenbild

Im Zusammenhang mit staatlichen Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen, aber auch mit privatwirtschaftlichem Datenhunger wird gerne George Orwells berühmte Dystopie "1984" angeführt. Wenn man sich vorstellt, dass die Bundesrepublik Deutschland oder andere hochindustrialisierte parlamentarisch-demokratische Staaten in eine "klassische" totalitäre Diktatur abgleiten würden, könnte an dieser Vision einiges dran sein.

Ich bin allerdings eher der Ansicht, dass wir uns eher auf ein System zubewegen, das im großen und ganzen Ähnlichkeit mit einer anderen klassischen Dystopie hat: mit Brave New Word von Orwells ehemaligem Literaturprofessor in Eton, Aldous Huxley.
Auf eine Inhaltsangabe des Romans, der - anders als der eher gegenwartsbezogene Roman "1984", der die Verhältnisse von 1948 extrapolierte und auf die totalitäre Spitze trieb - auch als Science Fiction-Literatur bahnbrechend war, verzichte ich und verweise auf die gute Zusammenfassung in der "Wikipedia": Schöne Neue Welt.

Die entscheidenden Punkte der "Schönen neuen Welt" sind:
  • staatlich gesteuerte genetische Vorherbestimmung aller Bürger
  • Konditionierung als Erziehungsmethode, quasi "Dressur" der Kinder, die als Erwachsene gar nicht anders können als systemkonform zu denken.
  • Kastensystem nach "Intelligenzklassen" - von Alpha-Supergenies bis Epsilon-Halbidioten
  • "sanfter Totalitarismus" - Überwachung und Kontrolle sind weitgehend in die Köpfe der Bürger verlegt, Gewaltausübung als Herrschaftsmittel ist mininiert.
  • Gruppenzwang, Gemeinschaftszwang - ein gewisser Individualismus wird allenfalls bei "Alphas" als Preis für deren kreative Fähigkeiten toleriert. Wer für sich sein will, gilt als asozial.
  • eine überall verfügbare nebenwirkungslose "Glücksdroge" ("Soma"), zugleich Beruhigungsmittel, Stimmungsaufheller und Partydroge
  • Beschränkung der Bildung auf unmittelbar "nützliches" Wissen, eine humanistische Bildung gibt es nicht, historisches Wissen wird unterdrückt - Sinn: kein Bürger kann Interessen außerhalb seines Aufgabenbereichs entwickeln, geschweige denn auf nonkonformistische Idee kommen. Ausnahme: Mitglieder der Weltregierung - alles Alpha-Plus mit gesicherter Systemloyalität.
  • Hedonismus und inhaltlich sinnfreie Riten als Religionsersatz.
  • Völlige Trennung von Fortpflanzung und Sexualität, letztere ist nur noch reines "Genussmittel" bzw. "Bettgymnastik" ohne tiefere Gefühle.
  • (gewaltloser) Konsumzwang, verbunden mit Arbeitszwang und Vernügungszwang
  • Massenproduktion (orientiert am Fordismus, Henry Ford ist Grundlage der Zeitrechnung und Quasi-"Gottheit" im Roman). Um Arbeitslosigkeit und daraus resultierende Unruhen zu vermeiden, gibt es absichtlich keine Vollautomatisierung bzw. Robotisierung (allerdings sind "Deltas" und "Epsilons" wenig mehr als "menschliche Roboter").
Das Motto des Weltstaates ist "Gemeinschaft, Gleichheit, Stabilität", seine inoffizielle Maxime "Glück - im Sinne von ständiger Zufriedenheit - durch Verzicht auf Freiheit".

Wie ähnlich unsere Welt der "schönen neuen Welt" ist oder einmal sein könnte, wurde 1999 in der "Zeit" diskutiert. Die Diskussion basierte auf einem Vortrag des Philosophen Peter Sloterdijk mit dem Titel "Regeln für den Menschenpark" (Wikipedia-Artikel: Regeln für den Menschenpark - der Vortrag im Wortlaut.) Sloterdijk hat in seinem mit Anspielungen und Seitenhieben auf die "Kritische Theorie" Adornos und Horkheimers gespickten Vortrag Dinge angesprochen, die leicht als reaktionäre politische Thesen verstanden werden können - und promt wurden. Da er sich an der Radikalität seiner Thesen selbst berauschte, verstanden einige den Vortrag ob seiner Leidenschaftlichkeit als Plädoyer für (positive) Eugenik, sprich Menschenzucht. Der Schwerpunkt der folgenden intensiven öffentlichen Diskussion lag, wenn ich mich richtig erinnere, auf der Frage nach der Anwendung von Gentechnologie auf den Menschen, die zumindest in Deutschland beinahe durchgehend abgelehnt wurde. Eine weitere wichtige Parallele zu "Brave New World" ist, dass Sloterdijk die humanistische Bildung zur Diskussion stellt.
Zwei Dinge sind mir noch in unangenehmer Erinnerung: Sloterdijk denunzierte Kritik an seinem wuchtig kulturpessimistischen Vortrag als hysterische Anfälle eines Antifa-Alarmismus, dessen Denken sich in Reflexen erschöpfe. Das andere waren die selbsternannten "Experten" in Presse, Funk und Fernsehen, die sich vor allem durch mangelndes biologisches und philosophisches Grundwissen auszeichneten - unfreiwilliger Beleg für Sloterdijks pessimistische Aussage, dass das humanistische Bildungsideal längst am Ende sei. (Die Debatte in der Presse ist hier dokumentiert: Der Sloterdijk-Streit in der Presse.)

Ein zweite "Schöne neue Welt"-Debatte, dieses Mal im Feuilleton, löste Michel Houellebecq mit seinem (meiner Ansicht nach überschätzten) Roman "Elementarteilchen" aus. Unter vielen anderen Themen dieses mit Themen und Thesen geradezu überladenen Buches beschäftigt sich Houellebecq intensiv mit Aldous Huxley und dessen Bruder, dem Biologen Julian Huxley. Houellebec provozierte mit der These, es sei Heuchelei, in dem Buch einen totalitären Albtraum zu sehen. "Schöne Neue Welt" sei vielmehr eine positive Utopie. Hinsichtlich der ungehemmten sexuellen Freiheit, dem gelungenen Kampf gegen das Altern und der Freizeitkultur wäre sie ein Paradies. Aldous Huxley habe erst 30 Jahre später in "Brave New World Revisited" versucht, seinen Roman als Anklage und Satire hinzustellen. Weitgehend außer Acht gelassen wurde die offene Frage, inwieweit Houellebec die Ansichten seiner detailliert gezeichneten, aber "blutleer" wirkenden Charaktere seines Semi-Science-Fiction-Romans tatsächlich teilt.

Immerhin: er zeigte, dass es möglich ist, die Gesellschaft der "Brave New World" als anzustrebendes Ideal zu sehen. Sie hat ja, im Gegensatz zu "1984", ihre Attraktionen.

Huxleys Konsumgesellschaft könnte eine extreme, aber logische Entwicklung der ökonomischen Werte darstellen, in denen persönliches Glück als durch Konsumgüter erworbene Zufriedenheit und Erfolg auf materiellen Wohlstand reduziert wird. Wichtig für die Entstehung seines "Weltstaates" (nach einem verheerenden, mit biologischen Waffen geführten Krieg) ist das enge Bündnis zwischen "Big Business" (eines Konzern-Kapitalismus, der die klassischen "Gesetze der Marktes" längst ausgehebelt hat) und "Big Gouverment" - eines bevormundenden, alles kontrollierenden Staates, der z. B. Sozialleistungen nur gegen bedingungslose Anpassung vergibt.

Zentraler Punkt nahe aller klassischen Dystopien, und auch bei "1984" und noch stärker bei "Brave New World" zu finden, ist das enthumanisiertes Menschenbild in den geschilderten Gesellschaften. Der Mensch wird nicht nur äußerlich, durch ökonomischen Druck, auf seine Funktion, etwa als Arbeiter, als Konsument oder - heute noch - als Erbringer familiärer "Dienstleistungen" wie Aufzucht von Kindern reduziert, er begreift sich zunehmend selbst als "Leistungsträger". Am weitesten Fortgeschritten die Enthumanisierung meines Erachtens bei jene beruflich aufstiegsorientierten "Eliten", die sich selbst für die Karriere zu optimieren versuchen. Sport wird von diesen Menschen nicht mehr betrieben, weil er Spaß bring und gesund ist, sondern um Fit für den Job zu sein. Auch Freundeskreis, Hobbies, Kleidung, Wohnungseinrichtung, politische Haltung werden vornehmlich nach "Erfolgs"-orientierten Maßstäben gewählt und gestaltet. ("Erfolg", daran sei noch einmal erinnert, misst sich allein im erworbenen Vermögen. Auch Macht ist Mittel zum Zweck "Vermögenserwerb".)
Entfremdung und Selbstentfremdung gehen Hand in Hand.

Dass die Denkweise der "Schönen Neuen Welt" schon längst in der politischen Praxis angekommen ist, verrät der Umgang mit den alt gewordenen Mitmenschen. In Huxleys Roman werden die Menschen bis etwa zum 65. Lebensjahr optimal gesund und "jung" erhalten. Danach setzt der beschleunigte körperliche Verfall ein. Da auch die Angst vor dem Tod durch Konditionierung beseitigt wurde, sind die alten Menschen gern dazu bereit, sich freiwillig töten zu lassen.
Ansätze, die deutlich in diese Richtung gehen, gibt es bereits. Die "demographischen Probleme", von denen seit einigen Jahre so viel die Rede ist, sind jedenfalls perfekt gelöst! Kinder werden je nach Bedarf erzeugt und unproduktive Rentner gibt es, dank des Todes zwischen dem 65. und 70. Lebensjahr, auch nicht.

Das "enthumanisierte" Menschenbild ist keine Spezialität des "Neoliberalismus", auch wenn ein ungehemmter Kapitalismus ihm Vorschub leistet. Das "Unwort des 20. Jahrhunderts" war nicht von ungefähr "Menschenmaterial". Dieses unmenschliche Menschenbild gedeiht generell dann besonders "gut", wenn in einem Gemeinwesen autoritäre oder sogar totalitäre Formen der Machtausübung mit einer hochentwickelten Industrie, entsprechend effizienten Mittel der Informationsverarbeitung, kapitalistischen Vorstellungen von "Effizienz" und Erfolg, und die Vorstellung eines Wohlfahrtsstaats, der für Leistung auch Gegenleistung in Form von Gehorsam fordern darf, zusammenkommen. Dem Stalinismus und dem Maoismus "mangelte" es, obwohl die Systeme eher staatskapitalistisch als sozialistisch waren, an der "kapitalistischen Effizienz", Ausbeutung erfolgte vorwiegend auf "altmodische" Art und Weise durch Gewalt von außen - und Mao mangelte es auch an den technischen Mitteln. Deshalb wurden diese relative langlebigen mörderischen Systeme, die einen jeweils einen großen Teil der Weltbevölkerung unterjochten, von einem glücklicherweise kurzlebigen und im auf Teile Europas beschränkten System bei weitem in den Schatten gestellt: Dem deutschen Nationalsozialismus. Da kamen alle Faktoren - totalitäre Machtausübung, hochentwickelten Industrie, effiziente Mittel der für Propaganda, Verwaltung, Nachrichtenwesen und kapitalistischen Vorstellungen von "Effizienz" einschließlich Selbstausbeutung zusammen - und der "fürsorglich bevormundende" Wohlfahrtstaat nach NS-Lesart. Die "Fusion" aus "Monopolkapitalismus" (einen Kapitalismus ohne funktionierende Märkte) und "Volksgemeinschaftsideologie" - einer Art "(Pseudo-)Sozialismus nur für Herrenmenschen" enthumanisierte das Menschenbild schneller und gründlicher, als sich das Huxley wenige Jahre zuvor auch nur vorstellen konnte. Wie Ralf Giordano in "Die Zweite Schuld" bemerkte, erstreckte sich die "Enthumanisierung" bei den meisten Deutschen (noch) nicht auf die persönlichen Sphäre - was übrigens von NS-"Größen" wie Himmler als erhebliche Schwäche gesehen wurde: "Jeder" würde den oder den "anständigen" Juden kennen. Optimal im Sinnes des NS-Untertanenverbandes wäre ein Deutscher, der jeden, der nicht "dazugehört" auf Befehl ohne mit der Wimper zu zucken umbringt. Oder der, wenn er alt oder schwer krank geworden ist, ohne Zögern in seine "freiwillige" Tötung einwilligt.

Tatsächlich ähneln sich die Vorstellungen von "Großdeutschland nach dem Endsieg" und Huxleys "Schöner neuen Welt" in mancherlei Hinsicht. Für alle in meiner oben stehenden Auflistung angeführten Merkmale der "Schönen neuen Welt" gibt es ein ziemlich genaues Gegenstück in den "Endsiegs-Utopien". ("Ziemlich genau", denn der ausgeprägte Hedonismus der "Schönen neuen Welt" war den Nazis als "dekadent" verpönt.)

Und - wohin gehen wir?
Ich sehe, mit Foucault, seit der "industriellen Revolution" eine Art "Systemdarwinismus" am Werk, d. h. Systeme (Staaten, Organisationen, Konzerne) denen es gelingt, die Produktivität zu steigert als auch die Kosten für Herrschaft zu reduzieren, setzen sich gegenüber anderen Systemen zwangsläufig durch. (Beispiel: "Sieg" des "kapitalistischen Westens" mit seiner hohen Produktivität und ohne den "Ballast" eines Unterdrückungsapparates über den "real existierenden Sozialismus" im "Ostblock".)
Foucault erkannte dabei auch, dass eine Kontrolle, bei der die "Kontrollinstanz" in den Kopf des Untertans verlegt ist, sehr viel effizienter ist als jede Form der Kontrolle von Außen.
In "Überwachen und Strafen" nannte er das "Panoptikum", ein Gefängnis, in dem der Gefangene sich nie sicher sein kann, dass er im Moment nicht überwacht wird, als ein Mittel, die Kontrollinstanz nach "innen" zu verlegen. Eine anderes Mittel der "Zurichtung" liegt in der Erziehung. Ist es nicht erstaunlich, dass unsere Schule Sechsjährigen genau das zumutet, was Sechsjährige erfahrungsgemäß am wenigsten mögen, nämlich stillsitzen und zuhören?
Die "Zurichtung" ist dann perfekt, wenn sich ein Mensch "freiwillig" selbst zurichtet, sich z. B. wie oben geschildert, für die "Karriere" optimiert. ("Doping" in Form von Arzneimittel- und Drogenmissbrauch eingeschlossen. Und der zahlenmäßig wichtigste Grund sich einer Schönheitsoperation zu unterziehen, dürfte das Streben nach beruflichem Erfolg sein, nicht nur bei Models und Schauspielern.)

Mein Fazit daraus:
- Kapitalismus ist nur dann mit einem menschenwürdigen Dasein vereinbar, wenn es a) funktionierende Märkte gibt und b) Demokratie herrscht - die bis in die Unternehmen hinein reicht.
- Das Bündnis zwischen "Big Business" und "Big Gouverment" ist zu bekämpfen. Am besten, es gibt weder das eine noch das andere.
- Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld (eigentlich eine Versicherungsleistung!) dürfen nicht an Bedingungen geknüpft werden, die die Freiheitsrechte des Einzelnen faktisch einschränken.
- Jede Gesellschaft ist für den Einzelnen da und hat ihm zu dienen, nicht umgekehrt. Das schließt nicht die moralische Verpflichtung des Einzelnen aus, sich um das Gemeinwohl zu kümmern, im Gegenteil! Aber dieser Gemeinwohl muss in der Summe des Wohls der Einzelnen liegen, nicht in einer abstrakten Staatsraison. Statt "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" Hilfe auf Gegenseitigkeit.
- Jeder Versuch, den Menschen und seine Eigenschaften auf seine Biologie zu reduzieren, ist mit großem Misstrauen zu begegnen.

Sonntag, 18. November 2007

"V" for "Vision"

Unsere Zukunft könnte finster aussehen: "Die schlimmsten Szenarien des IPCC sind so angsterregend wie ein Science-Fiction-Film", sagte UN- Generalsekretär Ban Ki Moon bei der Vorstellung des "Kompaktfassung" des Weltklimaberichts. "Angsterregend wie ein Science-Fiction-Film".
Eine negative Zukunftsvision. Ungeachtet, ob die Szenarien zutreffen oder nicht, ob CO2-Reduktionen effektiv etwas bewirken oder nicht - solche Visionen wirken. Und solange sie nicht zu Endzeitphantasien oder Öko-Totalitarismus führen, können sie ganz heilsam sein, und sei es nur, um Politiker daran zu erinnern, dass es wichtigeres gibt als Fraktionsdisziplin, Chancen auf Wiederwahl oder Zufriedenstellen der jeweiligen Klientel.
Die Zukunft ist nicht nur "das unentdeckte Land" - es gibt sie buchstäblich nicht. Ich bin mir sicher, dass es sinnvoller ist, zwischen Dingen zu unterscheiden, die wir ändern können, und solchen, die nicht mehr zu ändern sind. Pragmatisches Denken.
Helmut Schmidt, der profilierteste Pragmatiker der jüngeren deutschen Geschichte, sagte (bzw. raunzte) 1980: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!" Es bezog sich auf den damaligen SPD-Vorsitzenden Willy Brand und seine "Visionen". Brandt meinte mit "Visionen" strategische Ziele oder Ideen, ohne die auch ein pragmatischer Politiker nicht auskommt, Schmidts Kritik zielte vermutlich darauf ab, dass Brandt dabei seiner Ansicht nach zum utopischen Denken neigte: "Vision" im Sinne von "Traum" oder "Illusion". "Utopisches Denken" ist die Vorstellung, die gesellschaftliche bzw. politische Zukunft planen zu können: Generalplan "perfekte Gesellschaft", und wenn sich alle bis ins Detail daran halten, wird alles gut. Obwohl ich Freund literarischer Utopien bin, lehne ich utopisches Denken ab - es hat immer einen Zug ins Totalitäre.
Ich verstehe unter "Vision" hier: eine Vorstellung oder Imagination davon, was werden könnte. Was man, etwas ungenau, mit "Leitbild" übersetzen könnte.
Nehmen wir die literarischen Utopien (genauer gesagt: Dystopien) über totalitäre Überwachungsstaaten, genannt seien nur Samjatins "Wir", Orwell "1984" oder Alan Moores "V for Vendetta". Sie zeigen uns, wie es kommen könnte. Als Warnung es nicht soweit kommen zu lassen. Als Aufforderung zum Handeln, dazu, Fehlentwicklungen zu stoppen und, wenn möglich, rückgängig zu machen. In dem Moment aber, in dem aus der Vision, in Form einer literarischen Utopie, utopisches Denken wird, oder schreckenerregende Zukunftsvisionen ins apokalyptische Denken umschlagen, hört ihre befreiende Wirkung auf. (Beispiel: drohende Klimakatastrophe als Begründung einer ökologistischen Diktatur.)

Noch wichtiger als die warnenden Visionen sind die Visionen für eine bessere Welt. Solange sie nicht in "Patentrezepte für eine glückliche Zukunft" umschlagen, in utopisches Denken. Visionen vertragen sich sehr wohl mit pragmatischem Denken. Ein Beispiel ist das Vision Statement der Wikipedia:
Stell dir eine Welt vor, in der jeder einzelne Mensch freien Anteil an der Gesamtheit des Wissens hat.
Ich fand via BasA$$Mood eine sehr hoffnungsvolle Zukunftsvision, umrisshaft verdeutlicht als literarische Utopie bzw. Science Fiction-Szenarium: Cholorofilia 2106.

Keine Heilslehre, kein Detailplan, aber ein Ziel, ein positives Gegenbild zur Schreckensvision der Stadt der Zukunft als gigantischer, kontinentebedeckender Mega-Slum. Übrigens unter dem Leitbild "Anpassungsfähigkeit". Organisch denken, ökologisch, nicht ökologistisch.

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