Samstag, 5. April 2008

Marginalie: Warum lehnte Odysseus die Unsterblichkeit ab?

Aus dem Statement von Bischof Huber auf der Pressekonferenz "Woche für das Leben" "Gesundheit – höchstes Gut?", Berlin:
Besonders anrührend wird das in einem alten Epos erzählt, das dem Menschheitstraum von Unsterblichkeit und Selbstentfaltung etwas anderes entgegensetzt: Der Dichter Homer erzählt in der Ilias, dass Odysseus die Unsterblichkeit, die ihm von der Nymphe Kalypso angeboten wurde, ablehnte. Er zog es vor, an der Seite seiner Frau Penelope alt zu werden. Liebe und Solidarität sind stark wie der Tod. Sie helfen, Leiden standzuhalten und den Grenzen menschlichen Lebens ins Gesicht zu sehen. Solidarität und Gerechtigkeit sind darum für das Gesundheitssystem so wichtig wie der Wunsch der einzelnen nach Gesundheit und das Recht auf eine Heilbehandlung.
Bemerkenswert finde ich zunächst, dass ein Bischof auf einen heidnischen Mythos zurückgreift, um eine christliche Position zu untermauern. Der Grund dürfte darin zu suchen sein, dass ein geeignetes Beispiel im biblischen Kanon fehlt.
Allerdings stimmt die Darstellung des Bischofes nicht. Im ersten Gesang der Odyssee ist ausdrücklich davon die Rede, dass der Rat der Götter beschließt, Odysseus die Heimkehr zu ermöglichen. (In seinem Zorn bat der von Odysseus geblendete Zyklop Polyphem seinen Vater Poseidon, Odysseus auf dem Meer umkommen zu lassen oder seine Heimkehr zu verhindern. Wobei Odysseus' Tat angesichts der Absicht des Zyklopen, ihn und seine Gefährten zu fressen, Notwehr war.) Der Götterbote Hermes fordert die Nymphe Kalypso auf, Odysseus, den sie sieben Jahre lang auf ihrer Insel zurückgehalten hat, ziehen zu lassen. Obwohl Kalypso ihm Unsterblichkeit verspricht, wenn er bei ihr bleibt, wünscht Odysseus sie zu verlassen, um zu Penelope zurückzukehren.
Odysseus ist also Gefangener bzw. Sklave der Kalypso, und ihr Versprechen ist ein Versuch, ihn "freiwillig" im goldenen Käfig auf der verborgenen Insel Ogygia zu halten. Es ist gerade der Drang zur Selbstentfaltung - neben der Loyalität zu seiner Königin / Frau und seinem Pflichtbewusstsein als König Ithakas - der Odysseus auf Unsterblichkeit in Unfreiheit verzichten lässt.
Dieser Abschnitt der Odyssee taugt also nicht als Beispiel für die Aussage: "Liebe und Solidarität sind stark wie der Tod".

Außerdem drängt sich mir, als praktizierendem Heiden (wenngleich vorzugsweise mit Bezug auf ein anderes Pantheon) eine Frage auf: Wer ist Kalypso, wenn sie die Macht über Leben und Tod hat?
Die Antwort ist - für mich - offensichtlich: eine Totengöttin. Dafür spricht ihr Name ("die Verbergende"), dafür spricht, dass ihre Insel mit Schwarzpappeln, Zypressen, Eppich/Efeu und Veilchen bewachsen ist, bei den alten Griechen - und bis heute - typischen Friedhofsbäumen und -Blumen. Sie lässt Odysseus auf Hermes' Geheiß frei - Hermes ist nicht nur Götterbote, sondern auch Psychopompos, Seelenführer, er geleitet die Seelen der Toten in die Unterwelt. Dafür spricht auch, dass Odysseus siebzehn Tage, Tag und Nacht, so segelt, dass die große Bärin stets zur Linken steht. Siebzehn Tage und Nächte Kurs Nordost, bei gutem Wind, das sind sogar mit einem einfachen Segelfloß mindestens 2500 Kilometer. Das große Mittelmeer ist zu klein dafür. Ogygia ist nicht der "Nabel des Mittelmeers", sondern eine Insel im bodenlosen Meer, am Rand der Zeit.
Odysseus verlässt Ogygia - und kehrt ins Leben zurück.

Wie hältst Du es mit den Stammzellen?

Heute startete eine gemeinsame Kampagne der katholischen und evangelischen Kirche unter dem Titel "Gesundheit - höchstes Gut?"
Die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland sorgen sich nun etwa nicht um unsere Gesundheit, sondern darum, dass das Nachdenken über äußerliches Wohlbefinden und körperliche Fitness inzwischen einen derart breiten Raum einnähme, dass man bereits von einer "Gesundheitsreligion" sprechen könne, wie es führende Kirchenvertreter in Würzburg ausdrückten.
SpOn: Kirchen verdammen Fitnesskult.
Kritik an Übertreibungen beim Streben nach Fitness und Gesundheit sind das eine. Eine Kampagne unter dem Titel "Gesundheit - höchstes Gut?" das andere. Schon die Frage konstruiert einen Gegensatz zwischen "Streben nach Gesundheit" und "Streben nach dem Seelenheil", wobei letzterem der Vorrang eingeräumt wird:
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, kritisierte den "Gesundheitswahn unserer Tage". Gesundheit sei wichtig, aber es sei nicht richtig, sie zum Idol zu machen, mahnte Huber beim ökumenischen Gottesdienst im Kiliansdom der Stadt. "Wo es früher noch um das Heil der Seele ging, geht es heute nur noch um den heilen Körper", beklagte der Bischof.
Ich sehe keinen Gegensatz zwischen dem Streben nach körperlichem und psychischem Wohlbefinden und dem Streben nach dem Heil der Seele - für mich geht beides Hand in Hand, das Eine ist ohne das Andere nicht zu haben. Übrigens kann man sich trotz schwerer Krankheit "wohl befinden", während andererseits sogar leichte "Störungen", die die (berufliche) Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigen, einem "das Leben zur Hölle" machen können - nach meinem Empfinden lebt man dann nicht im Heil.
Wenn man allerdings "Gesundheit" nicht als "Wohlbefinden", sondern etwa als "maximale Leistungsfähigkeit" definiert, und mit "Heil der Seele" die "Erlösung" im christlichen Sinne meint, dann, ja dann gibt es durchaus einen "Zielkonflikt".

Von berechtigten, aber banalen Mahnungen wie der, dass Krankheit, Leiden und Tod zum Leben gehören, oder dass es "keine Garantie für ewige Jugend" gäbe (seltsam, ich dachte immer, kein Mensch bliebe ewig jung) oder der, dass kein Mensch "immerwährend gesund" sei, abgesehen: Worauf zielt die Kampagne ab?

Während der "Woche für das Leben" soll kritisch hinterfragt werden, wer Definitionen von Gesundheit vorgibt und warum. Das ist eine in der Tat eine wichtige Frage, denn das Gesundheit instrumentell gesehen wird ist ein drängendes Problem: etwa, das "gesund" gleich "arbeitsfähig" gesetzt wird, egal, wie es dem Einzelnen dabei geht, oder politischer Druck zur "gesunden Lebensführung", mit dem immer im Hintergrund stehenden Vorwurf, jemand sei an seinem Herzinfarkt (Lungenkrebs, Hautkrebs, Bluthochdruck usw. ) doch "selber Schuld", oder - besonders widerlich - die Ausgrenzung Kranker, Gebrechlicher und Behinderter, weil sie der "Leistungsnorm" nicht entsprächen. Aus humanistischer Sicht ist das sehr zu begrüßen!

Aber ich ahne bei diesen Worten, dass da noch ein ganz anderes Thema auf der Tagesordnung steht:
Mit der Woche für das Leben setzten sich die Kirchen gemeinsam ein "für die Würde und den Schutz des menschlichen Lebens in all seinen Phasen und für alle Menschen – gleich welchen Alters und welcher physischer und psychischer Verfassung."
Die allererste "Woche für das Leben" war eine Woche für den "Schutz des ungeborenen Kindes" und seitdem sind die Fragen "Abtreibung" und "Sterbehilfe" ständig auf der Agenda dieser Veranstaltung präsent.
Der vermutlich heikelste Streitpunkt zwischen "christlicher Moral" (nach Maßgabe der römisch-katholischen und - teilweise - der evangelisch-lutherischen Kirchenleitung) und dem "Streben nach Gesundheit" ist die Frage nach den embryonalen Stammzellen.

Auch wenn manche Hoffnungen, die auf die Heilungschancen durch den Einsatz embryonaler Stammzellen gesetzt werden, wahrscheinlich übertrieben sind: die Stammzellforschung ist eines der wichtigsten Forschungsgebiete der modernen Medizin. Und ein wichtiger Teil dieser Forschung ist ohne menschliche embryonale Stammzellen nicht zu machen.
Das Problem (aus christlicher Sicht): der Beginn des menschlichen Lebens wird bei der Befruchtung der Eizelle gesehen. Also muss man (potenzielle) Menschen ermorden, um an embryonale Stammzellen zu kommen. Weshalb sich die Debatte in christlich geprägten Ländern an der moralischen Frage: "Darf man Leben vernichten, um Leben zu retten?" festfährt.

Es fällt auf, dass das vergleichsweise winzige Israel in der Erforschung und Nutzung menschlicher Embryonalzellen weltweit eine führende Position innehat. Einer der wichtigsten Gründe dafür liegt in der jüdischen Religion.
Ein Menschenleben zu retten ist eines der wichtigsten Gebote des Judentums (wie auch des Christentums, des Islams und aller anderen mir bekannten Religionen, mit der mögliches Ausnahme des Satanismus). Dieses Gebot steht im Judentum über fast allen anderen Glaubensgesetzen - durchaus im Gegensatz zu einigen nicht unwichtiger Richtungen des Christentums und des Islams, für die das "irdische Leben" eine untergeordnete Bedeutung hat.
Eine der Grundbedingungen zur Menschwerdung ist laut rabbinischer Auslegung die Einnistung des Embryos im Mutterleib. Föten aus künstlicher Befruchtung genießen deswegen, solange sie nicht erfolgreich eingesetzt wurden, keinen rechtlichen Schutz. Hinzu kommt, dass die jüdische Religion selbst einen Fötus im Mutterleib erst ab dem vierzigsten Tag als ein vollwertiges menschliches Wesen betrachtet - eine pragmatische Annahme, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die Mehrzahl der Embryonen in der Frühschwangerschaft spontan "abgeht".
Deswegen gibt es in Israel fast keine gesetzlichen Einschränkungen in der Stammzellforschung. Dennoch kann die Forschungsethik in Israel gegenüber vielen "christlich" geprägten Staaten als vorbildlich angesehen werden: es ist keineswegs so, dass Embryonen einfach als "Verbrauchsgut" gesehen werden - wenn bei einer künstlichen Befruchtung mehr befruchtete Eizellen entstehen, als benötigt werden, dürfen sie auf keinen Fall einfach weggeworfen werden.
Aber ein Gebrauch für medizinische Forschungszwecke geht in Ordnung - das moralische Gebot "Menschenleben retten" steht über der Heiligkeit der befruchteten Eizellen. Jeder andere Zweck außer der Bekämpfung lebensbedrohlicher Krankheiten (etwa der Gebrauch embryonaler Stammzellen für kosmetische Zwecke) ist verboten.
Das Klonen von Menschen ist in Israel ausdrücklich verboten und jedes Experiment mit embryonalen Stammzellen muss von einem Komitee genehmigt werden. Die Kommerzialisierung menschlicher Embryos, dass heißt Handel oder ihr Ankauf, ist ebenfalls untersagt.

Aus humanistischer wie aus "neopaganer" Sicht (der Sicht einer "Religion", für die das Jenseits Hypothese und das Diesseits Realität ist ) finde ich die israelische Sichtweise äußerst begrüßenswert. So begrüßenswert, dass ich sie mir ohne weiteres zu eigen mache.

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