Gedankenfutter

Freitag, 2. November 2007

"Ruhe ist das erste Bürgerrecht!" - wenn man nach den Entscheidungen Hamburger Gerichte geht

Hamburg ist für (bescheidene) deutsche Verhältnisse so etwas wie eine pulsierende Kultur-Metropole. Aber genau so, wie die Entscheidungen hamburgischer Gerichte zum Urheberrecht Zweifel am weltoffen-demokratischen Charakter der Freien und Hansestadt wecken, so wirken die Entscheidungen hamburgischer Gerichte in Sachen "Ruhestörungen" so, als kämen sie aus einem idyllischen Kurort mit wenig Verkehr und vielen ruhesuchenden Kurgästen.

Bundesweit bekannt ist der Fall um die Kindertagesstätte "Marienkäfer" im Hamburger Stadtteil Marienthal. Diese Kita musste umziehen, weil Nachbarn vor dem Hamburger Landgericht 2005 wegen Lärmbelästigung geklagt hatten und Recht bekamen - obwohl die Kita so nahe an der vierspurigen Rennbahnstraße liegt, dass der Gutachter nicht messtechnisch zwischen dem Lärm der Rennbahnstraße und dem der Kinder unterscheiden konnte.

Im Sommer 2008 zieht die Kita "Marienkäfer" in einen Neubau am Zikadenweg, etwa zwei Kilometer entfernt. Doch auch dort leben ruhebedürftige Nachbarn, die beim zuständigen Bezirksamt Wandsbek Beschwerden gegen den Bau der neuen Kita ein. Deshalb erhält die Kita eine Lärmschutzwand, wie sie etwa bei Autobahnen üblich ist. Sie wird gebaut, um die Ausnahmegenehmigung zu erhalten, die nötig ist, um in einem einem reinen Wohngebiet eine Kita bauen zu dürfen - auf die Anwohner muss Rücksicht genommen werden, selbst wenn ihre Ansprüche an die Ruhe übertrieben wirken.

Hierzu auf SPON: Zu laut: Kindergarten mit Lärmschutzwall>
Hamburger Abendblatt: "Herzlos!" Die strengen Auflagen für Kita Marienkäfer
Zum Urteil im Jahre 2005 - Hamburger Abendblatt: Kinder zu laut - Hamburger Kita muß schließen

Der "Fall Marienkäfer" hat einige Parallelen zum "Fall Unser Haus e. V." in Hamburg-Bergedorf, den ich auch aus eigener Anschauung kenne.

"Unser Haus“ e.V. ist ein selbstverwaltetes Jugend-, Freizeit- und Kulturzentrum, das als Träger der freien Jugendhilfe öffentlich anerkannt ist. Das Haus und der Verein sind darüber hinaus das Dach für weitere eigenständige Gruppen mit teilweise sehr unterschiedlichen Zielsetzungen, vom Tanzen bis zur antifaschistischen Aufklärungsarbeit. Über die Grenzen Bergedorfs und Hamburgs hinaus bekannt ist das "umsonst & draußen" Musik-Festival "Wutzrock", das von Mitgliedern von "Unser Haus" getragen wird.

Einige Nachbarn reichten eine zivilrechtliche Klage wegen Ruhestörung ein. Darin ist enthalten, dass diese Nachbarn vom Vorstand des Vereins verlangen, eine Unterlassungserklärung zu unterzeichnen. Diese Unterzeichnung würde dazu führen das jeglicher Verstoß (Ruhestörung) mit bis zu 250.000 € geahndet wird. Da weder der Verein noch der Vorstand in der Lage ist im Zweifelsfalle diese Summe aufzubringen, wäre der Verein gezwungen sich aufzulösen.
Das Problem ist nicht neu, das Jugend- und Veranstaltungszentrum ist bereits Kompromisse eingegangen z. B. finden statt wie früher zwei, nur noch ein Konzert im Monat statt. Der normale Cafebetrieb dürfte von Anwohnern kaum zu hören sein, denn "Unser Haus" liegt an der viel befahren Wentorfer Straße (B 207). Außerdem gibt es in unmittelbarer Nähe ein viel besuchtes Schnellrestaurant.

Möglicherweise ist in diesem Fall das Ruhebedürfnis nur ein vorgeschobener Grund, denn "Unser Haus" gilt bei rechtskonservativen Bergedorfern nach wie vor als "linke Brutstätte" und "Hafenstraßen-Ableger", was sich aus der turbulenten Entstehungsgeschichte des Jugend- und Kulturzentrums erklären, aber kaum verstehen, lässt, denn inzwischen geniest "Unser Haus" e. V. weithin Respekt für gute Arbeit - bis in die Orts-CDU hinnein.

Lärmschutz ist etwas subjektives. So erhielt eine Gaststätte bei mir in der Nachbarschaft, die im Sommer in ihrem Biergarten Musiker auftreten lässt, nach den Beschwerden einzelner Anwohner strenge Auflagen. Ich gehöre zu den nächsten Nachbarn des Biergartens und fühle mich nicht durch den "Lärm" der üblicherweise am Samstagabend stattfinden Konzerte gestört - was übrigens auch für die meisten meiner Nachbarn gilt. Ich habe den Verdacht, dass es gar nicht um die Konzerte, sondern um die Gaststätte geht.

Lärmschutz ist wichtig. Aber in all diesen Fällen habe ich den Eindruck, dass der Lärm nur der Vorwand für andere, nicht justiziable, Motive ist. Und ich kann die Gerichtsurteile nur schwer nachvollziehen.

Samstag, 20. Oktober 2007

Nazivergleiche

Rayson machte bei den B.L.O.G. den Vorschlag: Wer etwas nicht anders ausdrücken kann als mit Hilfe eines Nazi-Vergleichs, sollte besser schweigen.

Ich schließe mich Rayson an, aber mit Ausnahmen: wer absichtlich oder fahrlässig braunes Gedankengut verbreitet, muss es sich gefallen lassen, mit Nazis gleichgesetzt zu werden. Wer absichtlich oder fahrlässig Ideologien vertritt, die Nazi-Ideologie zum verwechseln ähnlich sehen, muss es sich gefallen lassen, mit Neonazis verglichen zu werden.
Ja, dass geht an jene Ecke, wo gerne mit Metagenetik, Ethnopluralismus und "naturgemäßen" Sexualverhalten, Geschlechterrollen, Hierarchien usw. ja sogar Religionen argumentiert wird. Wo man gern behauptet, kein Rassist zu sein, aber faktisch Rassentrennung predigt. Und wo man angeblich kein Stück antisemitisch (sondern nur antizionistisch) ist - aber die "mosaischen Wüstenreligionen" an allen Übeln Schuld sein sollen, für die die "amerikanische Ostküste" beim schlechtesten Willen nicht verantwortlich gemacht werden kann.

Aber es ist gar nicht so einfach, sauber die Kurve zu kriegen und echte braune Scheiße von allen, was von Weitem ähnlich aussieht, aber keine braune Scheiße ist (von harmlosen Dreck bis Nutella), zu unterscheiden. Ohne Kenntnis der Zusammenhänge und des Hintergrunds ist das ein Ritt auf der Rasierklinge, den man im Zweifel besser unterlässt.
Es ist aber verführerisch einfach: Wann immer einem die Argumente ausgehen, holt man die Nazi-Keule hervor und bezichtigt seinen Gegner kurzerhand "nationalsozialistischen Gedankenguts".

Zwei bekannte Opfer dieser Praxis in jüngster Zeit sind zwei prominente Biologen.
Nehmen wir den britische Evolutionsbiologen Richard Dawkins von der Oxford University, dessen Buch "Der Gotteswahn" gerade in deutscher Übersetzung erschienen ist. In diesem Buch schreibt er auch einige nicht sehr erfreuliche Dinge über den mosaischen Gott - im Rahmen einer allgemeinen Religionskritik, aber man kann die Zitate ja aus ihrem Zusammenhang präparieren. Oder man kann ihm einen öffentlich geäußerten dummen Vergleich im Munde umdrehen:
"When you think about how fantastically successful the Jewish lobby has been, though, in fact, they are less numerous I am told - religious Jews anyway - than atheists and [yet they] more or less monopolise American foreign policy as far as many people can see. So if atheists could achieve a small fraction of that influence, the world would be a better place."
(aus: Atheists arise: Dawkins spreads the A-word among America's unbelievers.) Es überrascht mich zwar, dass Dawkins die Legende von der schrecklich einflussreichen "jüdischen Lobby" als Vorbild (!) für eine mögliche segenstiftende "atheistische Lobby" anführt, aber als Beleg für eine antisemitische Einstellung Dawkins' reicht das nicht.
Erst recht unangemessen ist es, wie es der Psychiater und Theologe Manfred Lütz es in einer in der "Welt" abgedruckten Rezension des Buches "Der Gotteswahn" tut, gegenüber Dawkins zur braunen Keule zu greifen. Missionarischer Atheismus.
Lütz schreibt Dawkins darin eine "zynische Ethik" zu, die dem Dritten Reich und der Ermordung von über 100.000 behinderten Menschen den Weg geebnet hätte.
Was hat Dawkins außer der scharfen Religionskritik, über die ein Theologe verständlicherweise wenig erfreut ist, Böses geschrieben?
Er soll die christliche Doktrin von der "Heiligkeit des menschlichen Lebens" untergraben haben - und er hat sich für einen liberalen Umgang mit der Abtreibung, der Stammzellenforschung und der Beihilfe zur Selbsttötung nach dem Vorbild der Schweiz ausgesprochen. Glaub man Lütz, zeigt das eine "Mentalität, die auch Karl Binding und Alfred Hoche nicht fremd war". (Hoche und Binding lieferten die pseudowissenschaftliche Rechtfertigung für das "Euthanasieprogramm" der Nazis - das ein Programm zur "Ausmerzung" "lebensunwerten Lebens" war.)
Natürlich ist Dawkins laut Lütz auch Rassist und Befürworter der Eugenik. Auch wenn in dem ganzen umfangreichen Buch keine Zeile darüber steht. Dawkin steht eben seinem Freund Watson zu nahe:
Außerdem huldigt Dawkins offensichtlich einem Intelligenzrassismus, wie er auch von seinem Freund James Watson bekannt ist, der einst forderte, man solle weniger intelligenten Menschen, die Kinder zeugen, höhere Steuern auferlegen, da die die Gesellschaft mit ihren wahrscheinlich wenig intelligenten Kindern belasten.
(In Kenntnis des skurrilen Humors und der etwas exentrischen Anschauungen Dr. Watsons würde ich gern wissen, in welchem Zusammenhang er das geäußert haben soll.)
Zur von Lütz behaupteten unbeabsichtigten Rechtfertigung Hitlers durch Dawkins: Der Satz "Besonders bösartig erscheint Hitler nur nach den eher gutartigen Maßstäben unserer Zeit" steht in einem Kontext, aus dem klar ersichtlich ist, dass Dawkins Hitler ablehnt. Dawkins zielt auf den "Zeitgeist" ab, den gesellschaftlichen Konsens über Werte: Vor 100 Jahren war es z. B. "normal", selbst unter gebildeten Weißen, Schwarze für minderwertig und Homosexuelle für krank zu halten. Heute hätte sich dies zum Glück geändert. Ethik und Moral unterliegen also einem Wandlungsprozess. Dawkins ist der Ansicht, dass sich die Werte trotz einiger Rückschläge, z. B. bei religiösen Fundamentalisten in den USA, zum Besseren wandeln. Vielleicht hätte Dawkins differenzieren sollen, etwa so: "Die antidemokratische, rassistische und antisemitische Ideologie der Nazis galt um 1930 auch außerhalb Deutschland nicht unbedingt als 'besonders bösartig', die Taten, die folgten, allerdings schon."
Heute sind wir (wahrscheinlich aufgrund der schlechten Erfahrung) so weit, dass schon Nazideologie auch ohne die mit ihr verbundenen Mordtaten (außer von Neonazis) als besonders bösartig wahrgenommen wird.
Insgesamt illustriert das Beispiel wieder einmal, wie tückisch Nazi-Vergleiche sind. Hätte Dawkins z. B. geschrieben: “Besonders bösartig erscheint Alexander der Große (Caesar, Konstantin, Karl der Große, Dschingis-Khan, Wallenstein, Napoleon usw. usw.) nur nach den eher gutartigen Maßstäben unserer Zeit" hätte ihm kaum jemand widersprochen.
Ansonsten redet Lütz in seiner Kritik fast durchweg an Dawkins vorbei, wobei mir nicht klar ist, ob aus Unverständnis oder Absicht.

(Nebenbei stimmt es einfach nicht, dass "die Sklaverei vor allem von den Christen abgeschafft wurde", was Lütz mit den Hinweis auf "neuere Forschungen" behauptet - denn es gab noch weit bis in hohe christliche Mittelalter Sklaverei und Sklavenhandel - und nicht zu vergessen auch: auch Leibeigenschaft ist eine Form der Sklaverei. Erst in der Folge der Aufklärung und der industriellen Revolution, die Sklavenarbeit in den meisten Fällen "unrentabel" werden ließ, wurde die Sklaverei wirklich abgeschafft.)

Der erwähnte Dr. James Watson, Mitentdecker der Bedeutung der DNS als Erbträger, Nobelpreisträger und "großer alter Mann" der Genforschung, geriet auch selbst (wider einmal) in der Verdacht, ein böser Rassist zu sein. In einem Interview mit der "Sunday Times" behauptete er angeblich, dass Test zeigen würden, dass Schwarze nicht so intelligent wie wir (Weiße) seien. Im Kontext wird klar, dass Watson, der im selben Absatz sagt, dass die Genforschung noch mindestens ein Jahrzehnt davon entfernt ist, etwas wissenschaftlich Belegbares über Intelligenzunterschiede auszusagen, einen seiner berüchtigten provokativen Scherze gemacht hat. Seine Provokationen leben von Auslassungen entscheidender Fakten und deren späteren Ergänzungen. Heise telepolis: Falsche Annahmen.

Allen Rassisten, die sich auch schon in der Vergangenheit gerne auf Watson beriefen, sei seine Richtigstellung im "Independent" ans Herz gelegt:
Ich kann die Reaktionen zu einem großen Teil verstehen. Denn wenn ich gesagt habe, was ich gesagt haben soll, dann muss ich zugeben, dass mich das bestürzt. Bei all jenen, die aus meinen Worten geschlossen haben, dass Afrika als Kontinent in irgendeiner Weise genetisch minderwertig sei, kann ich mich nur aus vollem Herzen entschuldigen. Das habe ich nicht gemeint. Und noch wichtiger: Es gibt keinerlei wissenschaftliche Grundlage für eine derartige Annahme.

Mittwoch, 3. Oktober 2007

50 Jahre Sputnik und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei

Gedanken zu einem Jubiläum.

Mit blutigen Händen nach den Sternen greifen?
Der Start des ersten künstlichen Erdsatelliten hat erst am 4. Oktober Jubiläum. Aber abgesehen davon, dass ich morgen keine Zeit zum Bloggen habe, könnte man, mit einigem Recht, auch den 3. Oktober den "Geburtstag der Raumfahrt" nennen. Den 65. Geburtstag.

Am 3. Oktober 1945 starte die erste erfolgreiche Großrakete, und sie war das erste gesteuerte Fahrzeug, dass sich technisch gesehen im Vakuum des Weltalls bewegte. Es war eine A4, als Terrorwaffe unter der Propagandabezeichnung V2 bekannt, sie hob vom Prüfstand 7 der Heeresversuchanstalt Peenemünde ab. Sie stieg auf 90 km Höhe auf, erreichte mehr als fünffache Schallgeschwindikeit und flog etwa 200 km weit.

Eine problematische Geburt - die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei, um den Untertitel von Rainer Eisfelds großartigen kritischen Biographie Wernher von Brauns, des Chefkonstrukteurs sowohl der A4 wie 25 Jahre später der "Mondrakete" Saturn V zu zitieren. Lassen sich die Ambivalenzen, die damit verbunden sind, das Sputnik 1 von einer Interkontinentalrakete gestartet wurde, die zum Transport einer Wasserstoffbombe konstruiert wurde, lassen sich die brutale Umstände, unter denen die A4 "geboren" wurden, selbst in einer so tief von Verdrängung, Selbstbeweihräucherung und Selbstbetrug geprägten Kultur wie der Deutschen nicht unter den Teppich kehren.

Im Zusammenhang mit dem Ausbau der unterirdischen Waffenfabrik unter dem Kohnstein im Südharz und der anschließenden Fertigung der A4-Rakete sowie der Flugbombe V1 und von Teilen eines Düsenjägers kamen nach offizieller Zählung in den SS-Akten etwa 12.000 Zwangsarbeiter ums Leben. Aller Erfahrung nach ist das ein Mindestwert.
Dem Einsatz der A4, die - noch unausgereift und ungenau wie sie war - nicht militärisch sinnvoll eingesetzt werden konnte, und deshalb eine reine Terrorwaffe gegen die Zivilbevölkerung war, fielen etwa 8.000 Menschen zum Opfer. Fast ausschließlich Zivilisten.

Trennung, was nicht zu trennen ist
Eine noch heute beliebte Verdrängungsstrategie ist es, zwischen den "sauberen" A4 Entwicklern in Peenemünde und der unmenschlichen Fertigung in den Stollen des KZs "Dora" zu trennen. Aber das ist nicht nur deshalb Unsinn, weil es auch in Peenemünde eine KZ-Aussenstelle für die "Versorgung" der Vorserienproduktion mit "entbehrlichen" Sklavenarbeitern gab, sondern, weil die "Peenemünder" selbstverständlich in die Serienproduktion einbezogen, und deshalb über die mörderischen Lebensbedingungen im Kronstein informiert waren, und sie zumindest billigend in Kauf nahmen.

Darüber, dass die Großraketenentwicklung sich nicht von der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen trennen lässt, brauche ich wahrscheinlich kein Wort zu verlieren.

Um der quälende Ambivalenz zu entgehen, wurde und wird auch verschiedentlich die entscheidende Rolle der A4 / V2 für der Raumfahrtentwicklung geleugnet. In der sowjetischen R7, die den Sputnik ins All brachte, steckte einiges an A4-Technik, sie kann als indirekte Weiterentwicklung der A4 bezeichnet werden. Die Redstone / Jupiter C, die den ersten amerikanischen Satelliten Explorer beförderte, ist eine Konstruktion Wernher von Brauns und eine direkte Weiterentwicklung der A4. Die Vanguard-Rakete, die vorgesehen war, den ersten amerikanischen Satelliten zu starten, profitierte dagegen nur indirekt von "Peenemünder" Erkenntnissen. Sie war kein Trägersystem für Massenvernichtungswaffen und kam ohne "Nazi-Ingenieure" aus - und wurde deshalb der aussichtsreicheren und erprobten Jupiter C vorgezogen. Ohne den ehrenwerten Versuch, "sauber" zu bleiben, wären es wohl die USA gewesen, die den ersten Satelliten gestartet hätte. Nach dem "Sputnik-Schock" war alles egal, der ehemalige SS-Mann von Braun durfte "seine" Raketen in den Dienst der Raumfahrt stellen.

Die UdSSR, die "ihre" "Beutedeutschen" schon Anfang der 1950er zurück schickte, steht zwar formal-moralisch "besser", aber keineswegs "sauber" und "unschuldig" da. Von der Waffenentwicklung einmal abgesehen: Sergej Koroljow, der "Vater" der R7 und des Sputniks ist auch eine ambivalente Figur. Ein ehemaliger GULAG-Zwangsarbeiter, der hinnahm, dass für den Bau der Startanlagen in der Steppe Kasachstans auch Zwangsarbeiter eingesetzt wurden - von denen viele bei den harten Arbeitsbedingungen umkamen. Ein Mann, der den Stiefel leckte, der ihm zuvor die Zähne eingetreten hatte.

Wie man es auch nimmt: die Raumfahrtpioniere, selbst wenn sie nicht so fanatisch, rücksichtslos und opportunistisch waren wie von Braun, hatten einen "Teufelpakt" geschlossen. Sie griffen mit blutigen Händen zu den Sternen.

Der Weg ins All - auf dem Rücken von zu Tode gemarterten Sklaven!
Die Raketen - gebaut, um millionenfachen Massenmord zu begehen.

Welche moralische Folgen ergeben sich daraus?
Moral hängt steht von einem (ungeschriebenen) Moralkodex einer Kultur ab. Legt ich z. B. einen christlich-fundamentalistischen Moralkodex an, ist die Raumfahrt schon durch die Umstände ihrer "Geburt" aus der Technik der Massenvernichtungswaffen und der offensichtlichen Amoral, dem "faustischen Geist", ihrer "Väter", abzulehen. Raumfahrt ist "Teufelswerk".

Lege ich einen pragmatischen Moralkodex zugrunde, dann sich die Umstände der Raumfahrtentstehung zwar zu bedauern, aber nun mal nicht zu ändern. Was die Raumfahrt heute bringt - und sie ist ohne Zweifel von großem Nutzen - sollte im Vordergrund stehen. Denn: es wurden viel mehr Menschenleben durch die Satellitentechnik gerettet, als durch Großraketen bisher starben.

Wie ich darüber denke? Pragmatisch. Was nicht mehr zu ändern ist, ist nicht mehr zu ändern. Der Verzicht auf Raumfahrt bringt keine toten KZ-Häftling mehr ins Leben zurück.

Außerdem: es stimmt einfach nicht, dass die Raumfahrt ohne den 2. Weltkrieg, den Wahnsinn des Hitlerreiches, das Wettrüsten der Großmächte nie entwickelt worden wäre. Es hätte vielleicht "nur" etwas länger gedauert. Es gibt nicht ohne Grund inzwischen einen starken privaten Sektor in der Raumfahrt.

Ich gehe sogar so weit, zu behaupten, dass die Entwicklung der Raumfahrt eine Notwendigkeit ist. Aus pragmatischen und auch aus ethischen Gründen.

Freitag, 28. September 2007

Zeitgeist Weltverschwörung

In meinem Kommentar zu Neueste Verschwörungs-Theorie ... bin ich schon kurz auf den Film "Zeitgeist - The Movie" eingegangen. Der im Stile einer Fernsehdokumentation aufgemachte Film kursiert schon ein paar Monate im Internet, er hat seine Fans nicht nur unter den "üblichen Verdächtigen", die hinter jedem Baum einen Illuminaten sehen und "Jan van Helsing" für einen Märtyrer der Wahrheit halten, sondern auch bei Bloggern und Forumsschreibern, die ich für vernünftig und freiheitlich gesonnen halte.

Part 1
Der interessantes und originellste Teil des Filmes. Obwohl die zentrale Botschaft, nämlich die, dass Religion zur Kontrolle der Bevölkerung eingesetzt wurde und wird, wirklich keine bahnbrechend neue Erkenntnis ist.
Die "Selbstähnlichkeit" der Religionen, ein Kernpunkt dieses Kapitels, kann ich bestätigen. Man braucht kein Experte in vergleichender Religionswissenschaft und Mythenforschung zu sein (noch nicht einmal ein Sagen- und Mythen-Enthusiast wie ich), um auf die von einer Kultur zu anderen wandernden Mythen, die übernommenen mythologischen Motive und Gestalten, die wechselseitig übernommen Geschichten, zu stoßen. Dass das "Alte Testament" sich bei älteren mythologischen Quellen, wie dem "Gilgamensch-Epos", bedient, dass sich Relikte einer älteren, polytheistischen Religion in ihm Finden, oder dass die alten Hebräer Ideen von ihren Nachbarn, den Ägyptern, Phönikiern, Babyloniern, Persern, Griechen usw. übernahmen, kann nur den erstaunen, der die Bibel losgelöst vom ihrem kulturellen Hintergrund liest. Den Mythos von Jesus Opfertod und Wiederaufentstehung als eine Art "Nacherzählung" des altägyptischen Mythos des Sonnengottes Horus darzustellen, dürfte eine glatte Überinterpretation sein. Die Autoren den Evangelien bedienten sich zwar bei den im östlichen Mittelmeerraum kursierenden Mythen und mythologischen Metaphern; der Mythos selbst ist aber so tief im Judentum verankert (Messiasvorstellungen usw.) und übernimmt so viele damals moderne hellenistische Ideen (vor allem aus der Philosophie der Stoa), dass die strukturelle Ähnlichkeit mit dem Horus-Mythos daneben weit zurücktritt. Die "Mutter Gottes"-Verehrung, die wirklich eine Übernahme von Elementen der Isis-Verehrung ist (bis zu Übernahme der Kultorte und der Attribute der Gottesmutter), zog erst lange nach den Evangelisten ins Christentum ein - und ohne Marienkult sind die Übereinstimmung zwischen Horus-Mythos und Jesus-Mythos weniger verblüffend.
Erheblich spekulativer als die Übereinstimmung der "religiösen" (genauen: mythischen) Überlieferungen ist da schon die behauptete Verbindungen zwischen den Religionen über die Himmelsmechanik, die Idee einer grundliegenden Astral-Religion. Sternbeobachtungen haben wirklich eine sehr wichtige Rolle in den frühen Kulturen gespielt, und Sternenmythen sind entsprechend weit verbreitet. Aber auch sind viele Aussagen hypothetisch oder reine Interpretation - manchmal Überinterpretation. Die "Jungfrauengeburten" als Geburt im Steinbild Jungfrau, die 12 Jünger mit den 12 Tierkreiszeichen oder die Fischsymbolik des Christentums mit den Zeitalter der Fische zu verbinden, und die Bibel als astrologisches Buch zu interpretieren, ist angesichts der anti-astrologischen Tradition des Judentums an den Haaren herbeigezogen. Dafür, dass die Präzession des Frühlingspunktes, das "platonische Jahr" oder "Weltenjahr" (von ca. 25.800 Jahren) und der "Weltenmonat" mit etwa 2150 Jahren (in der hellenistischen Astrologie "Aeon" genannt), in der Bronzezeit überhaupt bekannt waren, gibt es meines Wissens nicht den geringsten Hinweis. ( Von einer mythischen, religiösen oder astrologischen Bedeutung gar nicht zu reden).
Dass Johannis, als er die Apokalypse verfasste, mit dem Wort "Aeon" das astrologische Aeon (Zeitalter) gemeint hätte, ist eine weitere Spekulation. (Allerdings hat mich der Seitenhieb auf die auf den Weltuntergang wartenden christlichen Fundamentalisten amüsiert.)
Die Tatsache, dass der historische Jesus den antiken Historikern entging, spricht nicht gegen seine Existenz - zumal der historische Jesus sich wenig von anderen "Wanderlehrern" seiner Zeit unterschieden haben dürfte - und wenig von den anderen Juden, die wegen Aufruhr gegen die römische Besatzungsmacht (und die mit ihr kollaborierenden jüdischen Priester) hingerichtet wurden.

Das Zielpublikum dieser "Enthüllungen" sind US-Amerikaner. Schon ohne den Beinahe-Gleichklang von "Son" und "Sun" verliert die Präsentation an Reiz. Auch die Behauptung, das Christentum sei ein Plagiat und beruhe auf Lügen, dürfte auf ein amerikanisches Publikum schockierender wirken als auf ein deutsches.

Part 2
Längst nicht so originell wie der erste Teil. Spekulationen über die wirklich wahre Wahrheit der Ereignisse am 11. September 2001 gibt es zuhauf, plausible und absurde.
Anders als andere Rekonstruktionsversuche von 9/11, auch solche, die die offizielle Version anzweifeln und von einem "inside Job", also von Tätern im Umfeld der US-Regierung ausgehen, arbeitet der Film mit suggestiven Mitteln, schnellen Schnitten und Gegenschnitten, Zitaten ohne Kontext und ungeprüften Hypothesen.
Den Wahrheitsgehalt der offiziellen Version und den der Behauptungen im Film kann ich in den meisten Fällen nicht nachprüfen, ohne wieder auf durch mich nicht nachprüfbare Aussagen angewiesen zu sein. (Im Unterschied z. B. zur Mondlandung, wo sich die meisten Argumente der Verschwörungstheoretiker mit etwas physikalischem Grundwissen auseinandernehmen lassen).
Dennoch - eine Aussage im Film zum "World Trade Center" ist eindeutig falsch: die WTC-Türme hatten, anders als die meisten anderen Hochhäuser, nicht nur einen "Kern" als tragender Säule in der Mitte des Gebäudes, an dem die Stockwerke aufgehängt sind, sondern zusätzlich eine tragende "Schale" - dass in der Fassade massive Trägerelemente eingebaut waren, ist auf den im Film gezeigten Szenen vom Bau des WTC deutlich zu erkennen. Dankt dieses "Außenskelets" konnten die Trägerstrukturen im Gebäudeinneren leichter gehalten werden als bei anderen Hochhäusern, was mehr Bürofläche bedeutete. Ein Gebäude, bei dem ein Teil der tragenden Struktur außen liegt, ist natürlich verwundbarer gegenüber einem "Loch in der Fassade" als eines mit zentraler tragender Säule. Wegen ihrer mittragenden Außenhülle sackten die WTC-Türme auch eher in sich zusammen als das sie stürzten. Das nur am Rande.

In einer Hinsicht schließe ich mich der Seite der Filmemacher an: Präsident George W. Bush und seine Regierung haben tatsächlich und nachweislich gelogen und Tatsachen verdreht bzw. unter den Teppich gekehrt.
Die "offiziellen" Geschichte vom in seiner Höhle im Hindukusch eine weltumspannende Terrororganisation befehligenden Osama bin Laden halte ich mit ihrer Unterkomplexität, ihrem Schwarz-Weiß-Denken und ihrem großzügigen Umgang mit Fakten ebenfalls für eine Art Verschwörungstheorie. Das sagt aber nichts über den Wahrheitsgehalt anderer Verschwörungstheorien, einschließlich der im Film vorgestellten, aus. Tatsächlich halten ich einen"echten" "Inside Job", im Sinne "selbst gemachter" Attentate, für eher unwahrscheinlich.

Part 3
Der dritte Teil entspricht fast durchgehend einer klassischen Weltverschwörungstheorie: Es gibt eine Handvoll Großbankiers, die im Bund mit korrupten Politikern hinter jeder Schweinerei stecken, von der Weltwirtschaftskrise bis zu den Attentaten am 9. September 2001. Von der Einrichtung der amerikanisches "Federal Reserve Bank" bis zum Aufbau der EU bis zur Gründung der nordamerikanischen Union (einer reinen Freihandelszone) sind praktisch alle wirtschaftspolitische Maßnahmen, die die Autoren des Films nicht mögen oder nicht verstehen, Teile eines Langzeitplans zur Errichtung einer Weltdiktatur. (Noch nicht einmal die "Illuminaten" fehlen, auch wenn die absurderen Teile der Legende wohlweislich fortgelassen wurden.)
Es handelt sich um eine strukturell antisemitische Verschwörungstheorie. (Strukturell antisemitisch bedeutet, dass einer bestimmten Anschauung oder Handlungsweise eine gedankliche Struktur zugrunde liegt, die dem Antisemitismus entspricht.) Die "Bösen" in "Zeitgeist" sind zwar fast alle keine Juden (auch wenn die Rothschilds in ihrer Eigenschaft als Bankiers genannt werden) aber sie weisen die klassischen Eigenschaften des "Finanzjudentums" in älteren Weltverschwörungstheorien auf. Das schließt nicht aus, dass die im Film genannten Bankiers, Wirtschaftsführer und Politiker tatsächlich üble Burschen gewesen sein können, ebensowenig, dass sie in Mauscheleien, Intrigen, Korruption, Manipulation oder sogar regelrechte Verschwörungen verwickelt gewesen sein könnten. Der entscheinde Punkt liegt in der "Zentralsteuerung": der Einfluss der "Drahtzieher" erstreckt sich über die ganze Erde, und über Jahrhunderte hinweg bleiben sie ihren Zielen treu, sie haben ferner geradezu übermenschliche Fähigkeiten, andere Menschen hinters Licht zu führen, sind besser als alle anderen über alles informiert und können anscheinend sogar in die Zukunft sehen bzw. die Auswirkungen ihrer Manipulation bis auf die Nachkommastelle exakt vorhersehen.

Das Schema ist geradezu enttäuschend: "Schuld am schlechten Zustand der Welt sind ein paar Bösewichte, und alle anderen sind unschuldige, nichtsahnende Opfer. Aber zum Glück gibt es ja ein paar wenige Erleuchtete, die den Durchblick haben! Nämlich wir, die Autoren von Zeitgeist!"

Zu meiner Enttäuschung über das Niveau der Verschwörungs-Theorie trugen faustdicke Ungereimtheiten bei: z. B. wurde die "Lusitania" im September 1915 durch ein deutsches U-Boot versenkt, der Kriegseintritt der USA war aber erst im April 1917. Wenn die "Lusitania" aufgrund einer Verschwörung, die den Kriegseintritt der USA zum Ziel hatte, versenkt wurde, dann ist die Verschwörung gescheitert.

Fazit:
Wenn man ihn beim Wort nimmt, zieht sich der Film mit dem Abschnitt über "Kontrolle durch die Medien" selbst den Boden unter den Füssen weg, bzw. kreiert ein Paradoxon.

Man kann dieses Paradoxon bzw. sogar den ganzen Film aber auch als "Mindfuck" sehen, als Anregung zum Selberdenken:
"Glaube nicht alles, was dir gezeigt und gesagt wird, mag es auf den ersten Blick auch noch so plausibel erscheinen! Informiere dich selbst, prüfe Behauptung nach, soweit es dir möglich ist! Lass nicht alles mit dir machen und gib nicht alles aus deiner Hand, nur um der Bequemlichkeit willen! Glaube auch den Aussagen dieses Films nicht ungeprüft!"
Allerdings ist dieser Film nicht gerade "Kubrick, Nixon und der Mann im Mond", die intelligente fiktive Dokumentation über die gefälschte Mondlandung, mit der William Karel seine Zuschauer gekonnt aufs Glatteis führt - um die Sache dann im Abspann aufzuklären.

Ich fürchte, seine Macher meinen ihre Verschwörungstheorien ernst.

Und - lohnt es sich, trotzdem den Film anzusehen?:
Ja! Man kann - und sollte - ihn genauso mal ansehen, wie eine Pro-Sintflut- und Anti-Evolutions-Website - oder alte Videoaufzeichnungen von Karl-Eduard von Schnitzlers "Der schwarze Kanal" oder gut gemachte Propagandafilme unterschiedlicher Epochen und Regime. Der Film trainiert den Blick für Manipulation - weil man weiß, dass der Film manipulativ ist.

Dienstag, 25. September 2007

Neueste Verschwörungs-Theorie: Schäubles unheimliche "Experten"!

Bundesminister Schäuble hat auch nach seinen Gesprächen in den USA keine konkrete Hinweise darauf, dass sich nukleares Material in Terroristenhand befinden könnte. (Was nicht viel besagen muss, schließlich gibt er noch nicht einmal konkrete Hinweise auf die Identität der zahlreichen Experten, die seinen Angaben nach weltweit vor Anschlägen mit "schmutzigen Bomben" warnen.
(Schmutzige Bombe lässt Schäuble nicht los.)

Wie wirkt eine "schmutzige Bomben", was macht sie gefährlich?

Eine "schmutzige Bombe" hat mit einer Atombombe nichts gemeinsam. Sie ist ein ganz normaler Sprengkörper aus ganz normalem Sprengstoff, dem radioaktive Substanzen beigemischt wurden. Zweck des Ganzen ist es, die radioaktiven Isotope über ein größeres Areal zu verteilen. Als radioaktive Substanzen kommen z. B. Cäsium 137, wie es in der Medizin und in der Industrie verwendet wird, oder Plutonium 239, aus wiederaufbereiteten gebrauchten Brennstäben von Kernreaktoren in Frage. Cäsium 137 ist relativ einfach zu beschaffen ist, während die Beschaffung von Plutonium 239 schon schwieriger sein dürfte - allen Gerüchten um "Atomschmuggel" zum Trotz. Von daher ist anzunehmen, dass Terroristen sich an das relativ einfach und relativ unauffällig zu beschaffende Cäsium 137 halten.
Bis hierhin hat Schäuble bzw. haben seine anonymen Experten, recht: so eine schmutzige Bombe ist zwar nichts für Fritzens Freizeit-Terroristen, aber eine z. B. auf dem Niveau der alten RAF (1 oder 2. Generation) arbeitende Gruppe müsste das hinkriegen. Die "Hamburger Zelle" der Al Qaida hätte es wohl auch geschafft.

Bevor sich jetzt alle, die das lesen, möglichst schnell in möglichst einsame Gegenden fliehen: Zur Gefährlichkeit von schmutzigen Bomben sind sich die Experten einig - sie verhält sich zu der durch eine Atombombe etwa so, wie eine Kleinkaliberpistole zur 150 mm Panzerhaubize. Wenn man nahe genug dran ist und viel Pech hat, kann auch die KK tödlich sein. (Ich habe im Internet recherchiert und könnte auch die Namen der Experten und die Institutionen, für die sie arbeiten, nennen. Aber wenn Schäuble sich auf anonyme Experten beruft ... )
Also: bei einer schmutzigen Bombe mit Cäsium 137-Füllung müsste sich ein Mensch ca. 100 Stunden im Kernbereich der Explosion aufhalten, um mit 5% Wahrscheinlichkeit Symptome einer akuten Strahlenerkrankung zu entwickeln. Es ist also nahezu ausgeschlossen, dass die betroffenen Anwohner, Rettungskräfte oder Passanten eine Strahlendosis ausgesetzt wären, die zu akuter Strahlenerkrankung oder gar zum Tode führen könnte.
Szenarien, die zum Ergebnis kommen, dass im dem am meisten kontaminierten Gebiet jeder zehnte Betroffene an Krebs sterben würde, beruhen auf der Annahme, dass die Bevölkerung seelenruhig ohne Schutzmaßnahmen und ohne Dekontaminierung jahrelang in der "heißen" Zone leben bleibt. Realistisch wäre das vielleicht bei einem unentdeckt gebliebenen / vertuschten Unfall mit Atommüll, bei einer "schmutzigen Bombe" würde sofort evakuiert werden.

Die gefürchtete "schmutzige Bombe" entspricht, selbst bei einer großen Ausführung, abgesehen von der Explosionswirkung einem mittlerem Unfall beim Transport von radioaktivem Material oder einem Brand in einem radiologischen Labor. Keine Bagatelle, aber nichts, womit der Katastrophenschutz überfordert wäre. Wenn es Tote gäbe, dann direkt durch die Explosionswirkung.

Weshalb ist die "schmutzige Bombe" trotzdem so gefürchtet? Wegen ihrer psychologischen Wirkung!

"Schmutzige Bomben” würden zwar selbst in unmittelbarer Nähe zum Explosionsort aus radiologischer Sicht keine Gesundheitsgefährdung für große Teile der Bevölkerung darstellen. Aber sie würden - aus Unkenntnis über die tatsächlichen Gefahren - zu Überreaktionen, bis hin zur Massenpanik, führen. Würde eine "schmutzige Bombe" mitten in einer Großstadt explodieren, gäbe es hunderte Tote, unzählige Verletzte - wegen der vielen Verkehrsunfälle auf den Ausfallstraßen.
Halten wir also fest: Je größer die Panik, desto wirksamer die "schmutzige Bombe".

Und jetzt haltet Euch fest: Wer sorgt dafür, dass wir so richtig panische Angst vor Terroristen mit "Nuklearem Material" haben? Richtig, Bundesinnenminister Schäuble!
Da "schmutzige Bomben" reine Psychowaffen sind, deren Wirkung sich aus der Angst, Uninformiertheit und Panik der Massen herleitet, ist die Panikmache von Schäuble Beihilfe zum Terror.

Warum macht er das? Die Möglichkeit, dass Schäuble selbst ein Al Qaida-Agent ist, kann man schon mal ausschließen. Agenten müssen mental topfit sein, sie dürfen sich vor allem niemals in Widersprüche verwickeln lassen. Da Schäuble sich nicht agententypisch verhält, können wir diese Hypothese getrost vernachlässigen.

Also handelt er wider besseren Wissens? Wird er erpresst? Oder manipuliert? Steht er unter Einfluss von Dr. Mabuses Gedankenstrahler? Oder unter Drogen? Fast hat es den Anschein.

Die naheliegenste Erklärung ist: sein geheimnisvoller anonymer Expertenstab, dem Schäuble bedingungslos vertraut und ohne den er offensichtlich nicht einmal vor die Tür rollt, wurde unterwandert!

SIE flüstern ihm ein, Angst vor Terroristen hinter jedem Busch zu haben und Angst vor Terroristen hinter jedem Busch zu verbreiten! SIE täuschen ihm vor, wir würden längst in einem gnadenlosen Weltbürgerkrieg stehen, einem Existenzkampf der kläglichen Überreste des einst stolzen christlichen Abendlandes gegen die Flut irgendwelcher fremdländischer Fanatiker. Und jeden Moment droht der Atomangriff. SIE reden ihm ein, eine "schmutzige Bombe" sei das selbe wie eine Atombombe - und das Internet eine Fernuniversität des Terrors.

Manchmal schafft es Wolfgang Schäuble unter höchster Willensanstrengung für einige Minuten den Bann IHRER Suggestionen zu durchbrechen. Das sind dann die Momente, in denen er zur Besonnenheit mahnt, uns sagt, dass wir in Wirklichkeit keinen Grund zur Panik haben, in denen er darauf hinweist, dass Deutschland einer der sichersten Staaten der Welt ist.

Aber dieser lichten Momente sind kurz. SIE sind leider stärker!

Damit macht auch alles andere plötzlich Sinn! SIE reden ihm sinnlosen, aber teure und personalintensive Gesetzvorlagen ein, die außerdem noch die Verfassung unterminieren. SIE richten seine Aufmerksamkeit auf die Festplatten privater PCs. Onlinedurchsuchung? Alles Ablenkung! IHRE Ziele sehen anders aus!

Die ZIELE der EXPERTEN der ANGST! *schauder*

Dienstag, 11. September 2007

Über Musik, Philosopie, Wissenschaft und Poesie

(Angeregt durch MomoRules Über Kunstwahrheit.)

Kann ein belletristisches Werk, ein Stück "schöne Literatur" zugleich ein wissenschaftliches Werk sein? Selbstverständlich! Zwar käme kein Wissenschaftler, erst recht kein Naturwissenschaftler auf die Idee, eine neue Theorie oder eine interessante neue Entdeckung in Romanform zu veröffentlichen, aber schon auf der Ebene der "Public Sciences", dem, was im deutschen Sprachraum mit dem oft etwas abschätzig klingenden Wort "populärwissenschaftlich" abgetan wird, sieht es ganz anders aus. Dahinter steckt die uralte Erkenntnis, dass für den Lernenden leichter ist, zu verstehen, wenn der "Lernstoff" in Form einer Geschichte präsentiert wird.
Nein, ich meine kein Infotainment - obwohl es sehr gut gemachtes, wirklich informierendes und dabei wirklich unterhaltsames Infotainment gibt. (Allerdings eher selten in kommerziellen Fernsehprogrammen.) Denn "etwas zu wissen" setzt sehr viel mehr voraus, als "über etwas informiert sein" - so wie "etwas verstehen" mehr voraussetzt, als "etwas zu wissen". In der Antike und im Mittelalter gab es sogar "Lehrgedichte", wenn man so will, Sachbücher in poetischer Form. Obwohl das meistens rein mnemotechnische Gründe gehabt haben dürfte - Verse lassen sich leichter auswendig lernen als Prosatext.
Aber zurück zur Populärwissenschaft. Es gibt bekanntlich renommierte Wissenschaftler, die über ihre Wissenschaft leicht verständliche Sachbücher schreiben. Manchmal lassen sich Erkenntnisse und Spekulationen am Besten in Form von Science Fiction-Geschichten an die breitere Öffentlichkeit bringen. Wenn der deutschsprachigen Wissenschaft der Begriff "Populärwissenschaft" eher negativ besetzt ist, so liegt das weniger daran, dass populäre Texte oft vereinfachen müssen (und deshalb in den meisten Fällen auch nicht zitierfähig sind), sondern oft an einen gewissen akademischen Klassenbewusstsein oder schlicht an bildungsbürgerlicher Arroganz. (Das geht bei einige so weit, dass sie etwa Karl Popper mit der Begründung, der sei nur ein "Populärphilosoph" abqualifizieren.)
Allerdings: nicht alle wissenschaftliche Erkenntnisse und erst recht nicht alle philosophische Gedankengänge lassen sich ohne "Substanzverlust" in einfachen Worten erklären. Jede Darstellung eines Gedanken in sprachlicher Form ist ein Kompromiss. Nicht von ungefähr setzen die meisten Sachbücher den "interessierten Laien" als Leser voraus, der zwar kein Fachwissen, aber außer einer ausgeprägten Neugier und einer nicht unterdurchschnittlichen Intelligenz eine gewisse Allgemeinbildung aufweist. Stephen Hawkins "Eine kleine Geschichte der Zeit" markiert ungefähr das Maximum des Niveaus, dass sich auf den Gebiet des naturwissenschaftlichen Sachbuchs ohne mathematische Formel möglich ist. Will man nur etwas tiefer schürfen, kommt man ohne Differenzialgleichungen nicht weit.
Bei der Philosophie ist es ähnlich. Die Themen, denen sich Karl Popper widmete, ließen sich mit einigem sprachlichen Geschick in gut verständliche Alltagssprache fassen. Hingegen stand Martin Heidegger vor dem Problem, dass die Alltagssprache und selbst die philosophische Fachsprache viel zu ungenau für seine Gedankengänge war. Er musste sich als Sprachschöpfer betätigen, um das bis dahin Ungedachte überhaupt benennen zu können. Allerdings schrieb er wenigstens stilistisch gut und versuchte nicht, seine Texte künstlich schwer zugänglich zu machen.
Philosophen, die über schwer verständliche Dinge in einem an ein Drahtverhau erinnernden Satzbau unter Verwendung ungebräuchlicher Vokabeln und Redewendungen schreiben, sind eine Landplage. (Wie z. B. Hegel, der ungekrönten König des undurchdringlichen Philosophendeutsch.)

Manche halten die Schriften z. B. Adornos für Belletristik. Geschliffener Stil, gesuchte Ausdrucksformen und eine gewisse absichtliche Unzugänglichkeit, eine gewollte "Gelehrsamkeit" vieler seiner Texte sprechen dafür. Geschachtelte Endlossätze und der Gebrauch ungebräuchlicher Fremdwörter, die man selbst Fremdwörterlexikon nicht findet, sprechen eher für das, was Karl Popper "Schwulst der Neodialektiker" nannte. Hinzu kommt, dass Adorno kein klassischer "Systemphilosoph" ist; nicht auf ein paar Grundgedanken logisch aufbauend das ganze Universums (und noch mehr) erklärt. Adorno auf bloße Formel reduziert? Geht nicht. (Es geht übrigens selbst bei Popper nicht. Außer man verstümmelt seine Erkenntnistheorie um entscheidende Erkenntnisse.)
Kann man in rein belletristischer Form philosophieren? Man kann! Platon verpackte seine Philosophie in spritzige Dialoge. Voltaire schrieb philosophische Romane.
Aber der "unprä-zi-seste und unwis-sen-schaft-lichs-te" Bitte im verächtlich-ausspuckend-zischelnden Tonfall ausgesprochen vorstellen! Danke! Philosoph überhaupt ist Friedrich Nietzsche. Er war unsystematisch, und zwar so weitgehend, dass er sich gelegentlich selbst widersprach. Er schrieb auf stilistisch hohem Niveau, ohne dabei unverständlich zu werden. Und das Schlimmste: er packte seine Gedanken gern in Aphorismen und Gedichte. Der Ausspruch "Dichterphilosoph" war und ist nicht immer als Lob gemeint.

Besonders gilt das für sein bekanntestes und vielleicht wichtigstes Werk: "Also sprach Zarathustra" (1883–1885). Das ist nicht nur teilweise in Aphorismen und Gedichtform verfasst, es hat sogar eine durchgehende Handlung, enthält fiktive Personen und handelt an fiktiven Orten.
Allerdings dürfte der "Zarasthustra" eines der wenige philosophischen Werke sein, für das ein berühmter Komponist einen regelrechten "Soundtrack" schrieb. Zumindest die wuchtige Anfangsfanfare des ersten Satzes dürfte jeder kennen (und hoffentlich nicht nur aus der Bierwerbung): Zarathustra tritt vor die aufgehende Sonne und beschließt, zu den Menschen herabzusteigen.








Wenn das eingebundene Video nicht läuft: hier der Link zum Stück: Also sprach Zarathustra, 1. Satz.

Nietzsche selbst meinte: "Unter welche Rubrik gehört eigentlich dieser ‚Zarathustra‘? Ich glaube beinahe, unter die ‚Symphonien‘." Das war nicht nur dahingesagt, die vier Teile des "Buches für jeden und keinen" entsprechen den Sätzen einer Sinfonie. Der Altphilologe Nietzsche konzipierte die Schrift als einen dionysischen Dithyrambus, einer Hymne, wie sie zu Ehren des griechischen Gottes der Ekstase, Dionysos, zu Chor und Instrumentalbegleitung vorgetragen wurde.

Richard Strauss nahm Nietzsche beim Wort. Und schrieb 1896 die Symphonie zum Buch. Er mochte Nietzsches kulturkritische Angriffe auf das deutsche "Philistertum" ("Philister" - hier: "spießiger Bildungsbürger"). Auch war er erklärtermaßen dem Christentum abgeneigt. Entscheidend war aber wohl die Sprache Nietzsches, die offensichtlich Strauss musikalisch herausforderte.

Über Nietzsche sind die Meinungen sehr geteilt. Manche stimmen seiner Selbstbeschreibung: "Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit" begeistert zu - andere wiederum meinen "stimmt, er hatte einen gewaltigen Knall". Dafür, dass italienischen Faschisten und deutsche Nazis ihn für sich in Anspruch nahmen, kann er am wenigsten. (Am meisten dafür kann seine Schwester und Nachlassverwalterin Elisabeth Förster-Nietzsche, die seine Briefe und seine von den Nazis besonders geschätzte, aus dem Nachlass zusammengestellte Aphorismensammlung "Der Wille zur Macht" im völkischen Sinne verfälschte.) Nietzsche schrieb vom "Übermenschen", aber er verachtete die Deutschen wegen ihres nationalen Nervenfiebers - und hielt Antisemitismus für die größte Dummheit überhaupt.

Was ich von ihm halte? Als Gesellschaftskritiker ist der "mit dem Hammer philosophierende" Nietzsche einsame Spitze. Aber er trat, gröblich verkürzt gesagt, für eine Gesellschaftsordnung ein, in der vornehme und heroische Menschen das Sagen hätten - eine sehr elitäre herrschenden Klasse. Etwas, das ich aus Prinzip überhaupt nicht schätze. Auch wenn es großartig formuliert wird.

Musik zum Denken und zu den Denkern? Keine schlechte Idee.
Bei den Denkern der Aufklärung, vor allem bei Kant, stelle ich mir Johann Sebastian Bachs mathematisch präzise Kompositionen vor. Wie Hegel klingen würde, stelle ich mir besser nicht vor. Schopenhauer - etwas melancholisches mit indisch anmutenden Sitar-Klängen. Beim amerikanische Pragmatiker William James. obwohl es zeitlich nicht passt, einfacher, gradliniger Rock'n'Roll. Popper? Nein, keine Pop-Musik, sondern Jazz. Von der kühlen, ruhigen Sorte.
Der Soundtrack zu Michael Foucaults "Überwachen und Strafen" wäre meiner Ansicht nach von Ton, Steine, Scherben. "Keine Macht für Niemand" wäre ein guter Opener!
Bei existenzialistischen Philosophen denke ich immer an Blues. Bei Satre ganz besonders "blue". Adorno, der ja auch Musikwissenschaftler war und selber komponierte, und, sehr vorsichtig formuliert, eine sehr schlechte Meinung vom Jazz hatte, an zwar faszinierende, aber schwer zugängliche Zwölftonmusik - etwa so ein richtig quer im Gehörgang liegender Schönberg.

11. September - zur Erinnerung

Vor genau 140 Jahren, am 11. September 1867, erschien in Hamburg beim Verlag Otto Meissner der erste Band von Karl Marx' Das Kapital.

Dass am 11.September 2001 Terroranschläge auf das World Trade Center und das Pentagon verübt wurden, wird in nicht allzu ferner Zukunft genau so zur bloßen "Geschichtszahl" werden wie z. B. der (vom CIA unterstützte) Putsch gegen den chilenischen Präsidenten Salvador Allende am 11. September 1973.
Das Datum, an dem "Das Kapital" erschien, ist im Grunde genommen unwichtig. Die Welt sähe aber anders aus, wäre dieses Buch nicht erschienen.
Und sie sähe besser aus, wenn die Gedanken in diesem Buch von Lenin, Stalin, Mao und anderen "Marxisten" auch begriffen und beherzigt worden wären ...

Übrigens: Man muss kein Marxist sein, um Marx zu lesen und zu verstehen.

Donnerstag, 30. August 2007

Gendoping - jetzt auch bei Wanderern?

Gendoping - das ist die neueste Methode des Raubbaus an der eigenen Gesundheit zwecks Leistungssteigerung im Sport. Dass das aber schon bei den Wanderern um sich greift, hätte ich nicht gedacht! Zumindest lässt diese Überschrift so etwas vermuten: Gentechnikfrei Wandern vom 27.7. bis 15.9.

Montag, 13. August 2007

Moderne Hexenjagd

Ich wollte eigentlich nur in der englischsprachigen Wikipedia etwas über Pete Townshend ("The Who") nachlesen. Dabei stieß ich auf eine Affäre, die seinerzeit auch in Deutschland Schlagzeilen machte:
Peter Townshend Police caution

Ich erinnere mich noch gut daran, mit welcher Begeisterung die Massenmedien den "Schlag gegen Kinderpornographie im Internet" meldeten: Weltweit um etwa 250 000 Menschen, davon 7000 Briten und mehr als 1400 Deutsche gerieten 2002/2003 in den Verdacht, an einem Internet-Kinderporno-Ring beteiligt zu sein. Darunter auch Prominente, was den Fall lange in den Schlagzeilen hielt. Besonders schockiert war ich darüber, dass ausgerecht Pete Townshend zu den Verdächtigen gehörte - denn er hatte sich wie kaum ein anderer Künstler gegen Kindesmissbrauch engagiert. Und noch mehr schockierte es mich, dass er sich "schuldig" bekannte - wenn es auch nur für eine "Verwarnung" reichte.
Tatsächlich war er, wie fast alle der damals im Zuge der "Operation Avanlance" (USA), "Operation Ore" (UK) oder "Aktion Pecunica" (Deutschland) in Verdacht geratenen, unschuldig. (Was bezeichnenderweise in den deutschen Medien völlig unterging. Ich wusste es jedenfalls, bis ich über Townshend nachschlug, nichts davon.)
Ein Detail des Verfahrens gegen Townshend (und hunderte andere britische Verdächtige) erinnerte mich sofort an frühneuzeitliche Hexenprozesse: Im britischen Strafrecht gibt es die Möglichkeit eines "Deals" mit der Staatsanwaltschaft: Verringerung des Strafmaßes gegen Zusammenarbeit.
Die in Zuge der "Operation Ore" Verhafteten standen schon dadurch, dass sie unter dem "dringenden Verdacht" des sexuellen Kindesmissbrauchs standen, unter enormen Druck durch öffentliche Vorverurteilungen. Schlimmer noch: es drohte ihnen, obwohl sie sich keiner Schuld bewusst waren, und obwohl die Beweislage dünn" war, eine Gefängnisstrafe.
Der Deal, der ihnen vom Staatsanwalt angeboten wurde, lief darauf hinaus, dass jeder, der sich des Konsum von Kinderpornographie für schuldig erklärt, nur eine symbolische Strafe (wie Townshend) oder eine Bewährungsstrafe erhält. Die meisten Verdächtigten wussten nicht, wie unzureichend das "Beweismaterial" wirklich war, sie wollten keine (immerhin mögliche) Gefängnisstrafe riskieren - weshalb ein grosser Teil von ihnen auf den "Deal" einging.
Nun wurden diese "Geständnisse" seitens der Polizei und Staatsanwaltschaft als Beweis für das Zutreffen der Anklagen gewertet. Man hätte zwar nur "kleine Fische" gefangen, aber immerhin hätte die umstrittene Aktion keineswegs "Unschuldige" getroffen. Bei Straftaten ohne öffentliche und sogar noch von der Politik geförderten Hysterie - sagen wir mal Kreditkartenbetrug, der bei "Operation Ore" auch eine Rolle spielte - wäre der Justizskandal den meisten Beobachtern sofort klar gewesen. Aber bei einen Delikt, bei dem moralische Vorverurteilung eher die Regel, als die Ausnahme sind, verdeckt die moralische Empörung oder Genugtuung die Grundsätze einer aufgeklärten Rechtspflege. (Ich selbst nehme mich von dem Hang, über jeden "geschnappten Kinderpornouser" erst mal heilfroh zu sein, ausdrücklich nicht aus - und auch nicht davon, es in solchen Fällen mit der "Unschuldvermutung" allzu genau zu nehme). Was da ablief war ein System sich selbst erfüllender Prophezeiungen, genau nach dem Muster der Hexenjagd.

Der Journalist Karl Weiss (er arbeite u. A. für die der "undogmatische Linken" zugerechnete Berliner Umschau) hat den Fall und seine Hintergründe für die "Umschau" recherchiert.
Dossier 'Operation Ore': Der grösste Polizei-, Justiz- und Medienskandal des neuen Jahrtausends, Teil 1: Der Fall „Operation Ore“

Teil 2: Die Berühmtheiten unter den Verdächtigten und die Rolle der Polizei

Teil 3: Die Rolle der Politik und der Medien.

Mein dringende Rat: unbedingt lesen! Auch - und gerade wenn - man Einiges doch anders sieht, als Karl Weiss.

Weiss weißt, sehr zurecht, auf die besonders traurige Rolle der deutschen Medien in diesem Skandal hin:
Mit anderen Worten: Nicht eine Zeitung, nicht ein grösserer Radiosender, nicht eine Fernsehstation, nicht ein angebliches Nachrichtenmagazin, nicht eine Illustrierte in Deutschland hielt es für nötig, nach der ausführlichen Berichterstattung über das Aufspüren von Hunderttausenden von angeblichen Kinderporno-Pädophilen im Internet in den Jahren 2002 und 2003 nun auch zu berichten, dass sich dies alles als völlig verfehlte Aktion gegen Opfer von Kriminellen oder mit anderen Worten als der grösste Polizei- und Justiz-Skandal (in Bezug auf die Zahl betroffener Opfer) des neuen Jahrtausends herausgestellt hat.
In Großbritannien wurde die Tatsache, dass fast alle "Verdächtigen" sich als völlig unschuldig erwiesen, immerhin thematisiert. Hinsichtlich der Schlussfolgerungen, die Weiss aus dem Skandal zieht, bin ich allerdings skeptisch. Er geht von eine (Selbst-)Gleichschaltung der deutschen Medien aus, die auf die "privilegierten Informationen" aus dem BKA nicht verzichten möchten , und deshalb nach der "Pfeife" von Polizei, Staatsanwaltschaft und Politik tanzen. Mag sein. Aber warum gibt es denn - anders als in Großbritannien - keine größer Zeitung, keine Rundfunk- oder Fernsehsendung, die den Skandal aufgedeckt hätte? Für die Auflage wäre er allemal gut. Und so wichtig sind die "Exklusiv-Infos" des BKA nun nicht - abgesehen davon, dass das BKA keineswegs von allen Medien mit Samthandschuhen angefasst wird.

Ich gehe eher von einer bewussten oder unbewussten Selbstzensur aus, einer Form des "Gatekeeping", die in Deutschland nach anderen Maßstäben funktioniert als in Großbritannien. In Großbritannien herrscht zumal in den Printmedien ein für deutsche Leser manchmal verstörendes Maß an Aggressivität vor, und zwar nicht nur in den zurecht dafür berüchtigten Boulevardblättern wie "Sun" oder "Daily Mirror". Ich vermute, dass schon aus bloßer Streitlust selbst ein Skandal, der auf Kosten der "eigenen Seite" geht, nicht ungedruckt bleibt.
In Deutschland gibt es eine verbreitete Angst, Aussenseiter zu sein oder zu einem Aussenseiter abgestempelt zur werden - die Kehrseite der deutschen "Konsensgesellschaft". Wenn es nicht die Angst um "gute Beziehungen" zu Polizei und Politik ist, so sorgt die Angst davor, in der "eigenen Zunft" als "Nestbeschmutzer" zu gelten, mit den daraus absehbaren gesellschaftlichen und persönlichen Folgen, für die "Schere im Kopf". Wenn, wie in diesem Fall, praktisch alle Massenmedien in den Skandal verwickelt sind, gibt es eben niemanden, der den Skandal öffentlich aufdeckt.

Interessantes zum Thema "Selbstzensur" gab es neulich auf shifting reality: Ideologie und öffentliche Meinung.

Noch mal zur "Hexenjagd": Das Grundproblem ist die fehlende Trennung zwischen der "juristischen" und der "moralischen" Sphäre. Allzu oft wird nämlich versucht, moralische Wertmaßstäbe mittels Strafgesetzbuch "durchzusetzen". Lange Zeit galt z. B. Homosexualität in der "Mehrheitsmeinung" als "moralisch falsch" - und wurde als "Straftat" verfolgt - obwohl beim Sex unter Männer (oder unter Frauen) beidseitige Freiwilligkeit vorausgesetzt keinen "Geschädigten" geschweige den ein "Opfer" gibt.
Dieses ist eines der wenigen Gebiete, auf dem ich der Demokratie, vor allem der Basisdemokratie, misstraue. Gerade Länder mit traditionell sehr demokratischer Rechtssprechung, wie die USA, neigen dazu, "moralische Werte" mittels Strafrecht durchzusetzen.

Aber nicht nur in den USA. Auch in Deutschland. Die jetzige (wie der vorherigen) Bundesregierung hat eine Vorliebe dafür, über die "Europakurve", also wegen angeblicher EU-Vorgaben, Gesetze zu verschärfen, wenn sie Parlamentsdebatte vermeiden möchte, die in der Öffentlichkeit Unruhe auslösen könnten. Mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass der "schwarze Peter" in Brüssel ist - auch wenn, wie im Falle der Vorratsdatenspeicherung, der Einwanderungsgesetze, aber auch der Anti-Diskriminierungsgesetze, die deutschen Gesetze erheblich über die "europäischen Vorgaben" hinaus gehen.
Im jüngsten Falle eines unter "Europa-Vorwand" zur Verschärfung anstehenden Gesetzes ist die "Moral-Komponente" unübersehbar:
es geht um die deutsche Umsetzung eines EU-Rahmenbeschlusses zum Sexualstrafrecht (Bundestagsdrucksache 16/3439). Die Absicht dieser Richtlinie ist zu begrüßen, nämlich eine wirksamere Bekämpfung der Kinderpornographie und der sexuellen Ausbeutung von Kindern. Doch die Bundesregierung schießt mit ihrem Entwurf zum § 184b StGB (Kinder- und - das ist neu - Jugendpornographie) weit darüber hinaus - vor allem mit der Anhebung des Schutzalters von 14 auf 18 Jahre. (Der neue 184b StGB
Danach würde sich ein junger Mann strafbar machen, der der sexy (bzw. "unnatürlich geschlechtsbetonte") Fotos von seiner 17jährigen Freundin besitzt. Dass das kein konstruierter Fall ist, zeigt ein Beispiel aus den USA, wo im Bundesstaat Florida eine entsprechende Schutzalter-Regelung bereits gilt (bzw. galt - das Gesetz wurde inzwischen vom US-Supreme Court für nicht verfassungsgemäß erklärt): Minderjähriges Pärchen, das sich bei sexuellen Aktivitäten fotografierte, wurde wegen Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie in den USA verurteilt.

Warum aber versuchen Politiker, sowohl in den USA wie bei uns, "scharfe" Sexualstafgesetze durchzubringen, selbst wenn sie verfassungswidrig sein sollten und diese Gesetze eine öffentliche Debatte nicht überstehen würden?
Ich vermute: weil sie sich "im Recht" sehen bzw. paternalistisches Rechtsverständnis haben, durch das sie sich befugt sehen, den "verlotterten Sitten" per Strafgesetzbuch Einhalt zu gebieten. Und außerdem sind Gesetze, mit dem angeblich der (angeblich) zunehmenden Kinderpornographie und des (angeblich) alarmierend angewachsenen Sexualstraftaten gegen Kinder (seit Jahrzehnten stagnierend, laut offizieller Kriminalitäts-Statistik) "nun endlich Schluss gemacht" wird, populär. Jedenfalls solange man sie nicht zu genau ansieht.
I(Den Beitrag von Karl Weiss zum Thema: Dossier Verschärfung Sexualstrafrecht, Teil 1 halte ich dennoch, was die gewählten Beispiele angeht, für überzogen. Trotz einiger "gnadenloser Richter".)

Samstag, 21. Juli 2007

Ich bin "pro-westlich" - bin ich konservativ?

Ich gebe es zu: ich bin "pro westlich" eingestellt. Angeregt zu diesem Geständnis hat mich ein Kommentar auf dem Blog shifting reality zum Beitrag: What's left? Genauer: es ging um MomoRulez beiläufige Bemerkung: "Und Konservative setzen eh auf die Macht der Tradition … deshalb sind die ProWestler auch allesamt Konservative."
Nimmt man als Beispiel jene "ProWestler", die sich in Klein-Bloggersdorf unübersehbar selbst so nennen, und deren Haltung man grob mit "antiislamisch, pro-George W. Bush, anti-anti-semitisch, prokapitalistisch" umreiße, trifft das zweifellos zu. Wobei ich auch innerhalb der ProWestler differenziere, man kann die Ex-Linken aus dem Umfeld der "Freunde der offenen Gesellschaft" und die moslemfressenden "christlich-abendländisches" Stammtischkrieger auf "Politically Incorrect" nicht in jedem Fall gleichsetzen.

Unnötig zu sagen, dass ich mich nicht zu diesen "ProWestlern" zähle.

Ich weiß nicht, von wem die Aussage stammt, pro-westlich hieße: "pro-liberal, pro-universalistisch, pro-amerikanisch, pro-globalistisch, pro-monotheistisch". Vielleicht war es Hannes Stein. Bis auf den letzten Punkt - dem ich entschieden widerspreche - kann ich mich, angesichts der Bandbreite und Unschärfe der aufgeführten Eigenschaften, mit Fug und Recht "pro westlich" nennen. Allerdings gibt es Formen des Liberalismus, Universalismus, Globalismus, die ich entschieden ablehne. Und "pro amerikanisch" verstehe ich eher als Bekenntnis zu den Werten der US-amerikanischen Verfassung als zu den Werten, nach denen z. B. die derzeitige US-Regierung anscheinend handelt.

Im politisch-kulturellen Sinne versteht man unter dem "Westen" oder poetisch, dem "Abendland" hauptsächlich Westeuropa und Nordamerika, also jene Gebiete, die von Renaissance, Reformation, und Aufklärung, sowie verschiedenen Emanzipationsbewegungen und Revolutionen stark beeinflusst wurden. Daraus ergibt sich eine gewisse Unschärfe: Was ist mit Lateinamerika? Ist Russland Teil "des Westens"? (Die Antwort hängt davon ab, welchen Russen man fragt.) Inwieweit sind Japan, Südkorea, Taiwan "westlich"?

Das Problem mit den "ProWestlern" scheint mir darin zu liegen, was sie unter "dem Westen" und "westlichen Werten" verstehen. Eine weit verbreitete Grundannahme unter "prowestlichen" Bloggern ist die Vorstellung eines Kampfes der Zivilisationen, mehr oder weniger deutlich an Samuel Huntingtons berühmten Aufsatz angelehnt. Zivilisation, das definiert Huntington ganz banal, sei die größtmögliche Gruppe von Menschen, die durch eine gemeinsame Geschichte und vor allem Religion zusammengehalten wird. Die Interessen und Wertvorstellungen z. B. der islamischen oder der konfuzianischen Zivilisation sind, glaubt man Huntington, mit den westlichen vollkommen inkompatibel. Er glaubt z. B. dass der "westliche" Begriff des "freien Individuum" Zivilisationen, die weder Renaissance noch Aufklärung durchlebten, wesensfremd bleibt. (Also hätten die Islamisten recht: Menschenrechte und parlamentarische Demokratie sind nichts für Moslems! Und die Stammtisch-Rassisten hätten auch recht: Asiaten sind nun mal Kollektivmenschen, die sich willig für die Gemeinschaft aufopfern.)
Wer "den Westen" so oder ähnlich sieht, als "Meta-Leitkultur" der "Leitkulturen" der westlichen Nationen, "sittenchristlich" und mit der europäischen Geschichte verwachsen, der ist notwendigerweise konservativ - "verbindende westliche Werte" sind in dieser Weltsicht nämlich gemeinsame Traditionen, auf die man sich "zurückbesinnt".

Es gilt auch umgekehrt: In der bis weit in die "Linken" hinein gesellschaftlich konservativen Bundesrepublik Deutschland ist der Ruf nach "Leitkultur" besonders stark. Wobei "konservativ" bei vielen "Leitkultur"-Fans noch untertrieben ist. Der Ruf nach einer "Leitkultur" zeugt auch davon, wie mobilisierungsfähig der Wunsch nach vorgefertigten Leitbildern, nach "weltanschaulichen Leitllinien" in Deutschland noch ist. Egal, ob ein christlicher oder ein sozialistischer oder gar ein nationaler Kanon moralischer Leitbilder gefordert wird - gemeinsam ist den Freunden der Leitkultur die Angst vor der offenen Gesellschaft ohne vorgeschriebene Werte und festgefügte Identitäten.

Wenn "der Westen" aber keine Traditionsgemeinschaft ("christliches Abendland"), keine "übergeordnete Leitkultur" und auch kein geographischer oder geopolitischer Begriff ist, was ist er dann?

Kritiker "des Westen" haben insofern recht, das es keinen "unveränderlichen kulturellen Kern" des Westen gibt. Deshalb ist "die westliche Zivilisation" auch so "universaltauglich": auch Kulturen, die nicht in ihrem Sinne geprägt sind, können problemlos "westliche Errungenschaften" wie das demokratische Staatsmodell, die freie Presse, die unabhängige Justiz usw. aber auch Aktiengesellschaften, Hollywoodfilme, Supermärkte, Fast-Food-Restaurants und vieles mehr übernehmen. Das bedeutet allerdings nicht, dass "der Westen" keine verbindliche Werte kennen würde. Es sind allerdings neutrale Rechte: sie stehen jedem Menschen zu. (Oder sollten es jedenfalls.)
Zu diesen Werten zähle ich die universellen Menschenrechte, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Gewaltenteilung, die Möglichkeit, eine schlechte Regierung ohne Gewaltanwendung- oder -drohung loswerden zu können. Diese Werte sind es, die den Westen ausmachen. Und jede Kultur, die diese neutralen Werte übernommen hat, gehört "zum Westen". (So gesehen gehört Japan zum "Westen", Indien ist bereits "westlicher" als Putins Russland - und die USA und in ihrem Gefolge andere westliche Staaten haben sich seit dem 9. September 2001 teilweise "entwestlicht".)
Die größte Errungenschaft der westlichen Zivilisation ist, als
Ergebnis zahlreicher geistiger und politische Revolutionen, dass sie sich sich immer wieder aufs Neue in Frage stellt. Wenn diese Fähigkeit der Selbstkritik und Selbstkontrolle im Zuge der Abwehr "fremder Kulturen" und im Bestreben nach "Einheit" verloren geht, dann hört der Westen auf, "der Westen" zu sein.

Die größte Bedrohung für "den Westen" ist nicht "der Islam". Und schon gar nicht "der Terrorismus". Die größte Gefahr für den Westen ist, sich selbst zu Tode zu "schützen".

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