Die Herrschaft der '82er

Typisch für die aktuelle Politikergeneration ist nun einmal Beratungsresistenz, Unfähigkeit in der Realität zu leben und die Vorliebe Schwächere zu quälen und zu beleidigen.
Elternforum

Es ist viel, zu viel, über die angebliche kulturelle Hegemonie der "´68er" die Rede. Abgesehen davon, dass es nur verhältnismäßig wenige '68er gibt und dass längst nicht alle, die von konservativer Seite zu den "´68er" gezählt werden, wirklich welche (oder überhaupt "links") sind, sind die meisten "´68er" längst im Rentenalter oder kurz davor.
Die heute tatsächlich tonangebene Generation wurde in den 1980er und frühen 1990er Jahren politisch sozialisiert. Für "Westdeutschland" bedeutet das: in der Ära Helmut Kohl.
Wobei es eine Überschätzung des eher gemäßigten und pragmatischen Politikers Helmut Kohl wäre, die einschneidenden kulturellen Veränderungen, die es im "Westen" gab, "seiner" "geistig-moralische Wende" im Jahr 1982 zuzuschreiben.
Der "Kanzler der Einheit" wäre 1989 beinahe von den eigenen Leuten gestürzt worden. Wenn nicht, wäre es fraglich gewesen, ob er die Bundestagswahl 1990 gewonnen hätte. Er hatte Glück und nutzte die Gunst der Stunde aus: der politischen Umbruch in Osteuropa, die "Wende" (politische, nicht "geistig-moralische") in der DDR, rettete ihn vom politischen Abstellgleis und sicherte dem geschickten und oft unterschätzten Machtpolitiker den Platz in der deutschen Geschichte. Dass er überschwänglich "blühende Landschaften" in den neuen Ländern versprach, wird wahrscheinlich sogar ehrlich gemeint gewesen sein. Der Mann neigte nun einmal zum Überschwang.

Der entscheidende Faktor für "´82" liegt meiner Ansicht nach nicht etwa in der "Ökonomie", sondern im Wandel der tonangebenden "westlichen" ökonomischen Lehre. Anlass zum Bruch der SPD-FDP-Koalition war ein Strategiepapier der FDP, das von Otto Graf Lambsdorff ausgearbeitet worden war und marktradikale Positionen, heute würde man sie wohl "neoliberal" nennen, zur Reform des Arbeitsmarkts enthielt. (Es entbehrt nicht der historischen Ironie, dass das, was damals Lambsdorf-Papier vorgesehen war, gut 20 Jahre später unter einer SPD-Grünen-Koalition ziemlich getreu vollendet wurde.) Die "Wende" der vorherrschenden ökonomischen Lehrmeinung, hin zu einem "klassischen Kapitalismus" und einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik verlief in anderen westlichen Ländern noch weitaus heftiger - etwa unter der Regierung Thatcher in Großbritannien oder unter Reagan in den USA ("Reganomics"). Für derart massive Reformen waren die deutschen Marktradikalen noch zu schwach - und der Kanzler zu konservativ.

Zum Alltag. Eine ungemein typische Erscheinung in der Jugendkultur der frühen '80er Jahre waren die "Popper". Eine Jugendkultur, die sich sowohl vom traditionellen Konservativismus wie von den zur selben Zeit ihren Höhepunkt erreichenden "Protestkulturen" ("Alternativler", "Ökopaxe" aber auch Punks) abgrenzten. Die meist aus "gesicherten Verhältnissen" stammenden Popper zelebrierten demonstrativen Hedonismus und unverhohlenen Egoismus. Wichtig war ihr materialistisches Imponiergehabe - sie legten es darauf an, beneidet zu werden. Es gelang ihnen. Obwohl die ehemaligen Popper ihre Allüren später ablegten, setzten sich jene Teile ihrer "Weltsicht", die sozusagen mit den "bürgerlichen Sekundärtugenden" wie Fleiß, Disziplin und Gewinnstreben kompatibel waren, fest. Leicht überspitzt kann man sagen, dass die heutige Führungsriege der FDP und weite Teile der CDU, so wie große Teile der Medienlandschaft von Ex-Poppern und von Menschen, die einst die Popper beneideten, dominiert werden.

Ebenfalls in die frühen 80er-Jahre fällt der Beginn der "neuen Prüderie" - die AIDS-Epidemie war für die Gegner der sexuellen Befreiung und der Schwulen-Emanzipation quasi ein "Geschenk des Himmels". Ironischerweise wurde die neue Prüderie flankiert von einer zeitgleich einsetzenden Fitness- und Body-Styling-Welle, und einem zunehmend auch in sexueller Hinsicht voyeuristischen Boulevardjournalismus. Es entbehrt nicht der bitteren Ironie, dass ein seltsames Zweckbündnis von religiös Konservativen und einer bestimmten Sorte Feministinnen der "neuen Prüderie" Vorschub leistete (Stichwort "Por-NO!").

Es gibt aber auch ganz praktische "Langzeitprägungen". Denn die ´80er waren nicht nur die Zeit der angehenden "Generation C 64", sondern, im Falle der etwas älteren Jahrgänge, auch die Brutstätte der heutigen "Internetausdrucker" und "Computeranalphabeten". Noch von meiner eigenen Ausbildung zum Datenverarbeitskaufmann (heute: IT-Kaufmann) kenne ich die "Faustregel", dass jemand, der den Tag am Computer arbeitet, in der Freizeit ebenso wenig Neigung verspüren würde, sich mit dem PC zu beschäftigen, wie ein Tischler zuhause eine Werkbank hätte. Folgerung: der private Sektor sei für die Computerbranche uninteressant - abgesehen von der Nische der "jugendlichen Spieler". Nicht alle begriffen, dass das Bild des Arbeiters in der Autoindustrie, der selbstverständlich privat Auto fährt, die tatsächliche Situation besser beschrieb. Für viele meiner Altersgenossen galt: Computer gehören ins Büro, und zwar nicht das des Chefs!
Es gab damals "Ratgeber", die Unternehmern dringend davor abrieten, sich einen PC auf den Chefschreibtisch zu stellen. Das würde Verhandlungspartner fragen lassen: "Hat der denn keine EDV-Abteilung?" Der Computer wurde in den 80er von vielen Geschäftsleuten als Nachfolger von Schreibmaschine und Buchungsautomat angesehen - etwas für Sekretärinnen und Buchhalter, aber nicht fürs Management - oder Menschen, deren Karriereziele in Richtung Management gingen.

Bei den "´82ern" wirkt diese Anschauung bis heute nach. Ironischerweise sind jene, die damals zu den "technikfeindlichen" Grünen und Alternativen gehörten, heute oft stärker "internetaffin" als die an der "technologischen Führungsrolle des Wirtschaftsstandortes Deutschland" interessierten Kohl- und Lambsdorf-Anhänger von damals.
Rayson (Gast) - 4. Okt, 19:22

Leicht überspitzt kann man sagen, dass die heutige Führungsriege der FDP und weite Teile der CDU, so wie große Teile der Medienlandschaft von Ex-Poppern und von Menschen, die einst die Popper beneideten, dominiert werden.

Ich glaube, das kann man nicht sagen. Nicht nur nicht leicht überspitzt, sondern gar nicht. Im Gegenteil, ich würde mich sehr wundern. Dazu waren die Popper dann doch landesweit gesehen zu sehr Minderheitenphänomen. Wer in die Politik geht, will irgendwas verändern, bewegen, mitgestalten. Das ist komplett "unpopperisch". Bei der CDU ist es sogar noch unwahrscheinlicher - da wird man nur was (Ausnahmen bestätigen die Regel), wenn man extrem "bodenständig" ist.

MMarheinecke - 5. Okt, 21:19

Auch Popper wurden "erwachsen"

Zugegeben, "Hardcore-Popper" gab es nur wenige. Und davon waren die meisten noch demonstrativ politikabstinent.
Aber auch diese jungen Leute wurden einmal erwachsen - zumindest äußerlich. An der Uni - BWL-Studium - oder bei der Banklehre hörten die meisten Popper auf, in den Tag zu leben und fingen an, ans selber Geld verdienen und Karrieremachen zu denken. (Nur die, die von Beruf "Sohn" oder "Tochter" waren, konnten sich auch nach dem Abi eventuell noch ein Popperdarsein leisten.) Die Mentalität blieb aber in etwa die Selbe. Die "Yuppies" der späten 80er waren - behaupte ich mal ohne soziometrische Untersuchung - in ihrer Schulzeit Popper oder wenigstens Möchtegern-Popper gewesen.

Ich kannte aus meiner Schule nur wenige "idaltypische" Popper - bzw. man konnte nicht sagen, dass im Popper-Outfit immer jemand mit Popper-Gesinnung steckte. Umgekehrt zeigten, wenn ich mich richtig erinnere, viele meiner Mitschüler eine "angepopperte" Haltung. Das waren einerseits Menschen, die die Popper für ihren zur Schau gestellten Wohlstand beneideten - und deren Denken daher nur noch um "Karriere machen" um "schnell reich zu werden" kreisten. Dann gab es die "Möchtergerns" - die alles taten, um "dazu zu gehören". Die erzogen sich m. E. selbst zu hemmungslosen Opportunisten. Und dann gab es noch Menschen, die äußerlich gar nicht nach "Popper" aussahen, aber ebenso hedonistisch, egoistisch und rücksichtslos dachten. Politik? Wenn es der Karriere hilft - warum nicht?
Bodecea (Gast) - 8. Okt, 15:54

Wollte nur mal anmerken...

... dass ich deien Artikel immer gerne lese. Punkpopper bzw. Prollpunks (Prunks) gab es bei uns ("die 93er" ?) auch noch, aber das war mehr die Variante Blue-System-T-Shirt mit Kloreiniger beträufelt bzw. falsche Rolex plus Iro *g*.

Bodecea

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