Die Schule der Nichtdenker

Wer Talente hat, sollte sie entwickeln und der Welt zeigen

Ansonsten kommt es zu immer stärkeren Frustrationen, schwachem Selbstwertgefühl, depressiven Zuständen, Profilneurose und anderen neurotischen Störungen.
Nicht alles, was Jürgen vom Scheidt auf seiner persönlichen Website schreibt, würde ich unterschreiben. Dieses Zitat jedoch schon.

Vom Scheidts Gedankengänge zur "Hochbegabung" drängten sich mir regelrecht auf, als ich diesen Beitrag auf Klaus Jarchows Stilstand fand: Die Ölprinzen.
Die "Ölprinzen", das sind die "angepassten Gelfrisuren, denen wir zunehmend auf allen Management-Etagen begegnen". Jarchow zufolge ist es hirnphysiologisch erklärbar, weshalb so viele junge Menschen trotz formal hoher Qualifikation, guter Examensnoten und viel abfragbarem Wissen dumm und unflexibel bleiben. (Und, das muss ich an dieser Stelle ergänzen, bei gutem Abschneiden in "Intelligenztests". Ich erwähne das, weil Jarchow offensichtlich von einem breiteren Intelligenzbegriff ausgeht, als jener der Intelligenztests wie dem viel verwendeten "Hamburg Wechsler Intelligenztest für Erwachsene" (HAWIE), zugrunde liegt, in denen z. B. die Fähigkeit, kreativ auf unerwarteten Umstände reagieren zu können, nur im geringe Maße abgefragt werden können.)
Jarchow zufolge ist diese Dummheit, dieses Denken, das buchstäblich keine Alternativen kennt, Folge der "Bildung" (besser vielleicht: Ausbildung und Zurichtung) in ihrer heutigen Form. Es klingt paradox, Bildung kann blöd machen, "je besser und schneller ein Examen abgelegt wurde, desto mehr".
Ein Bildungsmodell, das vom Kindergarten an aufwärts auf schnellen Erfolg und Anpassung an das Bestehende gerichtet ist, und in dem Divergierendes als "Überflüssiger Ballast" ausgemerzt ist, hat Folgen für die Denkfähigkeit. Irgendwann ist das "Erfolgsmuster" des eingleisigen Denkens so verinnerlicht, dass der junge Mensch sich "freiwillig" selbst optimiert, z. B. machen sich Studenten selbst zum passgenauen Firmenfutter - in den meisten Fällen, weil sie glauben, keine Alternative zu haben, wenn sie erfolgreich sein wollen (und auch die Alternative, auf Erfolg zu verzichten, ist für sie buchstäblich un-denkbar). "Ultra-pragmatisch perfektionieren sie ihre Lebensläufe, straff, stur, strategisch" Studenten im Optimierungswahn - Karriere, Karriere, Knick (SpOn)

Unser Bildungssystem bringt also massenhaft "Nichtdenker" hervor - was durch einige "Bildungsreformen" nach Kräften gefördert wird. Nichtdenker als "Untertanen" und vor allem als "Funktionselite" sind bequem. Nichtdenker als politische Entscheider sind gefährlich.

"Talente" sind bei der Sorte Bildung, wie sie den "Ölprinzen" und "-Prinzessinnen" vermittelt wurde, nur dann gefragt, wenn sie sich für die berufliche Karriere, die einzige "realistische" und "alternativlose" Form der "Selbstverwicklichung" instrumentalisieren lassen. Wobei die vom Scheidt dargelegten Probleme, die sich aus dem Nicht-Nutzen von Talenten ergeben, womöglich "gesellschaftlich erwünscht" sind: wer ein schwaches Selbstwertgefühl und eine kräftige Profilneurose hat, der "muckt nicht auf", der "funktioniert".
Noch drängender ist das Problem der nicht entwickelten Begabungen am anderen Ende der sozialen Skala, bei der "Unterschicht". Vielleicht deutet die Beliebtheit der "Talent"- und "Casting"-Shows auf ein starkes Bedürfnis hin, endlich zeigen zu dürfen, was man kann.
Jedenfalls empfinde ich es als bedrückend, dass anscheinend viele "Hochbegabte" ihre Begabung vor allen dazu nutzen, sich anzupassen, "freiwillig" ihre Denkmöglichkeiten einzuschränken, sich "selbst zu optimieren" - und, vor allem bei "Unterschichtlern", sich bemühen, nicht als "hochbegabt" aufzufallen.

Ein Gegenrezept mag das mentale Probehandeln in fiktionalen Räumen sein, wie Jarchow vorschlägt. Damit ist Lesen - auch und gerade das Lesen "schwieriger" und "fremder" Texte - ein wirkmächtiges Instrument der "Intelligenzförderung". Spielen - im Sinne des gerade nicht zielgerichteten kindlichen Spiels - vermutlich auch auch. Die kräftigste Form der mentale Probehandlung ist meiner Ansicht nach aber das kreative Schreiben. (Das im Deutschunterricht praktisch nicht vorkommt - bezeichnenderweise.)
wirrlicht (Gast) - 14. Feb, 08:48

hach ja...

das nennt sich dann methodenkompetenz. und ist ganz wichtig.

im gegensatz zur allgemeinen schulbildungsauffassung bin ich jedoch der meinung, das selbst denken schlau macht.

auf mich hört halt keiner :)

MMarheinecke - 14. Feb, 17:27

Ganz Deiner Meinung!

Klaus Jarchow (Gast) - 14. Feb, 10:39

Danke für die Verlinkung. Ich insistiere schlicht darauf, dass unser Gehirn 'tatsächlich' so funktioniert. Das konstruktivistische Modell ist eben nicht eine Ansicht unter vielen, sondern es ist das, was die Hirnforschung über die Entwicklung menschlicher Intelligenz inzwischen herausgefunden hat. Stromlinienförmige Erfolgsorientierte sind deshalb auf dem Holzweg, weil sie sich 'dummerweise' für intelligent halten, bloß wegen ihrer guten Zeugnisse, die faktisch doch nur zeigen, dass sie den Erwartungen der Altvorderen und den Steinzeit-Theorien entsprochen haben. Sie lassen sich Intelligenz von anderen testieren, statt sie zu nutzen, anzuwenden und so zu beweisen. Sie könnten dies auch gar nicht, weil sie nicht adäquat 'vernetzt' sind. Im praktischen Leben gleichen sie dann, einmal abgefeuert, einer Gewehrkugel, die sich über Alternativen zu ihrem Ziel keine Gedanken mehr machen muss: T.I.N.A.-Menschen - There is no alternative, das Motto aller Dummen, auch derer mit Einserexamen. Ein Prototyp ist vielleicht Guido Westerwelle. Das Motto aller Intelligenten hingegen: There is always an alternative ... und die haben dann auch ein Gehirn, das so strukturiert ist, dass es tatsächlich unter Möglichkeiten wählen kann, weil es dem Inhaber die entsprechenden konkurrierenden 'Metaphern' bereitstellt. Populäre Einführungen zum Thema gibt übrigens George Lakoff, auch wenn der zugunsten der Anschaulichkeit die Wissenschaftlichkeit manchmal vernachlässigt ...

Das Schreiben gleicht übrigens in mancher Hinsicht dem unentwegten Hantieren mit solch konkurrierenden Metaphern, um sie zu etwas Neuem zusammenzufügen.

MMarheinecke - 14. Feb, 17:42

Das würde nebenbei erklären, warum PR-Texte oft so öde sind ...

... und wieso "kreative Spinner" in Werbeagenturen zwar gebraucht, aber insgeheim verachtet werden: Weil die "herrschenden" Ölprinzen / "Entscheider" zwar gelernt haben, dass Kreativität in ihrer Branche wichtig ist, aber selbst keine Vorstellung davon haben, wie kreatives Denken funktioniert. (Ich kenne ziemlich viele Leute aus der Werbebranche, und ich arbeitete vor einigen Jahren selbst in einer Agentur, also ist meine Aussage keine reine Spekulation.)
Wenn eine originelle Idee gebraucht wird, wird sie halt eingekauft: der Kreative ist ein Materialieferant / "Ausführer" und "geistiges Eigentum" ist ein (nachwachsender) Rohstoff, etwas Statisches. Damit hätte ich auch den Bogen zum Dauerthema "geistiges Eigentum" und "Raubmordkopien" geschlagen.
Klaus Jarchow (Gast) - 15. Feb, 09:36

Richtig - sie haben die Vorstellung, dass sie fehlende 'Kreativität', also andere 'Frames', notfalls 'shoppen' könnten, um so neue Möglichkeiten zu erhalten. Daher auch die zahllosen Berater-Geschwader auf allen Management-Etagen. Die aber verkaufen meist auch nur alten Wein in neuen Schläuchen, weil sie ohne Kompatibilität zu festgefügten Denkwelten gar keine Aufträge bekämen. Wer will schon einen Berater, der sagt, man müsse etwas 'ganz anders' sehen ...?
henteaser (Gast) - 14. Feb, 11:12

das(s)

"Die "Ölprinzen", dass sind die "angepassten Gelfrisuren"
"ein Bildungsmodell, dass vom Kindergarten an aufwärts"
"dieses Denken, dass buchstäblich keine Alternativen kennt"

----

Abgesehen davon vielen Dank für Beitrag und Blog.

MMarheinecke - 14. Feb, 17:18

Danke, das korrigiere ich!

Es bestätigt sich wieder einmal: meine eigenen Rechtschreibfehler überlese ich. (Es gibt dafür auch ein psychologisches Erklärungsmodell, von dem ich aber wenig halte.)

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