Marginalie: Warum lehnte Odysseus die Unsterblichkeit ab?

Aus dem Statement von Bischof Huber auf der Pressekonferenz "Woche für das Leben" "Gesundheit – höchstes Gut?", Berlin:
Besonders anrührend wird das in einem alten Epos erzählt, das dem Menschheitstraum von Unsterblichkeit und Selbstentfaltung etwas anderes entgegensetzt: Der Dichter Homer erzählt in der Ilias, dass Odysseus die Unsterblichkeit, die ihm von der Nymphe Kalypso angeboten wurde, ablehnte. Er zog es vor, an der Seite seiner Frau Penelope alt zu werden. Liebe und Solidarität sind stark wie der Tod. Sie helfen, Leiden standzuhalten und den Grenzen menschlichen Lebens ins Gesicht zu sehen. Solidarität und Gerechtigkeit sind darum für das Gesundheitssystem so wichtig wie der Wunsch der einzelnen nach Gesundheit und das Recht auf eine Heilbehandlung.
Bemerkenswert finde ich zunächst, dass ein Bischof auf einen heidnischen Mythos zurückgreift, um eine christliche Position zu untermauern. Der Grund dürfte darin zu suchen sein, dass ein geeignetes Beispiel im biblischen Kanon fehlt.
Allerdings stimmt die Darstellung des Bischofes nicht. Im ersten Gesang der Odyssee ist ausdrücklich davon die Rede, dass der Rat der Götter beschließt, Odysseus die Heimkehr zu ermöglichen. (In seinem Zorn bat der von Odysseus geblendete Zyklop Polyphem seinen Vater Poseidon, Odysseus auf dem Meer umkommen zu lassen oder seine Heimkehr zu verhindern. Wobei Odysseus' Tat angesichts der Absicht des Zyklopen, ihn und seine Gefährten zu fressen, Notwehr war.) Der Götterbote Hermes fordert die Nymphe Kalypso auf, Odysseus, den sie sieben Jahre lang auf ihrer Insel zurückgehalten hat, ziehen zu lassen. Obwohl Kalypso ihm Unsterblichkeit verspricht, wenn er bei ihr bleibt, wünscht Odysseus sie zu verlassen, um zu Penelope zurückzukehren.
Odysseus ist also Gefangener bzw. Sklave der Kalypso, und ihr Versprechen ist ein Versuch, ihn "freiwillig" im goldenen Käfig auf der verborgenen Insel Ogygia zu halten. Es ist gerade der Drang zur Selbstentfaltung - neben der Loyalität zu seiner Königin / Frau und seinem Pflichtbewusstsein als König Ithakas - der Odysseus auf Unsterblichkeit in Unfreiheit verzichten lässt.
Dieser Abschnitt der Odyssee taugt also nicht als Beispiel für die Aussage: "Liebe und Solidarität sind stark wie der Tod".

Außerdem drängt sich mir, als praktizierendem Heiden (wenngleich vorzugsweise mit Bezug auf ein anderes Pantheon) eine Frage auf: Wer ist Kalypso, wenn sie die Macht über Leben und Tod hat?
Die Antwort ist - für mich - offensichtlich: eine Totengöttin. Dafür spricht ihr Name ("die Verbergende"), dafür spricht, dass ihre Insel mit Schwarzpappeln, Zypressen, Eppich/Efeu und Veilchen bewachsen ist, bei den alten Griechen - und bis heute - typischen Friedhofsbäumen und -Blumen. Sie lässt Odysseus auf Hermes' Geheiß frei - Hermes ist nicht nur Götterbote, sondern auch Psychopompos, Seelenführer, er geleitet die Seelen der Toten in die Unterwelt. Dafür spricht auch, dass Odysseus siebzehn Tage, Tag und Nacht, so segelt, dass die große Bärin stets zur Linken steht. Siebzehn Tage und Nächte Kurs Nordost, bei gutem Wind, das sind sogar mit einem einfachen Segelfloß mindestens 2500 Kilometer. Das große Mittelmeer ist zu klein dafür. Ogygia ist nicht der "Nabel des Mittelmeers", sondern eine Insel im bodenlosen Meer, am Rand der Zeit.
Odysseus verlässt Ogygia - und kehrt ins Leben zurück.
Sun-ray - 6. Apr, 23:47

ein schöner beitrag, den ich sehr interessiert genoss.
danke dafür! :o)

trashqueen - 7. Apr, 08:33

Sehr schön!

Ein toller Beitrag - vielen Dank!

Liebe Grüße,
TQ

Sassa - 8. Apr, 21:25

Ja, das hellenische Denken unterscheidet sich wohl von einem christlichen. Sehr interessanter Eintrag!

MMarheinecke - 13. Apr, 19:23

Stimmt - wobei ich mit Sicherheit nicht "hellenisch" denke.

Das Problem liegt aber nicht in erster Line bei unterschiedlichen Denkschulen:
Bischof Huber zieht die "Odyssee" in gleicher Weise heran, wie üblicherweise in (evangelischen) Predigten Beispiele aus der Bibel herangezogen werden - als "Zitatensteinbruch", mit dem nahezu beliebige Aussagen "belegt" werden. Ein Freund von mir, der evangelische Theologie studierte, nannte diese Praktik einmal den "heiligen Bogen" - er spannt sich in der typischen evangelischen Predigt von einem Beispiel aus dem Alltag zur einer mehr oder weniger passenden bzw. passend gemachten Bibelstelle. Dabei wird regelmäßig mit einer soliden Bibelexergese im Sinne der evangelischen Theologie Schindluder getrieben - z. B. kann der Kontext eines Bibelzitats unterschlagen, das Zitat willkürlich in einen anderer Kontext gestellt, oder etwas Sachfremdes in das Zitat hineingelegt werden.
Wenn der "heilige Bogen" nicht zu einem Bibelzitat, sondern einem nichtbiblischen Mythos geschlagen wird, fällt diese ebenso gängige wie problematische Praxis nur besonders auf.
(Bei den Katholiken, die nicht so sehr "am Bibeltext kleben" wie die Protestanten, sieht das wieder anders aus. Ich nehme an, dass ein katholischer Autor an dieser Stelle eher auf die katholische Soziallehre oder die katholische Dogmatik verwiesen hätte, als auf ein "heidnisches" Gleichnis auszuweichen.)
Karan - 11. Apr, 00:34

Hach. Kalypso.

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