"V" for "Vision"

Unsere Zukunft könnte finster aussehen: "Die schlimmsten Szenarien des IPCC sind so angsterregend wie ein Science-Fiction-Film", sagte UN- Generalsekretär Ban Ki Moon bei der Vorstellung des "Kompaktfassung" des Weltklimaberichts. "Angsterregend wie ein Science-Fiction-Film".
Eine negative Zukunftsvision. Ungeachtet, ob die Szenarien zutreffen oder nicht, ob CO2-Reduktionen effektiv etwas bewirken oder nicht - solche Visionen wirken. Und solange sie nicht zu Endzeitphantasien oder Öko-Totalitarismus führen, können sie ganz heilsam sein, und sei es nur, um Politiker daran zu erinnern, dass es wichtigeres gibt als Fraktionsdisziplin, Chancen auf Wiederwahl oder Zufriedenstellen der jeweiligen Klientel.
Die Zukunft ist nicht nur "das unentdeckte Land" - es gibt sie buchstäblich nicht. Ich bin mir sicher, dass es sinnvoller ist, zwischen Dingen zu unterscheiden, die wir ändern können, und solchen, die nicht mehr zu ändern sind. Pragmatisches Denken.
Helmut Schmidt, der profilierteste Pragmatiker der jüngeren deutschen Geschichte, sagte (bzw. raunzte) 1980: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!" Es bezog sich auf den damaligen SPD-Vorsitzenden Willy Brand und seine "Visionen". Brandt meinte mit "Visionen" strategische Ziele oder Ideen, ohne die auch ein pragmatischer Politiker nicht auskommt, Schmidts Kritik zielte vermutlich darauf ab, dass Brandt dabei seiner Ansicht nach zum utopischen Denken neigte: "Vision" im Sinne von "Traum" oder "Illusion". "Utopisches Denken" ist die Vorstellung, die gesellschaftliche bzw. politische Zukunft planen zu können: Generalplan "perfekte Gesellschaft", und wenn sich alle bis ins Detail daran halten, wird alles gut. Obwohl ich Freund literarischer Utopien bin, lehne ich utopisches Denken ab - es hat immer einen Zug ins Totalitäre.
Ich verstehe unter "Vision" hier: eine Vorstellung oder Imagination davon, was werden könnte. Was man, etwas ungenau, mit "Leitbild" übersetzen könnte.
Nehmen wir die literarischen Utopien (genauer gesagt: Dystopien) über totalitäre Überwachungsstaaten, genannt seien nur Samjatins "Wir", Orwell "1984" oder Alan Moores "V for Vendetta". Sie zeigen uns, wie es kommen könnte. Als Warnung es nicht soweit kommen zu lassen. Als Aufforderung zum Handeln, dazu, Fehlentwicklungen zu stoppen und, wenn möglich, rückgängig zu machen. In dem Moment aber, in dem aus der Vision, in Form einer literarischen Utopie, utopisches Denken wird, oder schreckenerregende Zukunftsvisionen ins apokalyptische Denken umschlagen, hört ihre befreiende Wirkung auf. (Beispiel: drohende Klimakatastrophe als Begründung einer ökologistischen Diktatur.)

Noch wichtiger als die warnenden Visionen sind die Visionen für eine bessere Welt. Solange sie nicht in "Patentrezepte für eine glückliche Zukunft" umschlagen, in utopisches Denken. Visionen vertragen sich sehr wohl mit pragmatischem Denken. Ein Beispiel ist das Vision Statement der Wikipedia:
Stell dir eine Welt vor, in der jeder einzelne Mensch freien Anteil an der Gesamtheit des Wissens hat.
Ich fand via BasA$$Mood eine sehr hoffnungsvolle Zukunftsvision, umrisshaft verdeutlicht als literarische Utopie bzw. Science Fiction-Szenarium: Cholorofilia 2106.

Keine Heilslehre, kein Detailplan, aber ein Ziel, ein positives Gegenbild zur Schreckensvision der Stadt der Zukunft als gigantischer, kontinentebedeckender Mega-Slum. Übrigens unter dem Leitbild "Anpassungsfähigkeit". Organisch denken, ökologisch, nicht ökologistisch.
Björn (Gast) - 19. Nov, 11:15

Kleiner Hinweis:
Allan Mores "V for Vendetta"

Der Bartträger heißt Alan Moore und sein Zeichner (David Lloyd) war ähnlich stark an dem Entwurf beteiligt wie Moore selbst. Sorry wegen der Kleingeistigkeit, ist so ein Steckenpferd von mir.

Ansonsten: Wie immer ein sehr lesenswerter Text. Danke dafür.

MMarheinecke - 19. Nov, 18:26

Ich habe den Namen korrigiert, danke!

Nein, ich wusste noch nicht einmal, dass Moore einen Bart trägt, geschweige denn, welchen Anteil David Lloyd an "V for Vendetta" hatte. Ich lernte diese Dystophie in beeindruckenden Bilder erst vor gut einem Jahr über Karan kennen: Remember, remember...
reVolution
.

Trackback URL:
https://martinm.twoday.net/STORIES/4459731/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Geheimauftrag MARIA STUART...
Krisenfall Meuterei Der dritte Roman der Reihe "Geheimauftrag...
MMarheinecke - 9. Apr, 19:42
Urlaubs-... Bräune
Das "Coppertone Girl", Symbol der Sonnenkosmetik-Marke...
MMarheinecke - 1. Aug, 08:34
Geheimauftrag MARIA STUART...
Ahoi, gerade frisch mit dem Postschiff eingetoffen. Der...
MMarheinecke - 26. Mär, 06:48
Kleine Korrektur. Man...
Kleine Korrektur. Man kann/sollte versuchen die Brille...
creezy - 11. Nov, 11:29
strukturell antisemitisch
Inhaltlich stimme ich Deinem Text zwar zu, aber den...
dummerle - 5. Jun, 11:12

Suche

 

Status

Online seit 6716 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:08

Credits


doof-aber-gut
Gedankenfutter
Geschichte
Geschichte der Technik
Hartz IV
Kulturelles
Medien, Lobby & PR
Medizin
Persönliches
Politisches
Religion, Magie, Mythen
Überwachungsgesellschaft
Umwelt
Wirtschaft
Wissenschaft & Technik
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren