Hartz IV

Freitag, 27. August 2010

Das Hartz IV-Klischee und die erfolgreichen Lügner

Wieder einmal zeigte eine repräsentative Befragung von mehr als 10.000 Hartz-IV-Beziehern durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), wie wenig das Klischee des faulen "Sozialschmarotzers" der Realität entspricht:
Jeder zweite Hartz-IV-Empfänger geht einer nützlichen Tätigkeit nach Mehr als die Hälfte der Arbeitslosengeld-II-Empfänger zwischen 15 und 64 Jahren geht mindestens 20 Stunden pro Woche einer nützlichen Tätigkeit nach. Sie erziehen Kinder unter sieben Jahren, pflegen Angehörige, arbeiten und benötigen dennoch ergänzendes Arbeitslosengeld II, bilden sich weiter oder befinden sich in einer Fördermaßnahme.

Sicher entspringen die weit verbreite Vorurteile gegenüber "Hartzies" auch dem Hang, auffällige Extremfälle zu verallgemeinern - "jeder" kennt "jemanden", der sich mit ALG II plus Schwarzarbeit "ein flottes Leben macht" oder "jemanden", der die Tage bei Billig-Bier mit Dauernfernsehn verbringt und dabei die eigenen Kinder vernachlässigt. Solche Menschen geben natürlich mehr Gesprächsstoff her als der unauffällige Nachbar, der schon zwei Jahre lang eine vergebliche Bewerbung nach der Anderen losschickt.
Sicher hat die beflissene Abgrenzung gegen die "Unterschichtler" seitens der "Mitttelschichtler" sehr viel mit verdrängten Abstiegsängsten zu tun. Zugespitzt und stark verallgemeinert: sehr viele angsterfüllte "kleinbürgerliche" Deutsche sehen sich von "unten" von "Sozialschmarotzer" und von "oben" von "Heuschrecken" bedroht. Ihre Hoffnungen setzen sie dabei auf "anständige Menschen" aus der "Oberschicht"; einer Gruppe, zu der die meisten "Mittelschichtler" ohnehin gerne aufsteigen würden, und mit der sie sich gern solidarisieren - mit den "nicht heuschreckigen" "Oberschichtlern" (die es, z. B. durch ererbten Reichtum, gar nicht nötig haben, sich durch unseriöse Geschäftspraktiken zu bereichern) gegen die "Unterschichtler".
Das Dumme ist nur: Es ist gesamtgesellschaftlich und gesamtwirtschaftlich wenig relevant, ob jemand, der zur Elite gehört, "anständig" oder ein Kotzbrocken ist. Noch dummer ist, dass manch ein Kotzbrocken dank geschickter Öffentlichkeitsarbeit als "anständiger Kerl" dasteht.
Es hat auch sehr viel mit moralischer Selbstentlastung zu tun. Wenn die Armen und Arbeitslosen etwas falsch machen, unfähig sind, Charakterfehler wie Faulheit haben, kurz: selber Schuld an ihrer Lage sind, dann kann es ja nicht an den fleißigen und ehrgeizigen "Leistungsträgern" der "Mittelschicht" liegen, wenn es der "neuen Unterschicht" dreckig geht (und wohl auch nicht an den Fehlern der Eliten, der Entscheider in Wirtschafts- und Politik). Ein prima Mittel gegen schlechtes Gewissen wegen der eigener Rücksichtslosigkeit, und ein Betäubungsmittel für Bedenken wegen der eigenen Selbstausbeutung und Selbstoptimierung - und vor der Angst vor dem Abstieg.

Wie die Stimmungsmache bzw. Hetze gegen "Unterschichtler" und "Außenseiter" funktioniert, verrät in dankenswerter Offenheit der "Medienliebling", Feind moslemischer Einwanderer und mit guten Ratschlägen an Arme wie "kalt duschen" und "Pullover tragen, wenn die Bude nicht geheizt werden kann" großzügige Thilo Sarrazin. Sie funktioniert mit Halbwahrheiten, Lügen, Ablenkungsmanövern; einem "taktischen Verhältnis zur Wahrheit".

Dass das, was es so sagt und schreibt, nicht der Wahrheit entspricht, erfährt man sogar schon bei Tagesschau.de Was ist dran an Sarrazin Thesen? (In einem Satz zusammengefasst: Fast gar nichts!)
Bisher hieß es noch "Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast." Sarrazin ist noch ein Stück weiter: er erspart sich die mühsame Arbeit des Frisierens statistischer Daten und erfindet nach Gutdünken die zu seiner Ideologie passenden Zahlen, was er sogar offen zu gibt. Ich sage: Guido, Thilo - Maul halten (sz-magazin)
Warum er so frech ist und sich so weit aus der Deckung der wohlklingenden Phrasen traut, ist relativ einfach zu beantworten: Die geschickte Vermarktung des Thilo Sarrazin - Thilo Sarrazin: Maßlose Kritik an Hartz-IV-Empfängern oder „Wie verkaufe ich mein Buch?“
Weniger einfach ist die Frage zu beantworten, wieso Sarrazin mit seinen offen eingestandenen Lügen durchkommt. Ich vermute, weil sich zu wenige Menschen die Mühe machen, das, was er und andere Propagandisten behaupten, zu überprüfen. Selbst Journalisten hinterfragen zu selten, was "wichtige" Menschen und "Experten" in die Welt setzen. Aber danke Thilo Sarrazin, dass Sie in diesem Punkt ehrlich sind!

Auch sonst ist Sarrazin ehrlicher als die meisten anderen Stimmungsmacher: er hält sich nicht mit "Sozialgedöns" auf, er ist kein Kreidefresser. Wer Sarrazin (und mehr noch "Öchsperten" wie Gunnar Heinsohn) aufmerksam liest, der merkt, was Sache ist: Der Wert eines Menschen hängt für sie davon ab, wie ökonomisch nützlich dieser Mensch ist. In dieser Hinsicht bricht er wirklich Tabus: er weigert sich, der Menschenwürde wenigstens geheuchelten Respekt zu erweisen.
Er (Sarrazin) sagt, mit Schule kann man weder Menschen noch soziale Schichten verändern. Doch das ist falsch. Sonst würden alle Arbeiterkinder immer noch auf dem gleichen Stand sein wie ihre Eltern seit Beginn der Industrialisierung. Bildungsaufsteiger und eine wachsende Mittelschicht hätte es dann in den letzten Jahrzehnten nicht gegeben.
Wer das sagt, ist ausgerechnet Heinz Buschkowsky, Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, und als Vertreter der These "Multikulti ist gescheitert" oft in einem Atemzug mit Thilo Sarrazin gennnt. (Zu Unrecht, wie SteffenH Karsten darlegt: Buschkowsky statt Sarrazin.)

Andere Hartz-Propagandisten lügen geschickter. Einige der Tricks wie man aus Opfern Übeltäter macht und aus Übeltätern famose Menschen beschreibt Holdger Platta: Die Psychotricks der Hartz-IV-Parteien Die Tricks stammen nicht zufällig aus der Produktwerbung.

Es widert mich an, angelogen zu werden. Und es schockiert mich, wie einfach es hier und heute ist, mit infamen Lügen durchzukommen - wenn man in der richtigen Position ist.

Freitag, 26. März 2010

Ein-Euro-Jobber - Legenden und Wirklichkeit

Es gibt über die sogenannte 1-Euro-Jobs - amtlich "Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung (AGH-MAE)" genannt - eine Lüge, an die geradezu verzweifelt geglaubt wird, obwohl sie kaum noch jemand wirklich glaubt. Ich meine damit die Bedingung, dass nur "zusätzliche" und "im öffentlichen Interesse" liegende Tätigkeiten als "Arbeitsgelegenheiten" angeboten werden dürfen. Durch die Zusätzlichkeit sollen Verdrängungseffekte vermieden werden, damit die "1-Euro-Jobber" nicht als subventionierte billige Arbeitskräfte der örtlichen Wirtschaft Konkurrenz machen.
Wer sich auch nur oberflächlich mit dem Thema befasst hat, dem ist klar, dass es nicht gelungen ist, die Verdrängungseffekte zu vermeiden. Ein Beispiel: Die Bundesagentur für Arbeit verzeichnete einen Rückgang von Stellenangeboten im Pflegebereich, der auch von einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bestätigt wird. Und auch der Bundesrechnungshof kam schon im April 2008 zu dem Ergebnis, dass bei zwei Dritteln der geprüften Arbeitsgelegenheiten mindestens eine Förderungsvoraussetzung nicht erfüllt gewesen sei, in acht von zehn Fällen sei die Tätigkeit nicht zusätzlich gewesen. Die Hälfte der geprüften Maßnahmen habe nicht im öffentlichen Interesse gestanden.

Aber, so der Einwand, die "1-Euro-Jobber" könnten doch gar nicht als vollwertige Arbeitskräfte angesehen werden. Darin würden doch in erster Linie sonst nicht vermittelbare Langzeitsarbeitslose beschäftigt. Oder wenigstens solche, die nach langer Zeit der Untätigkeit wieder an den Rhythmus des Arbeitstages und die Erwartungen des Arbeitsmarkts an ein gewisses Maß an Arbeitsdisziplin gewöhnt werden müssten. Also: wer einer Arbeitsgelegenheit nachgeht, der wäre doch gar kein vollwertiger und voll einsetzbarer Arbeitnehmer.

Ene Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bei rund 4.000 Betrieben, die Arbeitsgelegenheiten für Arbeitslosengeld-II-Empfänger anbieten, zeigt ein anderes Bild:
Jeder zweite "Ein-Euro-Jobber" wird von seinem Einsatzbetrieb als geeignet eingeschätzt, auch eine reguläre Beschäftigung ausüben zu können. Pressemitteilung der IAB: Jeder zweite Ein-Euro-Jobber ist fit für einen regulären Job.
Neun von zehn Maßnahmeteilnehmern wurden für die von ihnen ausgeführten Tätigkeiten als prinzipiell geeignet eingestuft. Jeder fünfte Einsatzbetrieb sah jedoch Defizite bei der Kommunikations- und Teamfähigkeit der Maßnahmeteilnehmer. (Hier stellt sich die Frage, wie es damit im regulären Berufsleben bestellt ist.)

Nur etwa ein Drittel der Teilnehmer wurde von den Betrieben als nicht geeignet für den ersten Arbeitsmarkt beurteilt. Bei knapp einem Fünftel konnten die Einsatzbetriebe die Frage noch nicht abschließend beantworten. Probleme sahen die Betriebe vor allem bei der Belastbarkeit und bei den beruflichen Qualifikationen. Unzureichende Berufserfahrung, nicht ausreichende Leistungsbereitschaft und mangelnde Verlässlichkeit wurden deutlich seltener genannt.

Auch das Klischee vom "typischen" Langzeitsarbeitslosen, der lieber faul zuhause herumhängen würde, anstatt für eine kleine Aufwandsentschädigung bei gemeinnütziger Arbeit die Finger krumm zu machen, wird durch die Befragung noch fragwürdiger, als es ohnehin schon ist: Nur in jedem achten Fall wurde die Arbeitsmotivation als gering eingestuft. Das ist, da mit gutem Grund vermutet werden kann, dass die wenigsten Arbeitsgelegenheiten angenehme Jobs sind, in der Tat bemerkenswert.

Die IAB-Studie lässt sich unter http://doku.iab.de/kurzber/2010/kb0510.pdf herunterladen.

Donnerstag, 18. März 2010

Was wäre, wenn - Hartz IV wirklich auf 5 Jahre begrenzt würde?

Über den Vorschlag - oder Tiefschlag - des emeritierten Sozialpädagogik-Professors, Vertreters zuweilen ziemlich bizarrer Außenseiter-Hypothesen und beliebten "Öchsperten" (als "Experte" dargestellter Stichwortgeber für Kampagnen) Gunnar Heinsohn in der "FAZ" („Sozialhilfe auf fünf Jahre begrenzen“) ist schon viel geschreiben worden. (Ich empfehle den Artikel "Das unwerte Hartz IV-Leben" auf TP, den kommentierten Hinweis auf den "Nachdenkseiten" und, weil er eine ganz konträre Ansicht auf intelligente Art vertritt, Zitat des Tages: "Unter den Demographen kaum noch Hoffnung für Deutschland" Gunnar Heinsohn erbarmungslose Analyse bei Zettel.

Auch ohne Heinsohn eine Nähe zur Naziideologie zu unterstellen, würde eine zeitliche Begrenzung (und erst recht eine Abschaffung) von ALG II oder auch Sozialgeld meiner Ansicht nach das Entstehen eines autoritären Diktaturstaates begünstigen. Es wäre übrigens auch der Marktwirtschaft nicht zuträglich.

Was würde passieren, wenn Sozialhilfe auf fünf Jahre begrenzt wird? Ich versuche eine Antwort auf rein pragmatischer Ebene, der der instrumentellen ökonomischen und poltischen Vernunft, ohne jedes "Humanitätsgedöns" und ohne Rücksicht auf die Menschen- und Bürgerrechte, die auch einem Armen nun einmal zustehen.

Die Idee, die Sozialhilfe auf fünf Jahre zu begrenzen, hört sich aus (wirtschafts-)liberaler Sicht grundsätzlich nicht einmal verkehrt an - das dürfte auch ein Grund dafür sein, dass Heinsohn so viel Zustimmung bekommt. Es spart Sozialausgaben und motiviert die Leute, wirklich alles zu machen, um sich durchs Leben zu schlagen. Wie Heinsohn vermutlich zurecht vermutet, werden Langzeitarbeitslose es sich unter diesen Umständen zehnmal überlegen, ob sie wirklich Kinder haben wollen. (Dass unter den von Heinsohn vorgesehenen Rahmenbedingungen das zu illegalen Abtreibungen und Kindesaussetzungen / Kindsmord führen würde, steht auf einem anderen Blatt - aber wir wollen ja nicht sentimental werden.)
Der Haken: Jene, die von Sozialleistungen leben, betrachten die nämlich als ihr gutes Recht. (In den meisten Fällen zurecht, aber Radikalkapitalisten werden das anders sehen.) Mag sein, dass die die "Hartzer" sich bisher sehr viel gefallen ließen, ohne aufzumucken. Ein wesentlicher Grund für diese "Ruhe" liegt daran, dass selbst ein Langzeitarbeitsloser noch etwas zu verlieren hat - nur deshalb funktionieren ja die Sanktionen bei Fehlverhalten. Wenn es gar nichts mehr gibt, und sie nichts zu verlieren haben, werden sie sich mit Gewalt nehmen, was ihnen ihrer Ansicht nach zusteht.
In den USA führte das nach der zeitlichen Begrenzung der Sozialhilfe zu einem Anstieg der Kriminalität, die Gefängnisse sind überfüllt - auch auf Kosten der Allgemeinheit. Wer nichts zu beißen hat und im Winter in Gefahr läuft, zu erfrieren, den schreckt der Knast, wo es immerhin satt zu essen, ein Bett im Trockenen und eine Heizung gibt, nicht mehr ab.
Schlimmer noch: auch die Gefahr eines gewaltsames Aufstandes nimmt zu. Üblicherweise reagieren Regierungen auf Aufmüpfige mit Repression, mit Überwachen, hart durchgreifen und hart strafen. Wenn auf diese Weise der "Mob" unten gehalten wird, bedeutet das erst einmal, dass die Gefängnisse noch voller würden. Also läge es schon aus Kostengründen nahe, in irgend einer Form die Zwangsarbeit einführen. (Ansätze dazu gibt es, in den USA, aber auch bei uns.) Also z. B. ein Bundesarbeitsdienst, eventuell mit Massenunterkünften (spart Wohnkosten!) für die folgsamen Langzeitarbeitslosen, "Gulags" (um mal keinen Nazivergleich zu machen) für die, die "Aufmucken".

Sklavenarbeit hat, wie z. B. ein Blick nach China zeigt, unter marktwirtschaftlichen Bedingungen aber den Nachteil, dass sie konkurrenzlos günstig ist. Freie Arbeiter in der gleichen Branche verlieren dadurch ihren Job oder ihre Löhne werden so weit gedrückt, dass sie damit nicht mehr auskommen. Auf die Dauer wird das dazu führen, dass ein marktwirtschaftliches System sich nicht länger halten kann. Außerdem wird ein ausgebautes Gulag-System für "Aufmuckende", auch wenn es ursprünglich "nur" für "aufmuckenden Arbeitsscheue" gedacht ist, unweigerlich dazu führen, dass auch andere "Unbequeme" im Arbeitslager landen. Die Option "Zwangsarbeit" ist also eine Gefahr für Demokratie und Marktwirtschaft. (Nicht für kapitalistische Eigentumsverhältnisse. Die waren z. B. bei den Nazis trotz gelenkter Wirtschaft intakt.)

Andere Möglichkeit, auch teilweise in den USA praktiziert, aber in Reinform in Ländern ohne "soziales Netz" zu besichtigen: man überlässt die Armen einfach sich selbst. Hunger, Seuchen, Kriminalität? Alles egal, solange die Armen die Wohngebiete der Mittelschicht nicht plündernd heimsuchen und um die der Reichen einen weiten Bogen machen.

Heinsohns "einfache Lösung" wird die Probleme absehbar verschärfen. Dafür sein kann eigentlich nur jemand, dem die Freiheit als Wert ziemlich schnuppe ist. Auch in letzter Konsequenz die eigene ...

Mittwoch, 7. Oktober 2009

Im Prinzip wäre ich ja für ein "Bürgergeld", aber ...

... mit dem Modell eines "bedingungslosen Grundeinkommens" hat das, was die FDP einführen möchte, nur am Rande etwa zu tun.

Das FDP "Bürgergeld" hat auch nur am Rande mit der radikal liberalen Idee einer "Negativen Einkommensteuer" zu tun - die einzige Übereinstimmung sehe ich darin, dass das "Bürgergeld" vom Finanzamt ausgezahlt werden soll. Es verzichtet nicht auf die Bedürftigkeitsprüfung (gut, das war zu erwarten) - und es ist mit 662 Euro im Monat so niedrig angesetzt, dass es gerade keine Freiräume schafft. Tatsächlich würde damit das soziale Sicherungssystem auf ein Minimum gekürzt.

Der Hammer aber ist das damit verbundene "Workfare"-Konzept - "Workfare" bewusst in Anführung, denn es geht dabei um "Kein-Euro-Jobs" - "Workfare" im klassischen Sinne wäre der "1-Euro-Job", so wie er ursprünglich mal geplant war. Hartz IV soll durch Workfare ersetzt werden.
Der nun angedachte "Kein-Euro-Job" geht de facto in Richtung Dienstverpflichtung. Natürlich fehlt zu einem tatsächlichen "Reichsarbeitsdienst" noch die Kasernierung. Aber früher oder später wird irgendein "Experte" auch noch darauf kommen - z. B. bei jungen Arbeitslosen.

Was es mir dem "Bürgergeld"-Vorschlag der FDP auf sich hat, und worin sich "Bürgergeld" und "Grundeinkommen" unterscheiden, lässt sich in zwei Broschüren nachschlagen: Bürgergeld (Kerstin Funk) (pdf) und Bürgergeld und Grundeinkommen (Peter Altmiks) (pdf).

Was ungemein auffällig ist: allenfalls die ökonomische Einstellung ist "liberal" - Bürgerrechte für arme Menschen sind offensichtlich weniger wichtig. Wer sich nicht im Niedriglohnsektor ausbeuten lassen will, ist eben faul. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.
Die liberale Rhetorik kann gar nicht über die erzkonservative bis reaktionäre Auffassung, die Reduzierung der Bürger auf ihre Arbeitskraft, hingwegtäuschen.

Montag, 5. Oktober 2009

Neue Brille für ALG 2 Empfänger? Gefälligst vom Munde absparen!

Eine Sehhilfe wie die Brille muss vom Arbeitslosengeld II (ALG II) Regelsatz beglichen werden. Was bei stark fehlsichtigen Menschen ein teueres "Vergnügen" seien kann. Bei starker Kurzsichtigkeit in Verbindung mt Hornhautverkrümmung kommt man für eine Brille, mit der man auch arbeiten und Auto fahren kann, unter Umständen auf über 200 Euro - pro Glas!

Es gibt leider keine andere Unterstützungsmaßnahme als über das Darlehen der ARGE - und selbst dafür müssen dringende Gründe vorliegen, sonst darf (!) es nicht bewilligt werden. Wer in einer Arbeitsgelegenheit ("1-Euro-Job") steckt oder, noch besser, eine Arbeit in Aussicht hat, hat dabei bessere Karten - weil man ohne gute Sicht schwerlich arbeiten kann. Ist das nicht der Fall, muss die Brille eben vom Regelsatz angespart werden.
Ein Problem hier ist, dass die Fallbearbeiter so entscheiden müssen - auch wenn sie zehnmal selbst überzeugt sind, dass es nicht zumutbar ist, eine medizinisch notwendige teure Brille vom Regelsatz bezahlen zu müssen.

Die Krankenkasse dürfen - auch das ist per Gesetz geregelt - nur dann die Kosten übernehmen oder einen Zuschuss zahlen, wenn die Sehkraft auf dem besseren Auge kleiner als 30 % ist. Egal, für wie daneben und unsozial die Kassen selbst diese Regelung halten: Sie dürfen nicht im Härtefall großzügig sein - so "einfach" ist das.

Hilfsbereitschaft wird von Gesetz wegen bestraft. Wer gegenüber Schwachen rücksichtslos handelt, handelt dagegen vorschriftsgemäß und gesetzkonform - und wird unter Umständen belobigt.

Ich rate Menschen, die kaum Geld zum Leben haben, nicht gerne zu Versicherungen, aber für ALG 2-Empfänger, die auf ihre Brille angewiesen sind, kann es sinnvoll sein, sich mit einer Brillenversicherung abzusichern. Denn sonst kann schon ein gesprungenes Brillenglas oder eine veränderte Sehstärke finanziell sehr bitter kommen. Einige Optiker bieten da erschwingliche Lösungen (ab 10 Euro / Jahr) an.

Hierzu: Hartz IV: Brille muss vom Regelsatz bezahlt werden
ALG II: Keine Hilfe beim Brillenkauf.

Dienstag, 29. September 2009

Eine Petition, die mehr Beachtung verdient: ALG Sanktionen abschaffen

Schon seit dem 20. August läuft eine Petition (die ich übrigens längst unterzeichnete):
Arbeitslosengeld II - Abschaffung der Sanktionen nach § 31 SGB II vom 20.08.2009

Sicher, die meisten Sachbearbeiter bei den ARGEn sind menschlich anständig. Und zugegeben, es gibt tatsächlich "faule Hunde" unter den ALG II-Empfängern, wenn auch längst nicht in dem Umfang, in dem das uns die Boulevardmedien und alles andere als neutrale "Öchsperten" weiß machen wollen. Ich gebe sogar zu: ab und an geht es nicht ohne etwas Druck. Die Betonung liegt auf "etwas".

Die Sanktionen nach § 31 SGB II haben drei schwere (und meines Erachtens nicht fahrlässig, sondern absichtlich eingebaute) Konstruktionsfehler:
  1. Gegenüber der üblichen Rechtspraxis herrscht Beweislastumkehr: Nicht die Behörde muss den Erwerbslosen pflichtwidriges Verhalten nachzuweisen, sondern der Erwerblose muss belegen, dass er pflichtgemäß handelte.
  2. Die Sanktionen können über das Maß hinaus getrieben werden, das für die Betroffenen buchstäblich existenzbedrohend wird. Das endet nicht beim Verlust der Wohnung. Selbst auf Lebensmittelgutscheine beim völligen Entzug des ALG II gibt es meines Wissens keinen Rechtsanspruch.
  3. Die Zahlung darf im Sanktionsfall sofort eingestellt werden. Das bedeutet, dass Erwerbslose auf bloßen Verdacht hin in existenzbedrohende Situation gebracht werden können
Die Begründung der Petition klingt hart. Aber sie trifft meiner Ansicht nach leider nicht nur in "bedauerlichen Einzelfällen" zu:
§ 31 SGB II verletzt die Menschenwürde und die Freiheit zur Entfaltung der Persönlichkeit und wandelt die gebotenen Hilfestellungen des Staates zu Zwangsmaßnahmen um. Abzüge vom absoluten Lebensminimum können nur durch Hungern kompensiert werden. Die Sanktionierung mit Hunger oder mit gesellschaftlicher Ausgrenzung steht auf derselben Stufe wie die Sanktionierung durch unmittelbare staatliche Gewalt.
Die Mitzeichnungsfrist für diese Petition endet am 28. Oktober 2009.
Wenn Ihr sie noch nicht unterzeichnet habt: Bitte tut es
hier und bald!

Montag, 13. Juli 2009

Ein Grund, wieso ich Wirtschaftsnachrichten misstraue ...

... liegt darin, dass nicht immer klar ist, wie statistische Aussagen zu Stande kommen.
Wussten Sie, dass in vielen europäischen Ländern die Armut im Zuge der aktuellen Wirtschaftskrise dramatisch zurückgegangen ist? Und zwar wegen der geradezu hirnrissigen Art und Weise, wie man sie auch hierzulande misst, nämlich als Anteil derjenigen, die weniger haben als die Hälfte des Durchschnitts.
Walter Krämer, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Universität Dortmund, Autor des Sachbuch-Bestsellers "So lügt man mit Statistik" im Interview mit Welt-Online.
Allerdings mag ich dem guten Professor nur zum Teil recht geben, wenn er sagt:
Mit wahrer Armut und Sorge um das nackte Überleben hat das, was heutzutage in Deutschland als Armut kolportiert wird, nicht das Mindeste zu tun.
Zum Glück ist der allergrößte Teil der (relativ) Armen in Deutschland nicht so arm dran - auch wenn es leider Ausnahmen gibt. Allerdings ist auch relative Armut (worunter ich nicht etwa "weniger als die Hälfte des Durchschnitts" verstehe, sondern "Leben am Existenzminimum oder darunter") kein Spaß und birgt reichlich sozialen Sprengstoff - zumal dann, wenn z. B. BA-Vorstandsmitglied Alt zwar Mehr Hartz IV für langjährige Beitragszahler fordert, aber zugleich Sparmöglichkeiten bei den Wohnkosten von Hartz-IV-Empfängern sieht.
Wer preiswert wohnt, hat einen höheren Anreiz, auch eine Arbeit mit niedrigerem Lohn anzunehmen.
Das glaubt Alt vermutlich nur, weil er entsprechende Statistiken gelesen hat - und erstaunlich finde ich, dass er anscheinend glaubt, dass Hartz VI-Empfänger sich scheuen würden, Arbeiten mit niedrigem Lohn anzunehmen. Sie sind gar nicht in der Lage zu "scheuen", denn wer sich nicht für eine angebotene Stelle bewirbt, dem wird das ALG II empfindlich gekürzt, bei Wiederholung gesperrt.

Dienstag, 7. Juli 2009

Die Früchte der "Faulenzer"-Stimmungsmache

Schon unter Bundesminister Clement (SPD) begann das Gerede über "Abzocker" und "Parasiten". Thilo Sarrazin (auch SPD) fand die Hartz 4 Sätze zu üppig und hat angeblich 14 Tage damit bestens gelebt. Stefan Müller (CSU) regte an, dass sich Langzeitarbeitslose sich jeden Morgen bei einer Behörde melden sollten, wo sie zur "regelmäßiger gemeinnütziger Arbeit" eingeteilt werden sollen. Philipp Mißfelder (CDU) ist der Ansicht, dass eine Erhöhung des ALG II Satzes für arbeitslose Eltern vor allem der Tabak- und Alkoholindustrie zugute käme. Martin Lindner (FDP) meint, man müsse "natürlich" den Regelsatz von Hartz IV kürzen - und zwar um bis zu 30 Prozent.
Und nicht nur die Boulevardmedien spielen das üble Spiel gerne mit.

Es überrascht mich nicht - und dürfte allenfalls notorischen Realitätsverweigerer überraschen - dass die jahrelange Stimmungsmache gegen die "faulen Sozialschmarotzer" Vorurteile und Diskriminierung nach sich zieht. Zulasten des Arbeitsmarktes:
Im Handwerk sind zigtausende Stellen offen, und die BA könnte genügend qualifizierte Leute vermitteln. Doch das klappt nicht - weil die Suchenden unter Hartz IV fallen und viele Firmen Vorurteile hegen.
Netzeitung: Unbesetzte Stellen wegen Hartz-IV-Vorurteilen. Deshalb hat die BA auch eine wunderschöne Aufklärungskampagne gestartet.
Gut gemeint, aber wohl zu für viele Betroffene zu spät. Ein klassischer Fall, in dem durch eine teure Kampagne eine Teilreparatur dessen versucht wird, was durch billige Stimmungsmache angerichtet wurde - und wird, denn ohne die Behauptung, es gehe Langzeitarbeitslosen noch viel zu gut, würde Lindner nicht im Wahlkampf drastische ALG II-Kürzungen empfehlen.

Das Geld für eine solche Kampagne kann man sich auch sparen, da die mühsam abgebauten Vorurteile gleichzeitig nach Kräften von Politikern, "Experten" und Massenmedien aufgebaut werden.

Nachtrag, 8. Juli:
Zum Thema:
Menschenhatz an allen Fronten (momorulez)

somlus Welt - kommentierte Links 7-7-09

Sonntag, 18. Mai 2008

Armut 2.0

Ich habe mich neulich in theoretisch mit dem Problem beschäftigt. Die Praxis sieht dann wieder ganz anders aus ...

Gefunden bei sven scholz und hier der Einfachheit mal als "Großzitat":
Statistik ist eines. Anders ist, es direkt zu erleben, ob als Betroffener oder als Zeuge.

Ingo ist Zeuge. Und tut was.

Und komm mir niemand mit “Und die anderen?” - jeder Einzelne zählt. Und es zählt, Einzelne nicht allein zu lassen. Wenn das nämlich viele auch in ihrer Umgebung tun gibt es auch nicht mehr so viele “andere”.

Niemand verlangt von Einzelnen, die ganze Welt zu retten oder allen gleichzeitig zu helfen, die Hilfe brauchen. Aber wenn jeder Einzelne dort, wo er ist, tut, was er kann, dann ist allen geholfen. Und wer weiß, ob man nicht selbst auch mal Hilfe braucht und froh ist, wenn es Menschen gibt, die sie einem tatsächlich - einfach so - geben, in dem Rahmen, wie es ihnen dann möglich ist.

P.S.: es hat auch niemand was dagegen, wenn die Geschichte auch auf anderen Blogs oder Foren weitererzählt wird und auch die ein oder andere Spende getätigt würde, egal ob Geld oder Ding.

Freitag, 16. Mai 2008

Bekämpfung der Arbeitslosen

Wirtschaftsminister Glos (CSU) begeistert sich für eine Idee, die schon andere vor ihm hatten: um das Ziel der Vollbeschäftigung zu erreichen, sollen Hartz-IV-Empfänger zur Arbeit für das Gemeinwohl verpflichtet werden. (Früher nannte man so was "Reichsarbeitsdienst".) Bestärkt sieht er sich dabei durch ein Gutachten des (selbstverständlich völlig neutralen) Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA). (Hierzu auf "telepolis": Das goldene Kalb Vollbeschäftigung.)

Einen sehr treffenden und optisch reizvollen Kommentar zu dieser Maßnahme, die auf der Annahme beruht, dass wir Vollbeschäftigung hätten, wenn sich alle Arbeitslosen endlich Arbeit suchen würden *), gab der Große Vorsitzende des gerantiert völlig unabhängigen Instituts ZAF hier ab:
Bürgerarbeit ist the new Sklavenarbeit.

*) Keine wilde Behauptung:
Ökonom Hilmar Schneider, der das IZA-Gutachten erstellt hat, sagte, die Bürgerarbeit motiviere Arbeitslose zum Handeln: "Wenn sie sowieso arbeiten müssen für die Grundsicherung, lohnt sich der Aufwand, einen Job zu suchen."
(zitiert nach SpOn: Glos will Hartz IV nur noch bei Gegenleistung zahlen).

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