Sonntag, 9. März 2008

Bin ich Naturalist?

Im Großen und Ganzen: Ja. Aber nur im Großen und Ganzen.
(Ich erlaube mir mal die Arroganz, all jene, die nicht wissen, was "Naturalismus (Philosophie)" bedeutet, auf die Wikipedia zu verweisen: Naturalismus (Philosophie).)
Eigentlich könnte ich die Frage guten Gewissens mit "Ja" beantworten, denn ich bin davon überzeugt, dass sich alles im Universum als naturhaftes Geschehen beschreiben lässt. Oder, in Schlagworten: "Alles ist Natur" und "Übernatürlich ist ein leeres Wort".
Das Problem ist allerdings, dass ich Phänomene für "völlig natürlich" halte, die in unserer Kultur gemeinhin der Sphäre des "Übernatürlichen" zugeordnet werden - oder, was auch vorkommt, schlicht geleugnet oder "wegerklärt" werden - oder, was aus meiner Sicht besonders problematisch ist, mit wolkigen, meist "esoterischen", Ideologien eher instrumentalisiert als akzeptiert werden. Ein konkretes Beispiel: Synchronizitäten im Sinne des Physikers Wolfgang Pauli und des Tiefenpsychologen C. G. Jung. Ich bin mir völlig darüber im klaren, dass der Begriff der "Synchronizität" eine "Lizenz für Magie" bedeutet, wie es eine mit mir befreundete Skeptikerin (im Sinne der Skeptiker-Bewegung) ausdrückte. Wobei ich unter "Magie" nicht ganz dasselbe verstehe wie das magisches Denken im Sinne der Psychologie - und mit dem meist eher beklagenswertem Phänomen der Magisierung hat sie recht wenig zu tun.

Aber lassen wir die Probleme, die sich aus meiner sehr speziellen Sichtweise ergeben, einmal beiseite. Zurück zur Frage, ob ich Naturalist bin oder nicht.
Es ist sinnvoll, zwischen dem methodischen Naturalismus der Forschung und einem weltanschaulichen (besser: ontologischen) Naturalismus zu unterschieden. Ohne methodischen Naturalismus lässt sich nicht "sauber" naturwissenschaftlich (bzw. abstrahiert: erfahrungswissenschaftlich) argumentieren. Ich darf z. B. als Meteorologe weder den Sturmgott Wodan noch den heiligen Petrus bemühen, auch die Einflüsse eventueller Regenzauber sollte bei Wettervorhersagen nicht in Betracht gezogen werden. Dass sagt aber gar nicht über die religiösen - oder magischen - Praktiken des jeweiligen Meteorologen aus.
Anders als anderen, die sich mit dieser Frage beschäftigt haben, fällt es mir leicht wissenschaftliche und sprituelle bzw. metaphysische Aussagen als zwei Seiten derselben Wirklichkeit aufzufassen. Allerdings befinde ich mich dabei in einer relativ bequemen Position, da ich etwas anhänge, was gern und nicht ganz richtig "Naturreligion" genannt wird. "Religiöse Wahrheiten" in Form einer allgemein verbindlichen Offenbarung - etwa in Form einer Schöpfungsgeschichte - und naturwissenschaftliche Aussagen, etwa über die Evolution, lassen sich für den Gläubigen nicht ganz so leicht als "perspektivisch" oder "komplementär" deuten, wie "normale" Mythen, die Wahrheit enthalten, ohne im Wortsinn "wahr" zu sein.
Umgekehrt fällt es vielen onthologisch naturalistisch orientierten Denkern schwer, über (aus meiner Sicht nur vermeintliche) Widersprüche zwischen Mythos und empirisch erhärtbarer Wissenschaft "hinwegzusehen". Den "schwachen" Naturalismus kann man als pragmatische Vorgabe sehen, die es erlaubt, ungestört Wissenschaft zu betreiben.
Damit lässt sich meine Frage zum Teil beantworten: Ich bin also - mindestens - methodischer Naturalist.

Prof. Dr. Bernulf Kanitscheider, Dozent für Philosophie der Naturwissenschaften an der Uni Giessen, unterscheidet, David Armstrong folgend, zwischen einem "starken" und einem "schwachen" Naturalismus. (In seinem Aufsatz "Naturalismus, metaphysische Illusionen und der Ort der Seele", den ich im Brightsblog fand.) "Schwacher" Naturalismus bedeutet, dass das Universum in seinem empirisch, aber auch theoretisch fassbaren Bereich ohne "Rekurs auf autonome spirituelle Entitäten" (also: Götter, Geister und Dämonen) besondere Lebenskraft oder teleologische und transzendente Wirk-Faktoren erkannt werden kann. Dieser schwache Naturalismus schließt einen transzendenten Seinsbereich nicht aus - es könnte also Götter, Geister und Dämonen geben - sondern behauptet nur, dass für das Verständnis des Kosmos auch in den höheren Entwicklungsstufen (Leben, Bewusstsein, Erkennen) "übernatürliche" Faktoren nicht gebraucht werden - nach dem bewährten Grundsatz der ontologische Sparsamkeit.
Das unterscheidet sich insofern vom methodischen Naturalismus, da ein methodischer Naturalist ja durchaus von z. B. der Existenz einer "göttlichen Vorsehung" ausgehen kann, oder von einer transzendenten Begründung moralischer Regeln.
David Armstrong hat darüber hinaus auch einen "starken Naturalismus" verteidigt, wonach ein Transzendenzbereich ausgeschlossen wird und somit das prinzipiell mit den Methoden der empirischen Wissenschaften erforschbare Universum alles ist, was es gibt. Diese Unterscheidung in schwachen und starken Naturalismus halte ich für ziemlich willkürlich: je nachdem, wie weit man das ontologische Sparsamkeitsprinzip anwendet, könnte eine Annahme einmal "schwach" und einmal "stark" naturalistisch sein. Es ist also eine rein subjektive Unterscheidung. Außerdem könnte man der Ansicht sein, dass z. B. Dämonen durchaus natürliche Wesenheiten sind - die Gaia-Hypothese, die die irdische Biosphäre als "Gesamtorganismus" sieht, wäre dafür ein Beispiel. So gesehen kann man an Dämonen "glauben", ohne sich in den Bereich der Transzendenz zu begeben. Ein anderes Beispiel wäre die "Schwarmintelligenz". ("Dämon" jetzt verstanden im Sinne einer nicht an einen einzelnen Körper gebundenen, aber durchaus substanziellen Intelligenz - nicht im Sinne "böser Geist" oder "Diener des Teufels".)

Kanitscheider plädiert dafür, den Naturalismus als philosophische Hypothese über die Welt anzusehen: Sie ist nicht direkt falsifizierbar, ist aber indirekt fallibel, weil kritisierbar. Er greift dabei auf Popper zurück, nach dessen Wissenschaftstheorie die Kritisierbarkeit ausreicht, um eine Hypothese als wissenschaftlich zu qualifizieren. Eine Widerlegung des Naturalismus erfolgt damit nicht durch Beobachtung oder Experimente, sondern durch Bezug auf die heute bewährten Theorien der Wissenschaft - genau so, wie wissenschaftliche Theorien nur selten durch direkte Erfahrungen überprüft werden, sondern indem Vorhersagen, die aufgrund dieser Theorien gemacht werden, empirisch entweder erhärtet oder falsifiziert werden. (Etwas durch Beobachtung oder Experiment ein für alle mal zu "beweisen" ist hingegen nicht möglich.) Des weiteren plädiert er für eine naturalistische Ethik , die ich grundsätzlich für sympathisch halte:
Ziel einer naturalistischen Ethik ist, dass Menschen nicht aus Selbstzweck irgendwelche Prinzipien erfüllen müssen, sondern dass alle ein aus ihrer eigenen Sicht gelungenes Leben führen können.
- aber genau darin liegt ein Problem, dass ich mit einem mehr als nur methodischen Naturalismus habe.
Dieses Problem habe ich weniger mit "dem" Naturalismus als vielen naturalistischen Denkern, und es besteht natürlich im bekannten "naturalistischen Fehlschluss", wobei ich der gebotene Kürze und der Bequemlichkeit halber wieder mal auf die Wikipedia verweise. (In seiner primitivsten, aber auch populärsten Form ist es der Fehlschluss, dass etwas das "natürlich" sei, auch "gut" sein müsse. Besonders fatal wird das "natürlich" dann, wenn Dinge für "naturgegeben" gehalten werden, die reine Konstrukte sind, die nirgendwo existieren, als im der menschlichen Gedankenwelt. Z. B. gibt es "in der (nichtmenschlichen) Natur" weder Völker, noch Rassen - und auch Begriffe wie "gesund" sind tatsächlich kulturell konstruiert. Es ist z. B. mit naturwissenschaftlichen Methoden allein nicht möglich, zu erkennen, ob ein bestimmter Mensch "gesund" ist. Relativ einleuchtend ist das bei Geisteskrankheiten, aber sogar bei Lipid-Werten macht es einen Unterschied, ob man unter "Gesundheit" etwa das persönliche Wohlbefinden versteht - oder den Zustand mit der statistisch höchsten Lebenserwartung, den Zustand maximaler Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz - oder gar den Zustand, der die Krankenversicherung am wenigsten belastet oder vielleicht sogar die Einhaltung eines niedrig angesetzten Normwertes, der einen möglichst großen Absatz an cholesterinsenkenden Medikamenten und diätetischen Lebensmitteln bewirkt. Grade die Beispiele, in denen "Gesundheit" aufgrund von wirtschaftlichen, religiösen, ideologischen bzw. machtpolitischen Gründen "definiert" wird, sind gar nicht so selten.

Es ist grade die Einsicht, dass auch der Begriff "Natur" kulturell konstruiert ist, dass mich gegenüber dem (ontologischen) Naturalismus skeptisch macht.

Meine Frage kann ich so beantworten: Ob man mich als Naturalist bezeichnet, hängt davon ab, welche Form des "Naturalismus" gemeint ist, und vor allem davon, was der Fragesteller für "natürlich" hält.
Natürlich ist diese schwammige Antwort nicht befriedigend.

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