Gedankenfutter

Freitag, 31. Juli 2009

Über Opportunismus, Technik und die Illusion des "Unpoltischen"

Nachdem ich zwei Mal über einer der größten Triumphe der Technik, die Mondlandung von Apollo 11 bloggte, geht es dieses Mal um eine Schattenseite dieses Projektes. Sie personifiziert sich im Projektleiter, Wernher von Braun.
Don't say that he's hypocritical,
Say rather that he's apolitical.
"Once the rockets are up, who cares where they come down?
That's not my department,"
Says Wernher von Braun.
(Zitat aus Tom Lehrers Spottlied "Wernher von Braun".)
Sag' nicht, er sei scheinheilig,
sag eher, er ist unpolitisch.
"Wenn die Raketen erst mal oben sind, wen kümmert's wo sie ´runterkommen? Das ist nicht meine Abteilung", sagt Wernher von Braun.

Es geht mir nicht darum, Wernher von Braun als bösen, menschenverachtenden Naziwissenschaftler zu dämonisieren.
Dass war er nämlich ebenso wenig, wie er der unschuldig ins Nazisystem, in die Produktion einer Terrorwaffe und deren Produktion unter Bedingungen der "Vernichtung durch Arbeit" verstrickte "Nur-Raketenkonstrukteur" und Technokrat war, als der er bis in die 1960er in den USA "verkauft" wurde.

Er war ein Opportunist mit wenig Skrupeln. Er war jemand, der für sich trennte, was nicht zu trennen ist: die Verantwortung der Technikers und Managers für das Projekt von der politischen Verantwortung für das, was mit den Produkten dieses Projektes gemacht wurde. (Ein Grund, weshalb ich so wenig davon halte, sich, etwa als Verein oder als religiöse Gruppe, unpolitisch zu geben. Das bedeutet nämlich oft: sich vor politischer Verantwortung zu drücken.) Er fragte nicht: "Für wen produziere ich?" oder "Wozu produziere ich?" Ihm ging es um den technischen Durchbruch. Fixiert auf den Bau der Rakete, zeigte er sich bereit zu fortwährenden Konzession an die "Umstände" - also letzten Endes an das Regime. Bis hin zum Beitritt zur SS.
Dabei war seine Motivation schwerlich nationalistisch: die von ihm um 1950 verantwortlich konstruierte Redstone-Raketen hätten, wäre sie zum Einsatz gekommen, ihren Atomsprengköpfe vor allem in deutsche Städte getragen. Er hätte, wenn es sich angeboten hätte, auch für die UdSSR gearbeitet - es arbeiteten tatsächlich mehr "Ex-Penemünder" für "die Russen" als für die "Amis", auch wenn es die USA geschafft hatten, sich viele "führende Köpfe" für ihre Rüstungsindustrie zu sichern.
Und er war einer von vielen. So wie er dachten tausende, wenn nicht zehntausende, "NS-belastete"-Fachleute.

Die Technik und die technischen Fachleute gedeihen in fast allen denkbaren gesellschaftlichen Systemen gleich gut: Demokratie, Faschismus, Nationalsozialismus, Stalinismus, Kapitalismus, Planwirtschaft - das spielt alles keine Rolle, die Technik funktioniert überall, und die Mathematik ist auch überall die gleiche. Daher zahlt sich politischer Opportunismus für Ingenieure und techniknahe Naturwissenschaftler aus.
Schon in den Naturwissenschaft kann das anders sein. In der UdSSR war zum Bespiel die Genetik gut 30 Jahre lang als "bürgerlich-idealistische" Wissenschaft verpönt. (Mit Folgen, an denen Russlang noch heute leidet.) Theokratien tuen sich schwer mit dem Darwinismus. In Nazi-Deutschland wurde die Relativitätstheorie eine Zeit lang als "jüdische Physik" diffamiert (was später stillschweigend geändert wurde - es war allzu weltfremd für ein nach industrieller Überlegenheit und Wunderwaffen gierendes System).
Das ist wohl der Grund, weshalb Naturwissenschaftler häufiger "politischer" sind als Ingenieure.
Geisteswissenschaften, Kunst und Kultur haben es am schwersten. Die gedeihen nur in Freiheit wirklich gut. Leider folgt daraus nicht, dass jeder Geisteswissenschafler oder Künstler überzeugter Demokrat wäre.

Donnerstag, 16. Juli 2009

Mit sich trugen sie die sechzehnhundert Jahre alte Offenbarung

“Mit sich trugen sie die sechzehnhundert Jahre alte Offenbarung, auf der ihre Religion und ihre Hoffnung begründet waren und ebenso der Zivilisationsauftrag, an den sie glaubten.”
(Imogen Seger: Wenn die Geister wiederkehren, Ullstein, Frankfurt/Main, Berlin, Wien, 1984)

Bitte Ring2s Anweisung befolgen:

Schnappe Dir das erstbeste Buch in Deiner Nähe,
Jetzt,
Schlage Seite 56 auf.
Und suche den fünten Satz.

Poste diesen Satz als Deinen Status UND poste diese Anweisungen als Kommentar.
Bedenke: Nimm nicht das coolste oder Dein Lieblings-Buch, das erste in Reichweite!

Via: Metalust & Subdiskurse

Montag, 8. Juni 2009

Warum Schule in Deutschland so ist, wie sie ist

Er machte vor einiger Zeit Schlagzeilen, der Fall einer mutigen Grundschullehrerin in Bayern, die ihre Schüler mit guten Unterricht nicht nur zufrieden machte, sondern offenbar auch besonders lernfreundig. Sie vergab entsprechend gute Noten - zu gute Noten, wie die Schulbehörden fanden, die sie strafversetzte. "Sie hat die gängige Art der Leistungsbewertung und die damit verbundene Klassifikation von Kindern in Frage gestellt", steht in der Urkunde ihres Courage-Preises der Bayerischen Pfarrbruderschaft: Grundschul-Rebellin erhält Courage-Preis (SpOn)

Es ist ein offenes Geheimnis: das deutsche Schulsystem ist ein Aussieb-Schulsystem, und zwar in der Konsequenz noch nicht einmal kapitalistisch-leistungsfixiert, sondern von einem geradezu ständischen Gesellschaftsverständnis geprägt. Bayerischen Schulen regeln den Übergang der Kinder auf die weiterführenden Schulen traditionell besonders rigide - übrigens im auffälligen Widerspruch zur im Vergleich zu anderen Bundesländern geradezu vorbildlichen Förderung des wissenschaftlichen und technischen Nachwuchses. Im Prinzip hat man in Bayern schon früh erkannt, dass eine auf HighTech setzende Industrienation auch entsprechenden Nachwuchs braucht. Leider oft nur im Prinzip.
Nicht nur in Bayern, dort allerdings besonders offen, lassen Schulbehörden keinen Zweifel daran, dass die Lehrer nicht nur einen Bildungsauftrag, sondern auch einen Sortierauftrag haben - die Grundschullehrer als Türwächter des Gymnasiums. Das kollidiert natürlich heftig mit dem Auftrag, dass möglichst alle Schüler die Lernziele erreichen oder sogar übertreffen sollen.

Vor einige Jahren habe ich es kaum glauben können, als mir ein frustrierter Lehrer erzählte, in seiner Schule (übrigens in Berlin) gäbe es nicht nur die auch mir noch von meiner eigenen Schulzeit her übel vertraute Regelung, dass ein Lehrer das Notenspektrum voll ausschöpfen soll, sondern darüber hinaus, dass die Notenverteilung nach Möglichkeit der Normalverteilungskurve entsprechen sollte. Der Lehrer unterrichtete vor allem Mathe, und stand vor dem Dilemma, dass in einer Klasse "lauter faule Hunde" saßen, während es in der Parallelklasse einige echte Mathe-Überflieger gab, die ihre "normalen" Mitschüler außerdem zu regerer Unterrichtsbeteiligung mitrissen. Die Regelung hätte bedeutet, dass eine "2" in der "schlechten" Klasse für eine deutlich schwächere Leistung steht, als eine "3" in der "guten" - wohlgemerkt: beim selben Lehrer, auf der selben Schule, im selben Jahrgang.
Die Auswirkungen angesichts der "Notengläubigkeit" vieler Eltern, aber auch vieler Arbeitgeber, kann man sich nicht übel genug ausmalen.

Dass Politiker so weltfremd beziehungsweise so Klientelbezogen denken, ist leider relativ normal. Aber warum unterstützen Lehrer dieses offensichtlich den Interessen der Kindern und dem pädagogischen Auftrag zuwiderhandelnde System? Warum sind nicht mehr Lehrer daran interessiert, möglichst viele "gute Schüler" zu haben? Warum, um einen anderen Misstand anzusprechen, gibt es in Deutschland immer noch das "Drama um das hochbegabte Kind", den offiziellen Forderungen nach Begabtenförderung und dem weit verbreiteten Motto: "Leistung muss sich lohnen" zum Trotz?

Ich fürchte, der alte Hermann Hesse hat immer noch recht:
Für die Lehrer sind Genies jene Schlimmen, die keinen Respekt vor ihnen haben. (...) Ein Schulmeister hat lieber einige Esel als ein Genie in seiner Klasse und genau betrachtet hat er ja recht, denn seine Aufgabe ist es nicht, extravagante Geister herauszubilden, sondern gute Lateiner, Rechner und Biedermänner. (...) wir haben den Trost, dass bei den wirklich Genialen fast immer die Wunden vernarben, und dass aus ihnen Leute werden, die der Schule zum Trotz ihre guten Werke schaffen und welche später, wenn sie tot und vom angenehmen Nimbus der Ferne umflossen sind, anderen Generationen von ihren Schulmeistern als Prachtstücke und edle Geister vorgeführt werden.
Herman Hesse, 1972

Mit dieser bequemen Mentalität klappt das mit der "Normalverteilung". Gut, dass es mutige Lehrer gibt, die das anders sehen.

Mittwoch, 6. Mai 2009

Piraten - Anmerkungen zu einem rebellionsromantischen Begriff

Piraterie ist wieder im Kommen. Sowohl als Seeraub wie im übertragenen Sinne.
Mein Mitleid mit den Piraten vor Somalias Küsten hält sich in Grenzen - die chaotischen Zustände in Somalia, für die die Somalis am wenigsten können, hin, die Raubfischerei in somalischen Gewässern (nebenbei: auch eine Form der Piraterie) her.
Geiselnahme zulasten einfacher, oft jämmerlich bezahlter, Seeleute, verdient keine Gnade, da ist einfach die Grenzen dessen, was noch als "Notwehr" durchginge, überschritten.

Die "Piraterie" in übertragenen Sinne, nämlich Urheberrechtsverletzung, ist natürlich nicht damit zu vergleichen. Ein Kavaliersdelikt ist sie nicht. Geistiges Eigentum, und darum geht es beim Urheberrecht, gehört, zumindest nach deutschem Recht, nur den Autoren.
Aus Sicht der Autoren kann man tatsächlich vom "Diebstahl" sprechen, auch wenn niemand sie mit der Pistole bedroht und nicht etwa das Manuskript oder die Noten verschwinden, sondern Text, Bilder oder Musik "nur" kopiert werden. (Aus juristischer Sicht ist z. B. illegaler Download deshalb kein Diebstahl.)
Autoren, die von ihrer Arbeit leben müssen, tut das schon weh - und macht sie zu zurecht wütend. Denn jede illegale Kopie ist entgangenes Geld - bei Büchern (Hardcover) ist der Autorenanteil bei Autoren mit gutem Vertrag etwa 10 % des Verkaufspreises, bei Taschenbüchern sind es um die 5 % - oft weniger. Das bedeutet, dass nur einige wenige Bestsellerautoren durchs Bücherschreiben reich werden können.
So, wie Musiker im Allgemeinen ein lausig schlecht bezahlter Beruf ist.

2007 wurde das Urheberrecht verschäft, allerdings hat es den Autoren, den Urhebern, tatsächlich nichts viel gebracht. Im Gegenteil, Schriftsteller oder Komponisten verdienen heute in der Regel weniger als zuvor!
Wer verdient, sind die Inhaber der Verwertungsrechte, also die Medienindustrie, die im Kernbereich eine Kopier- und Verbreitungsindustrie ist.
Neben der legalen Kopierindustrie gibt es auch eine illegale Kopierindustrie - "gewerbsmäßige Raubkopierer" bzw. "Verwertungsrechts-Piraten". Ein höchst profitträchtiges Unternehmen, für das mir jedes Verständnis fehlt.
Wenn sich aber die Medienindustrie als "Hüterin der Urheberrechte" darstellt, ist das bestenfalls eine Halbwahrheit.
Leider ist es auf Seiten der Medienindustrie - und damit auch der Presse - in Sachen Verwertungsrechte durchaus üblich, Sachverhalte in einem Atemzug zu nennen, die nichts miteinander zu tun haben. Ich finde es in der Tat bemerkenswert, wie sehr die Medienindustrie den öffentlichen Diskurs bestimmt, und undifferenzierte Gleichsetzung etwa von "Download" mit "illegalen Download" und dieses mit "Diebstahl" etabliert.
Ein aktuelles Beispiel für die Gleichsetzung ungleicher Sachverhalte ist die Berichterstattung über den "Heidelberger Appell": Google Books, YouTube, The Pirate Bay und Open Access - aus urheberrechtlicher Sicht sehr verschiedene Plattformen, so verschieden wie Apfel, Orangen und Kürbisse, werden sozusagen zu einen grausigem Obstbrei verrührt. Der ungünstigste Fall im Einheitsbrei wird dann zum Regelfall erklärt. Damit wird dann die Forderung nach politischen Maßnahmen zur "Wahrung von Urheberrechten" begründet.
Open Access ist z. B. alles andere als eine Beschränkung der Urheberrechte. Wissenschaftler, die ihre Forschungsergebnisse in Fachzeitschriften publizieren, erhalten in der Regel kein Honorar. Hingegen erzielen die Verlage dieser teurer Zeitschriften durchaus gute Gewinne. Bei einer Veröffentlichung unter Open Access bekommt der Wissenschaftler zwar auch kein Honorar, aber wenigstens verdient niemand an seiner schöpferischen Arbeit - und die Öffentlichkeit, die vor allem aus Wissenschaftlerkollegen besteht, kommt kostenlos an aktuelle Forschungsergebnisse. Das ist legitim, denn Universitäten und öffentlich unterstützter Forschungseinrichtungen werden teilweise oder ganz vom Steuerzahler bezahlt.
Übrigens halte ich Medienindustrie nicht für überflüssig. Schon aus dem Grunde, dass Autoren, dass Künstler nicht unbedingt gute Unternehmer sind. Dienstleister wie Verleger, Manager oder Agenten werden nach wie vor gebraucht. Aber das Geschäftsmodell einer Kopierindustrie, das einst darauf aufbaute, dass z. B. Plattenpresswerke das einzige Mittel waren, Musik massenhaft zu verbreiten, ist meiner Ansicht nach technisch veraltet.

Seitens der an den herkömmlichen Verbreitungswegen interessierten Medien werden gern und oft unkonventionelle Verbreitungswege, bei denen die Urheber (zur Erinnerung: das sind die Autoren bzw. Künstler und niemand sonst!), sehr wohl auf ihre Kosten kommen, mit "Online-Piraterie" gleichgesetzt.
Da liegt es nahe, wenn eine Partei, die ein neues Verständnis von der Rolle des kreativen Schöpfungsprozesses und von der Nutzung technischer und kultureller Errungenschaften hat, und die sich abzeichnenden Überwachungsgesellschaft ablehnt, Die Piratenpartei nennt.
piratin02
"Die Piraten" nennen sich also aus ähnlichen Gründen "Piraten", aus denen sich Homosexuelle "Schwule" nennen, oder, noch nicht so etabliert, Schwerbehinderte "Krüppel", Einwanderer "Kanaken" - oder aus denen ich es vorziehe, mich "Heide" zu nennen, anstatt etwa "Naturreligiöser" (was sowieso nicht ganz hinhaut). Negativ gemeinte Begriffe lassen sich, um im Bild zu bleiben, kapern.
Wobei "Pirat" wegen der Rebellions- und Sozialromantik des Piratentums ohnehin nicht rein negativ besetzt ist: Sozialromantische Piraten?.

In seinem, meiner Meinung nach in seinem Kulturpessimismus sehr "deutschen", Artikel Deutschland degeneriert in ein Entwicklungsland meint Marcel Weiss:
Was gar nicht hilft, ist, in Deutschland eine Partei Piratenpartei zu nennen.

Eine Partei, die sich ganz offiziell nach Kriminellen benennt, wird genau so viel Einfluss auf die deutsche Gesellschaft haben: Null.

Wer sich so nennt, hat schon verloren. Albern? Ja. Aber das ist nun mal die Diskurs-Realität in Deutschland.
Mit anderen Worten: Marcel Weiss vermutet, dass jemanden der sich selbst bewusst (und selbstbewusst) "Pirat" nennt, viele Menschen viele Argumente nicht abkaufen.
So, wie ich die deutsche Medienrealität kenne, ist das nicht ganz falsch.

Dennoch teile ich seine Einschätzung, dass eine Partei, die sich "Piratenpartei" nennt, in Deutschland niemals irgendeine gesellschaftlich relevante Rolle spielen wird, nicht.
Denn erst einmal ist die "Piratenpartei" eine Protestpartei, was auch im provokanten Namen zum Ausdruck kommt. Auf Regierungsbeteiligungen ist sie bisher nicht angelegt, sollte das geschehen, wird sie sich sicher umbenennen - und eine völlig andere Partei werden.
Zum anderen besteht die deutsche Öffentlichkeit nicht nur aus den "etablierten", kulturell konservativen, Kreisen. Noch nicht einmal in den "alten" Medien.
Der dritte Grund, warum der Name "Piratenpartei" keine Dummheit ist, dass, wie schon erwähnt, "Pirat" nicht eindeutig negativ besetzt ist. "Pirat" bezeichnet zwar einen Kriminellen, aber der durchschnittliche Deutsche dürfte beim Wort "Pirat" nicht automatisch an somalische Seeräuber denken. Eher schon an Filmpiraten wie Captain Jack Sparrow, an "Die Schatzinsel" und "Der rote Korsar", oder an legendäre Gestalten wie Klaus Störtebeker - der bekanntlich entgegen der mutmaßlichen historischen Wirklichkeit im Norden Deutschlands einen sehr guten Ruf hat. Zumindest der fußballinteressierte Teil der deutschen Bevölkerung wird beim Anblick des "Jolly Roger", der Totenkopfflagge, eher an den FC St. Pauli als an Raub und Geiselnehmer denken.
Der vierte Grund ist der, dass das Klischee des humorlosen, für Ironie unempfänglichen Deutschen nur für eine Minderheit der Deutschen zutrifft. Dass diese Minderheit noch den einen oder anderen medialen Diskurs beherrscht, heißt ja nicht, dass das immer so bleiben muss.

Alles in allem: Deutschland ist weniger spießig als Marcel Weiss befürchtet.

7. Mai: Einige Grammatik-Fehler ausgebügelt - und einen Link nach St. Pauli eingefügt.

Ergänzung - 7. Mai:
Zum Selbsttest: Pirat-O-Meter.

Dienstag, 28. April 2009

Sind Blogs abgetriebene Gedanken?

Autorin und Moderatorin Else Buschheuer will nach zehn erfolgreichen Blogger-Jahren aufhören. Was mich an sich nicht stören würde, denn an und für sich sind die Gründe dafür allein ihre Sache. Leider sieht Frau Buschheuer das nicht so und legt im Spiegel-Interview auf diese Gründe öffentlich dar. "Erfolgsautorin Buschheuer "Blogs sind abgetriebene Gedanken".
Buschheuer:: Ich bin mir sicher, dass ich mein bestes Buch noch nicht geschrieben habe - und dass mein Internet-Tagebuch einer der Vorwände war, mich davon abzuhalten. Ich hab' mir dort die Seele aus dem Leib geschrieben: Bloggen, das sind viele kleine Fehlgeburten, abgetriebene Gedanken, aber eine Geschichte zu einer großen, geschlossenen Form zu bringen, das hat Majestät.
Nebenbei: ich lese ihr Blog schon lange nicht mehr. Weil es mich schlicht langweilte. Das Bloggen ist nun einmal nicht immer die angemessene Form, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen. Politische Themen - im weitesten Sinne - funktionieren in Blogs, Hobbies sicher auch, aber literarische Tagebücher? Ich denke: Eher nicht. Wer über Alltagserfahrungen Bücher schreiben will, der tut in der Tat gut daran, nicht alle Alltagserfahrungen sofort ´rauszuhauen. Die müssen erst mal lagern und später mit Abstand reflektiert werden, damit da guter Lesestoff draus wird. Da aber die wenigsten Schriftsteller über ihre Alltagserfahrungen schreiben, haben sie dieses Problem logischerweise nicht.

Was die gute Frau im Interview sagt, gilt also für sie persönlich und für ihre Art zu schreiben und zu bloggen.
Andere bloggende Schriftsteller trennen sorgsam zwischen Inhalten: die "für den Buchdruck" vorgesehenen, die dann allenfalls auszugsweise als Leseprobe auftauchen, und den Blog-Inhalten, die einer "kommerziellen Nutzung" entzogen sind. Dass große Verlage keine Texte wollen, die schon im Netz stehen, und dass sie deshalb bereits gebloggte Texte nicht mehr dort unterbringen kann, das weiß schließlich jeder Schriftsteller.

Dass sie sich in ihrem Internet-Tagebuch "die Seele aus dem Leib" geschrieben hat, und sie daher, das vermute ich, zu wenig unveröffentlichtes Material für das noch zu schreibende beste Buch im (vielleicht nur virtuellen) Zettelkasten hat, ist auch kein Problem der bloggenden Schriftsteller an und für sich. Wobei sie ja angibt, mehr als genügend Ideen zu haben.

Um die Frage in der Titelzeile zu beantworten: Für Autoren wie Else Buschheuer und ihre Art zu schreiben und zu bloggen, mag das richtig sein, aber verallgemeinern lässt sich diese Einsicht nicht.
Bestimmt trifft sie nicht auf mich zu - aber ich bin schließlich auch kein Erfolgsschriftsteller.

Dienstag, 3. Februar 2009

Zum 100. Geburtstag einer verkannten Denkerin

Heute wäre Simone Weil 100 Jahre alt geworden. Sie starb leider viel zu früh im Alter von nur 34 Jahren.

Einen - wie ich finde - sehr guten Aufsatz über die Anarchistin, Philosophin und Mystikerin schrieb Antje Schrupp: Zum 100. Geburtstag von Simone Weil. Antje Schrupp arbeitet das heraus, was auch mich an dieser Denkerin immer fasziniert hat - z. B. ihren politischen Durchblick, ihre Offenheit, ihre Zähigkeit - und stellt einige Dinge richtig, die mich bisher an Simone Weil gestört hatten. Z. B. wird sie sehr stark von der katholischen Kirche "beansprucht", sie wurde sogar "ungetaufte katholische Mystikerin" genannt - wobei es angeblich ein "Bekehrungserlebnis" oder wenigstens eine "Buch" im Leben gegeben hätte - erst Anarchistin und Revolutionärin, danach Christin und Mystikerin. Antje Schrupp stellt das richtig und sieht eine logische Entwicklung:
Was Simone Weil an der Religion interessiert, das ist die Möglichkeit einer Lebenshaltung angesichts eines Unglücks, das nicht zu beheben zu sein scheint. Sie interessiert sich für Gott, weil das sozusagen die einzige Hoffnung ist, die bleibt, wenn man ihre Analyse der politischen Verhältnisse zu Ende denkt, die keine Hoffnung mehr bereit halten.
Dabei führte sie ihre Hinwendung zum Christentum nicht geradewegs zum herkömmlichen Katholizismus - ganz und gar nicht:
Simone Weil glaubt aber nicht, dass nur die christliche Religion dieses Wahre kennt, sondern sie entdeckt es in allen möglichen philosophischen Denkrichtungen, von Platon über altägyptische Volksmythen, vor allem bei den Katharern, im Buddhismus, im Taoismus und eben auch im Christentum. Die Worte Gott, Christus und Krishna benutzt sie in ihren Briefen sozusagen synonym. Sie glaubt, dass diese philosophisch-spirituellen Traditionen jede auf ihre Weise einen Blick auf das Wahre, auf Gott bereithalten, und zwar auch in langen Zeiten der Düsternis auf der Welt.
Sie lehnte, trotz Interesse am Katholizismus, die Taufe ab, weil sie fürchtete, dass ihr Denken mit den kirchlichen Dogmen nicht vereinbar sei.

Bisher argwöhnte ich, dass sie sozusagen ein "klassisches" Beispiel für eine judenfeindliche Ex-Jüdin gewesen wäre. Tatsächlich scheint es so gewesen zu sein, dass der im "Alten Testament" (richtiger: der jüdischen Bibel) beschriebene grausame und rachsüchtige Gott sie abschreckte. (Mir geht es genau so. Allerdings bin ich der Ansicht, dass die Auseinandersetzung mit diesen schrecklichen Mythen die Entwicklung der jüdischen Religion zu einer sehr abstrakten, sehr "intellektuellen" Gesetzesreligion und auch die Entwicklung der pragmatischen jüdischen Humanität - Grundsatz: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, alles andere ist Kommentar" - förderte.)

Außerdem hatte ich bisher den Eindruck, sie sei überspannt und mitunter weltfremd gewesen. Auch da hat mich der Aufsatz eines Besseren belehrt.

Aber was schreibe ich hier so viel - lest lieber selbst den Aufsatz!

Freitag, 30. Januar 2009

Entgleist auf dem linearen Zeitmodell

Auf der Website der "Süddeutschen Zeitung" wurden prominente Wissenschaftler nach alternativen Szenarien befragt: Was wäre wenn ....
Wir stellen die Realität meist nicht in Frage. Doch könnte auch alles ganz anders sein. Szenarien, wie die Welt zwar nicht ist, aber doch sein könnte.
Eine vielleicht müssige, aber intellektuell anregende Frage. Besonders für Menschen wie mich, die der Ansicht sind, dass es "die Zukunft" gar nicht gibt - oder, für die, denen das missbehagt, die Zukunft offen ist, was ja nichts anderes bedeutet, als das wir bezüglich der Zukunft rein gar nichts von Bedeutung wissen können. Was passiert am 21.Dezember 2012?. Auch dazu, wieso die Zeit scheinbar immer in eine Richtung verläuft, und was das mit Paralleluniversen zu tun hat, und dass das Ganze auch noch wissenschaftlich fundiert ist, schrieb ich schon etwas: Der Pfeil der Zeit - oder: John Constantine lebt!.
Zwei Szenarien beziehen sich auf die Frage nach Gott. Der Philosoph und Atheist ichael Schmidt-Salomon antwortet auf die Frage, was wäre, wenn Gott doch existierte. (Wie ich finde, enttäuschend unoriginell.) Der Psychiater und Theologe Manfred Lütz und der Vorsitzende der Katholischen Bischofskonferenz Robert Zollitsch werden gefragt, was denn wäre, wenn Gott nicht existierte. Auch diese Texte bersten nicht gerade vor originellen Geistesblitzen, verraten aber viel über die Bahnen, in denen manche überzeugte Christen so denken. Lütz entgleist dabei auf seinen linearen "Bahnstrecken"-Zeitmodell:
Wenn es Gott nicht gäbe, könnten Sie darüber hinaus nicht sicher sein, ob es Sie gerade im Moment wirklich gibt. Zwar wird es Sie nächste Woche gegeben haben. Gewiss wird es Sie jetzt im Moment auch nächstes Jahr gegeben haben. Doch irgendwann wird es keinen Menschen und keine Erde mehr geben. Wenn es keinen ewigen Gott gibt, wird es Sie, verehrter Leser, dann jetzt im Moment nicht gegeben haben. Wenn es Sie aber nicht gegeben hat, dann gibt es Sie jetzt auch nicht. Schade eigentlich.
Es ist schon ziemlich verrückt, die Frage nach der eigene Existenz von einem linearen und unendlichen Zeitablauf abhängig zu machen. Es ist möglich - wenn auch wenig wahrscheinlich - dass das Universum am 16. Mai endet. Einen 17. Mai gäbe dann es nicht und wird es auch nie geben. Der Zeitbegriff ist, da die Zeit Teil der Raum-Zeit dieses Universums, nur innerhalb dieses Universum sinnvoll anzuwenden. Ebenso die Frage nach der eigenen Existenz.
Wobei aus einem linearen und unendliche Zeitablauf, wenn es ihn dann gäbe, auch in keiner Weise folgen muss, dass es darin einen "ewigen Gott" gäbe.

Dienstag, 27. Januar 2009

Die Zeit heilt keine Wunden

Was übrigens nicht weiter schlimm ist, wenn man bereit ist, Wunden tatsächlich zu behandeln. Und was schon gar nicht bedeutet, dass die Rauchschwaden der Öfen von Auschwitz noch in Jahrhunderten nicht verweht sein werden.

Heute, am "Holocaust-Gedenktag" - eigentlich: Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus - werden wieder mehr oder weniger gehaltvolle Reden gehalten. Leider bestehen viele aus den üblichen Textbausteinen.
Vor 64 Jahren, am 27. Januar 1945, hatten Truppen der Roten Armee Auschwitz befreit, das größte deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager. Die wichtigste, alles entscheidende Frage - und der einzige wirklich sinnvolle Textbaustein - ist, wie ein neues "Auschwitz" verhindert werden kann. (Es ist übrigens bezeichnend, dass die Veranstaltung im Bundestag ohne Zentralrat der Juden stattfindet.)
Außerdem gibt es ja immer noch und immer wieder, leider nicht nur von den "üblichen Verdächtigen" auf der extremen politischen Rechten erhoben, die berühmte Schlußstrichforderung: Es gebe keine Schuld, oder wenn es eine gegeben haben sollte, sei sie längst verjährt. Jetzt müsse endlich einmal Schluss sein!

Aus meiner Sicht ist die Schuldfrage tatsächlich irrelevant. Nicht, weil die meisten Täter verstorben sind und sich Schuld nicht vererbt, sondern, weil die Frage "wer ist daran schuld" noch nie zu Lösungen geführt hat, sondern sie behindert. (Das ist kein Plädoyer für Nachsicht mit den Tätern - im Gegenteil!) Im Normalfall ist die Schuldfrage eng mit Strategien, Verantwortung zu Verdrängen, verknüpft, denn bekanntlich sind immer "die Anderen", oder, wenn man sonst nichts findet, die ominösen "Umstände" schuld.

Das heißt für uns heute: sehen, wo wir heute verantwortlich handeln können. Nachträglicher Widerstand gegen die alten Nazis ist schwerlich möglich.
Zum verantwortlichen Handeln heute gehört es selbstverständlich, die geistigen Erben der Nazis zu bekämpfen. Das ist aber nicht genug, denn Neonazis sind nicht die Ursache, sondern ein Symptom für das was sich jenseits des rechtsextremistischen politischen Randes abspielt. Ich wies neulich darauf hin, dass Adolf Hitler intellektuell gesehen eine typische Nazi-Dumpfbacke, eine Null, war - und kein Genie des Bösen.
Der "Aufstieg" der Nazis zur Macht war auch nicht unaufhaltsam, im Gegenteil, noch im Januar 1933 hätte Hitler gestoppt werden können.
Ich bin außerdem der Ansicht, dass viele (zum Glück nicht alle!) der die Nazis hervorbringenden und begünstigenden gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und mentalen Strukturen von damals heute noch weiter wirken. (Ganz im Sinne Brechts: "Der Schoss ist fruchtbar noch ... ).
Es reicht nicht aus, zu erkennen, dass Neonazis und andere "Extremisten" aus der "Mitte der Gesellschaft" stammen. Tatsächlich müssen zum Beispiel die deutschen bzw. europäischen Gesetze gegen "illegale" Einwanderung und die Abschiebeknäste in einem Atemzug mit "rassistischen Vorurteilen der Bevölkerung" genannt werden.

Im Anschluss an Dukes Aufsatz bin ich der Ansicht, dass etwas, das geschehen ist, nicht etwa deshalb aufhört, ins Heute zu wirken, weil es vielleicht "lange her" ist. Es ist also nie "die Zeit", die "Wunden heilt", sondern nur die tatsächliche und aktuelle Behandlung der Wunde.
Man kann leider auch fahrlässig Wunden aufreißen, wie es z. B. gerade der (manchmal allzu) deutsche Papst gerade tut, wenn er einen Holocaust-Leugner rehabilitiert.

Es ist nun zum Glück nicht so, dass sich Deutsche nicht aktiv um die Behandlung der von Deutschen geschlagenen Wunden gekümmert hätte. Ein Beispiel ist die christliche Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, deren konkrete Taten ich für wichtig und richtig halte (dass mir die Rhetorik der Funktionäre dieser verdienstvollen Organisation manchmal quer im Ohr liegt, mag man einem bekennenden Heiden nachsehen).
Ein anderes, nicht rundum gelungenes, aber bei weitem nicht gescheitertes Beispiel ist die Wiedergutmachung: Ab Ende der 1940er Jahre setzte sich, zuerst in der SPD, die Forderung nach einer Wiedergutmachung an die Juden durch. Auch katholische und linksliberale Kreise wurden in dieser Richtung initiativ. Als der Bundestag 1953 das schließlich mit Israel abgeschlossene Wiedergutmachungsabkommen ratifizieren sollte, gelang dies nur dank der Stimmen der SPD, da Bundeskanzler Adenauer in der CDU/CSU-FDP-Koalition nicht genügend Stimmen für seine Vorlage bekommen hätte.
Die materielle Wiedergutmachung, so notwendig sie ist, ist unzureichend. Sie kann - angesichts des Ausmaßes des Verbrechens - kaum mehr als eine symbolische Entschädigung sein. Aber selbst wenn ein Betrag aufgebracht werden könnte, der den realen materiellen Verlusten der Opfer entspräche, würde sie nicht ausreichen. Menschliches Leid kann nicht durch materielle Zuwendungen ausgeglichen werden.
Noch wichtiger für die aktive Heilung ist die politische Wiedergutmachung. Mit ihr haperte es, soweit es um den Staat Israel ging, lange Zeit: Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel schob die Adenauer-Regierung lange hinaus, um die "ökonomisch wichtigen" Beziehungen zu den arabischen Staaten nicht zu belasten. Erst 1965 wurde Israel durch die Bundesrepublik diplomatisch anerkannt. Ohnehin sollte Israel nicht mit "den Juden" und schon gar nicht mit "den Holocaustopfern" gleichgesetzt werden. Aber immerhin - im Großen und Ganzen ist auch die politische Wiedergutmachung von regierungsamtlicher Seite gelungen. (Von "inoffizieller" Seite kann man das leider nicht immer behaupten.)
Der wichtigste Beitrag zur Heilung ist aber die moralische Wiedergutmachung. Dazu gehört die historische Aufarbeitung - kein nazideutsches Verbrechen darf verschleiert, beschönigt oder unter den Teppich gekehrt werden. In dieser Hinsicht wurde gute Arbeit geleistet. Reue ist ebenfalls wichtig - damit ist natürlich kein Schuldgefühl gemeint, sondern z. B. die Bereitschaft, den Opfern und ihren Erben zuzuhören - damit hapert es manchmal.
Der wichtigste Bestandteil der moralischen Wiedergutmachung ist aber die institutionelle Selbstreform. Die politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Strukturen müssen so verändert werden, dass die deutsche Gesellschaft strukturell so beschaffen ist, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht mehr möglich sind. Das ist im Prinzip eine Forderung an die ganze Menschheit, aber da nun einmal der Holocaust ohne "die Deutschen" - die besonderen Strukturen der deutschen Gesellschaft, aber auch der deutschen Mentalität - nicht denkbar wäre, müssen diese erkannten Strukturen und Mentalitäten verändert werden. Vieles ist bei dieser Selbstreform gelungen - aber vieles ist noch im Argen.

Freitag, 16. Januar 2009

Tierfreundliche Nazis?

Neulich hatte ich ein Deja-Vu-Erlebnis der besonderen Art. Ich hörte einen Spruch, denn ich seit Jahrzehnten nicht mehr gehört hätte, und von dem ich dachte, dass ihn heutzutage außerhalb des politischen Kabaretts und politisch kackbrauner Kreise niemand in den Mund nehmen würde.

Als ich noch ein kleiner Junge war, das ist schon gut 40 Jahre her, da redete meine Oma - oder besser: sie verplauderte sich - über die Nazizeit. Anders als meine andere Großmutter, die sich über die Zeit "damals" keine Illusionen machte, und anders als meine beiden hinsichtlich ihreres Verhaltens in der Nazizeit sehr verschiedenen Großväter plauderte sie naiv den einen oder anderen Propagandaspruch von "damals" nach. Der Spruch von den Autobahnen, die Hitler "erfunden" hätte, wurde jedesmal besonders peinlich aufgenommen. Und regelmäßig kam der Spruch, dass die Nazis sich als erste so richtig um die Tiere gekümmert hätten und die besten Tierschutzgesetze der Welt erlassen hätten.

Zur Verteidigung meiner längst verstorbenen Großmutter muss ich erwähnen, dass ihre Äußerungen einer Mischung aus politischer Naivität und einer beginnender paranoiden Schizophrenie entsprangen, an der sie später auf tragische Weise erkrankte: Bruchstücke der Nazi-Ideologie passten zu ihrer immer stärker werdenden Angst vor gegen sie gerichteten Machenschaften.

Hingegen sind die Tierrechtler, mit denen ich mich unterhielt, wahrscheinlich nicht paranoid im klinischen Sinne, sie wirkten auch nicht naiv, und wie "klassische" Neonazis wirkten sie auch nicht - eher wie menschen- und tierfreundliche Spät-Hippies. Mit Hitler hatten sie allenfalls den Vegetarismus gemein.
Deshalb war ich über das große Lob für den "vorbildlichen Tierschutz der Nazis" doch leicht verwundert. Besonders erstaunlich aus dem Munde eines vegan lebenden Menschen fand ich das Lob für das Nazi-Verbot des "tierquälerischen" Schächtens (das andere Schlachtmethoden, auch brutale, ausdrücklich zuließ).

Das Schächten von Tieren - also das Schlachten mittels Durchtrennung der Halsschlagader, wie es Judentum und Islam vorschreiben - war schon im April 1933 verboten worden. Das Verfahren wirkt brutal, ist es aber nicht: korrekt ausgeführt, ist es ein da Leid des Tieres gering haltendes Verfahren. Der Schnitt muss durch Hin- und Herfahren ohne Druck und ohne die geringste Unterbrechung mit einem rasiermesserscharfen, glatten und schartenfreien Messer ausgeführt werden. Der Tod tritt innerhalb von 3-4 Sekunden ein. Das Tier muss, gemäß den religiösen Vorschriften, vollständig ausbluten.
Obwohl sachgemäßes Schächten also keineswegs grausamer ist als andere Schlachtmethoden, ist es immer noch unter Tierschützern umstritten, und in Deutschland nach wie vor nur mit Ausnahmegenehmigung möglich.
Unter Antisemiten und Moslemfressern ist das "grässliche Tieropfer" nach wie vor ein beliebtes "Argument".

Dass historische Sensibilität nicht gerade zu den Stärken radikaler Tierrechter zählt, ist spätestens seit der berüchtigten Werbekampagne der Tierrechtler von "PeTA" bekannt, die 2004 Massentierhaltung und Holocaust gleichsetzte ("KZ-Hühner").

Aber auch bei den weniger radikalen Tierfreunden gilt das Reichstierschutzgesetz von 1933 nach wie vor als Meilenstein des Tierschutzes. In der Bundesrepublik blieb es bis 1972 unverändert in Kraft - einschließlich seiner Präambel, in der es hieß:
Die überwältigende Mehrheit des Deutschen Volkes hat schon lange das Töten ohne Betäubung verurteilt, eine Praxis, die unter Juden allgemein verbreitet ist.
Darüber, dass Menschenfeindllichkeit und Tierliebe bei den Nazis so gut zusammengingen, haben sich sich seit 1933 zahlreiche humanistische Denker die Köpfe zermartert. Zum Beispiel die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, anfangs der 1940-er Jahre in ihrer berühmten "Dialektik der Aufklärung". Sie erkannten, dass die Nationalsozialisten ihren Hass gegen Menschen als Barmherzigkeit gegen die Tiere verkleideten.
Das bedeutet, dass die "Tierliebe", anders als mutmaßlich bei den meisten Tierschützer, bei den Nazis nur eine sekundäre Erscheinung war. Was übrigens nicht bedeutet, dass die Tier- und Naturfreundlichkeit der Nazis nur gespielt war, schließlich wurzelte die "Bewegung" auch im "völkischen" Zweig der Lebensreform.

Adorno und Horkheimer erkannten, dass hinter der betonten Kinder- und Tierfreundlichkeit der "Faschisten" (womit sie in erster Linie Nazis meinten) wohl mehr steckte als der alter Werberspruch "Kinder und Tiere gehen immer":
Das lässige Streicheln über Kinderhaar und Tierfell heißt: die Hand kann vernichten. Sie tätschelt zärtlich das eine Opfer, bevor sie das andere niederschlägt, und ihre Wahl hat mit der eigenen Schuld des Opfers nichts zu tun. Die Liebkosung illustriert, dass alle vor der Macht dasselbe sind, dass sie kein eigenes Wesen haben. Dem blutigen Zweck der Herrschaft ist die Kreatur nur Material.
Auch das Engagement der Nazis gegen Tierversuche war tief vom Antisemitismus durchdrungen - Tierversuche als Ausdruck und Symbol "jüdischer" Wissenschaft:
Weißt Du, dass Dein Führer schärfster Gegner jedweder Tierquälerei, vor allem der Vivisektion, der wissenschaftlichen Tierfolter ist, dieser entsetzlichen Ausgeburt der jüdischen Schulmedizin?
(Aus der Propagandazeitschrift "Die Weiße Fahne", zitiert nach Tierliebe Menschenfeinde.) Tierquälern drohte Hermann Göring mit Konzentrationslager - und das war keine leere Drohung. "Selbstverständlich" galt das nicht für "kriegswichtige" Forschungsprojekte, die ohne weiteres auch mit einer großen Anzahl an Tierversuchen durchgeführt wurden.

Eine besondere Rolle im "Tierkult" der Nazis nahmen Hunde ein, "natürlich" besonders die "Gebrauchs-" und "Diensthund"-Rassen, allen voran der Deutsche Schäferhund. Nicht nur Hitler, Himmler und Göring liessen sich gern als Hundefreunde präsentieren (auch wenn viele der Filmaufnahmen, die Hitler mit seiner Schäferhündin Blondi zeigten, eher die Unbeholfenheit des Diktators dokumentierten). Heiko Gebhardt schrieb im damals Aufsehen erregendem Buch "Du armer Hund", in dem der engagierte Hundefreund 1978 die heile Welt der deutschen Hundehalter, -züchter und -vereine kritisch unter die Lupe nahm:
Noch heute schwärmt mancher alte Hundeverbandsfunktionär von der Hitlerzeit, nicht weil er ein unbelehrbarer Nazi wäre, sondern weil es den Hunden und den Verbänden, die dazu gehörten, damals so gut ging. Dem Hund erging es bald schlecht. Im Zweiten Weltkrieg schnallte man ihm Mienen auf den Rücken und hetzte ihn auf feindliche Panzer. Per Fernzündung jagte man ihn dann zusammen mit der Bombe in die Luft.
Dem blutigen Zweck der Herrschaft ist die Kreatur nur Material.

Sonntag, 28. Dezember 2008

Zwischen den Zeilen der Zeitungen steht die Panik

In Deutschland von der Mitte aus betrachtet, herrschen nun oben die Heuschrecken und unten die Sozialschmarotzer, der Kleinbürger sieht oben und unten Gefahren, er sieht die ganze Welt als Feinde.
Cordt Schnibben, "Der seufzende Kleinbürger".

Ich gebe Schnibben recht. Allerdings kommen die "spießigen" Ängste und Vorurteile der sozialen "Mitte" nicht von ungefähr.

Die Abstiegsängste des "Kleinbürgers" sind nachvollziehbar. Seid den Hartz-Reformen steht zwischen der gut bezahlten, angesehenen Stellung und dem Sozialhilfeniveau gerade mal ein Jahr Arbeitslosigkeit. Oder was passiert, wenn ein Kleinunternehmer in Konkurs geht? Es gibt Länder, in denen das halb so wild ist, allerdings gehört Deutschland nicht dazu.

Zu dieses berechtigten ökonomischen Ängsten kommen Ängste, die mutwillig geschürt werden.
Besonders auffällig ist dieser Mutwillen, wenn beispielsweise dieselben Experten, die uns noch vor einigen Monaten von einem anhaltenden Wirtschaftswachstum und einem DAX von mehr als 10000 erzählten, sich heute im Pessimismus überbieten. Immerhin eines bleibt konstant, ob Hochkonjunktur oder Rezession: sie sehen durch zu hohe Lohnkosten den Wirtschaftsstandort Deutschland in Gefahr. (Man kann das natürlich auch völlig anders sehen. Als Nicht-Volkswirtschaftler kann ich zwar nicht beurteilen, wie seriös das ist, allerdings wirkt das, was die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik schreibt, auf mich weitaus plausibler, als die Analysen und Ratschläge etwa des Ifo-Institutes, von Lobbybuden wie der INSM gar nicht zu reden ... )

Die "kleinbürgerliche" Angst vor der "Bedrohung durch Sozialschmarotzer" ist das - vielleicht in vielen Fällen gar nicht so unwillkommene - Nebenprodukt der Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre, insbesondere der Hartz IV-Regelungen, mit der Grundlinie: "mehr Druck auf auf die Arbeitslosen", die sich in "mehr Druck auf die von Arbeitslosigkeit bedrohten" fortsetzt. Dass gerade Boulevardmedien die Angst vor Sozialschmarotzern gerne bedienen, ist meiner Ansicht nach Symptom, aber nicht Ursache, dieser Angst. Allerdings sind die Medien starke Angstverstärker.
Ich bin der Ansicht, dass eine berechtigte Angst medial so kanalisiert wird, dass sie für die Machtelite "ungefährlich" wird - die Angst treibt die Menschen nicht etwa auf die Straße, sondern zu verstärkten Anpassungsleistungen an den Arbeitsmarkt an.

Auch die Angst vor den "Heuschrecken" und "Ausbeutern" ist nicht in erster Linie Produkt profilierungssüchtiger Politiker, geschweige denn das Resultat der Demagogie politischer Extremisten.
Viele der vermeintlichen kleinbürgerlichen Spießer erkennen, dass es nicht nur ein "Unterschichtenproblem", sondern auch ein "Oberschichtenproblem" gibt. Die Angst vor den "Heuschrecken" resultiert aus der Erfahrung kaltschnäuzige Vernichtung Zehntausender von Arbeitsplätzen heraus, aus der desillusionierenden Erkenntnis, dass auch (und gerade) in deutschen Spitzenunternehmen eine Kombination von Größenwahn und Gier, von Korruption und Vorteilsnahme herrscht. Die Integrität und Kompetenz des wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Führungspersonals der Bundesrepublik steht in Frage. Aber auch diese Angst - die Angst vor unfähigen und hemmungslos egoistischen "Wirtschaftsführerern" - wird medial kanalisiert. Das Bild der "Heuschrecken" und der "Abzocker" wird sowohl von "links" wie von "rechts" bedient - im Falle von "rechts" und manchmal leider auch von "links" mit fremdenfeindlichen und strukturell antisemitischen Untertönen. Aber auch die Welle der Diskussionen über "Moral in der Wirtschaft" ist meiner Ansicht nach eine Kanalisierung - denn an und für sich ist Eigennutz ja im Wirtschaftsleben eher eine nützliche Eigenschaft.

So nachvollziehbar es auch ist, dass "der Kleinbürger", die "Mittelschicht", sich in einer Welt von Feinden sieht, so politisch gefährlich ist es. Eine wesentliche Ursache des "Rechtsextremismus" sehe ich darin, dass die rechtsextreme Ideologien (ja, es gibt mehrere) für komplexe und schwer durchschaubare Problematiken einfache Modelle anbietet - und für die Ängste identifizierbare "Sündenböcke" zu liefern.

Zwischen den Zeilen der Zeitungen steht die Panik und kriecht dir ins Hirn.

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