Donnerstag, 13. Mai 2010

Die deutschen Biedermänner und der brandstiftende Koch

Einen wichtigen und an sich richtigen Beitrag auf "Spon" Kochs Kriegserklärung an die Jugend ergänzt SvenScholz um eine entscheidende Feststellung:
Es ist nicht “die” Jugend, an die diese Kriegserklärung geht, sondern ein bestimmter Teil der Jugend: die Ausländer, die HartzIV-Verliererkinder, die Nichts-Haber-Kinder, die Arbeiterkinder, die Nicht-Akademiker-als-Eltern-habe-Kinder - Kurz alle, die den Blagen der eigenen immer kleiner werdenden aber nach wie vor über das Geld und die Mittel verfügenden Klientel “gutbürgerlich” auf dem immer kleiner werdenden Arbeitsmarkt gut bezahlter Jobs in der Zukunft zur Konkurrenz würden, ließe man ihnen eine Chance auf gute Bildung und Entwicklung.

Es geht einer (Möchtegern-)Elite ausschließlich darum: dem eigenen Nachwuchs Konkurrenz vom Hals halten.
An "Die Jugend"? Nein: An eine "ganz bestimmte Jugend"

Sven zieht ein bitteres Fazit, dem ich nicht widersprechen kann:
Und genau deshalb ist Koch letztlich nur der der die Forderungen ausspricht - es besteht schon längst Einigkeit diese Form des Klassenkampfes von oben nach unten durchzuführen. Genau genommen stecken wir schon seit Jahren mitten drin. Vielleicht sogar schon so lange, dass man sagen muss, dass die sogenannten “bildungsfernen” - besser wäre “von der Bildung entfernten” - Schichten den Kampf schon lange verloren haben.
Wie konnte, obwohl die Anhänger eines "neuen" "Konservativismus" wie die Propagandisten eines radikalen Kapitalismus ohne Bremsen ("Neoliberale") aus ihren Plänen der "Elitenbildung" nie ein Hehl machten, das an der "öffentlichen Meinung" vorbeigehen? Im Gegenteil, die Vertreter von Lobbybuden wie der "Initivative" "neue" "soziale" Marktwirtschaft sprachen und sprechen genau so wie ihre Fans unter den politischen Entscheidern in zahlreichen Talkshows und Leitartikeln aus, was sie wollen, nur schwach durch wohlklingende Hohl-Phrasen getarnt.

Vielleicht gibt ein über 50 Jahre altes "Lehrstück ohne Lehre" eine mögliche Antwort:
"Scherz ist die drittbeste Tarnung. Die zweitbeste: Sentimentalität. Aber die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Die glaubt niemand."
Max Frisch: Biedermann und die Brandstifter

Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Und darum wird, was nicht ins Bild passt, verdrängt.

Ergänzung:
Der wesentliche Denkfehler der "Verschwörungstheoretiker" ist, dass es da eine verborgenen Gruppe von Drahtzieher gäbe, die finstere Ziele verfolgen. Was stimmt: das Weltfinanzsystem hängt im modernen Kapitalismus von einer verhältnismäßig kleinen, mächtigen Gruppe ab, gegen die die "politischen Entscheider" (nicht jeder Politiker ist Entscheider, und nicht jeder Entscheider hat ein politisches Amt) nichts zu tun wagen. Aber das geschieht weitgehend öffentlich.

Im Heft 4/2010 der bild der wissenschaft gab Klaus Wiegant, ehemaliger Vorstandssprecher des Großkonzerns Metro AG und nach seinem "Ausstieg" Gründer der Stiftung Forum für Verantwortung, ein aufschlussreiches Interview. Darin heißt es zur andauernden Finanzkrise:
(...) [Frage:] Öffentliches Geld hat das System genug verschlugen.
Um das Wirtschaftssystem vor dem Zusammenbruch zu schützen, wurden wir alle zur Kasse gebeten. Die Verluste wurden sozialisiert. Dabei gibt es Riesengewinner im Weltspielcasino. Doch von ihnen spricht niemand.
Wer gehört denn beispielsweise zu den Gewinnern?
Die Eliteuniversitäten der USA: Harvard, Yale, Stanford. 2003 verfügte Harvard über 18 Milliarden Dollar Stiftungskapital. Ende 2007 war das auf 38 Milliarden gestiegen. Die Universität hat also bei der Anlage ihres Stiftungskapitals in diesem kurzen Zeitraum ihre Mittel mehr als verdoppelt und rund 18 Prozent Jahresrendite gemacht. Das geht nur, wenn man in diesem Weltspielcasino mitzockt. Übrigens betrug das Stiftungskapital von Harvard selbst Mitte 2009 noch 26 Milliarden Dollar.
"Eliteunis" sind nicht auf öffentliche Mittel angewiesen (noch nicht einmal auf Studiengebühren, weshalb z. B. Harvard auch relativ großzügig talentierte Studenten aus nicht privilegiertem Haus fördern kann - wohl gemerkt: handverlesene Studenten), sie kratzt deshalb die Einschränkung des öffentlichen Bildungswesen nicht - was übrigens auch auf Elite-Privatschulen zutrifft.
Da die künftigen "Entscheider" aus diesen Bildungseinrichtungen hervorgehen - tatsächlich ist ein Abschluss dort die "Eintrittskarte" zur "Funktionselite" - stabilisiert sich das System selbst. Es wird umso stabiler, je enger das Bildungsoligopol der Eliteunis wird. Also ist es, aus der Perspektive eines Politikers, dessen "Hausmacht" sich auf seine guten Beziehungen zur wirtschaftlich Starken stützt, "sinnvoll", die öffentlichen Unis und Schulen "auszuhungern".

Ergänzung 17. Mai:
Auch Frank Schirrmacher hat erkannt, was Koch da macht:
Er ist ein Meister der Zielgruppendemokratie, und er hat ein Gespür für Mehrheitsmeinungen, die sich so lange nicht trauen, Meinung zu sein, ehe einer nicht den Aufreger spielt.
Allerdings vermutet Schirrmacher, dass die "Zielgruppe" die älteren Wähler seien, die "ihre" Ausbildung und die ihrer Kinder längst hinter sich hätten.

Angriff auf die Zukunft - Roland Kochs Wette

Montag, 10. Mai 2010

Die wirklichen Ergebnisse der NRW-Wahl

Traurig, aber wahr:

PDN *) 40,7 Prozent
CDU 20,5 Prozent
SPD 20,5 Prozent
Grüne 7,2 Prozent
FDP 4,0 Prozent
Linke 3,3 Prozent
Andere 3,8 Prozent

*) PDN - Partei der Nichtwähler

Wobei ich es niemandem verdenken kann, der nicht wählen ging, da die halbwegs vernünftigen Parteien entweder mit ihrer Selbstdemontage beschäftigt sind (Piraten, Linke) oder im wachsenden Maße ihre eigenen Werte nicht mehr Ernst nehmen (Grüne).

Nachtrag an die hier mitlesenden Liberalen (bin ich ja irgendwie auch - linksliberal mit gewissem Hang zum Anarchismus):
Die FDP hat das, was die Grünen machen, schon lange hinter sich. Sie sind schon seit Jahren keine "Bürgerrechtspartei" mehr, sondern nur noch eine Partei, in der es einzelnen Bürgerrechtler gibt.
Ja, und die Linke ist immerhin eine demokratische Partei - möglicherweise innerparteilich demokratischer organisiert als die CDU. Und auffällig viele Gewerkschaftler und ehemalige SPD-Angehörige, durchaus linksliberalen Zuschnitts, sind nun bei den Linken. Bestimmt nicht wegen, sondern eher trotz der "kommunistischen Plattform" und der DDR-Nostalgiker in dieser Partei.

Nachtrag vom 14. Mai zu den "Grünen" und ihrer angeblichen Prinzipientreue:
Erfolgsrezept der GRÜNEN: Vergessen machen

Samstag, 8. Mai 2010

Warum ist der tibetische Buddhismus "in"?

Viele Sozialwissenschaftler und noch weitaus mehr Politiker, Publizisten und - unvermeindlicherweise - Kirchenvertreter reden gern von einer "Rückkehr der Religionen". Allerdings geht diese angebliche "Rückkehr" hierzulande an den großen christlichen Kirchen vorbei. (Auch wenn die jüngste dramatische Austrittswelle aus der römisch-katholischen Kirche am allerwenigsten mit einer "Abwendung vom Christentum" zu tun haben wird. Ich vermute, dass viele Katholiken nun austreten, gerade weil diese Kirche die Werte, die sie predigt, offensichtlich nicht lebt. Wobei, das sei mir als Heide erlaubt, der "Fisch" vom Kopf her stinkt - aber gewaltig! Ich verstehe, dass Menschen, die die christliche Ethik - oder überhaupt eine Ethik - ernst nehmen, es in diesem scheinheiligen Verein nicht mehr aushalten.)

Die "Rückkehr der Religion" ist eben keine Renaissance "des Glaubens" in seiner bekannten und gewohnte Form. Die, vor allem und im Besonderen in Deutschland, auf eine enge Verfilzung von Staat und "offiziellen" Kirchen gegründete bestehende Ordnung verfällt nach wie vor. Nicht erst seitdem moderne Verkehrs- und Kommunikationsmittel die "Globalisierung" vorantreiben, löst sich die früher üblichen Einheit von "Nation", "(Leit-)Kultur" und "(Volks-)Religion" auf: dieser Prozess begann schon in der Aufklärung und in der Romantik, vor über 200 Jahren. Seit dieser Zeit ist es nicht mehr selbstverständlich, dass es ein quasi "natürliches" Religions- und Spiritulatitätsmonopol der am Ort vorherrschenden Kirche gibt, obwohl es zuerst nur Intellektuelle und Künstler waren, die die freie Religionswahl auch wirklich praktizierten. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist das ein Massenphänomen.
Da seitdem viele Menschen sich nicht mehr an die traditionellen religiösen Milieus gebunden fühlen, in die zufällig hineingeboren wurden, begannen spirituell interessierte Menschen und andere Sinnsucher, sich ihre eigene "Religion" zu konstruierten. Kritiker, vor allem aus dem kirchlichen Umfeld, sprechen gerne abwertend von "Patchwork-Religionen" und einem "spirituellen Supermarkt".(Obwohl auf Teile der "Esoterik-Szene" das Bild eines letztendlich kommerziell orientierten Marktes auch meiner Ansicht nach zutrifft.)
Damit gibt es etwas Ungewohntes: Konkurrenz zwischen "Transzendenzanbietern". In den USA gibt es diese "Kirchenkonnkurrenz" schon lange, was nicht nur zur, auf der positiven Seite, zu einer enormen religiösen bzw. weltanschaulichen Vielfalt führte, sondern auch zu so fragwürdigen Erscheinungen wie quasi kommerziellen Kirchen und dem Vormarsch der Fundamentalisten.

Im "Westen" sind neben den evangelikalen "Fundies" es vor allem die Buddhisten, vor allem der tibetischen Richtung, die sich besonders gut auf dem "Religionsmarkt" behaupten. Dafür kann man viele mögliche Gründe anführen, für die die charismatische und sympathische Persönlichkeit des Dalai Lama nicht der Unwichtigste sein dürfte. Auch der Widerstand gegen die chinesische Okkupation Tibets und der Respekt vor der trotz allem pazifistischen Haltung der Exilregierung trägt sicherlich zur Beliebtheit des tibetischen Buddhismus bei. Auch die (scheinbare) Kompatibilität zwischen tibetischem Buddhismus und "westlicher" Esoterik, vor allem der "theosophischen" Richtung spielt beim "Buddhismusboom" eine wichtige Rolle.

Aber vielleicht sind auch bei erwachsenen "Sinnsuchern" solche Kriterien entscheidend:
Herzdamengeschichten: Sohn I und die Religionen
In dem Tibetladen bei uns um die Ecke hängen geschnitzte Dämonenmasken an der Wand, fürchterliche Fratzen. Sohn I steht beglückt davor und sagt anerkennend: „Monster!“ Jeden Morgen bleibt er auf dem Weg zur Kita kurz bei dem Laden stehen und staunt verträumt lächelnd sein Lieblingsmonster an. Monster sind nicht zu schlagen, etwas Tolleres kann es gar nicht geben. Außerdem gibt es Rasseln in dem Laden, Rasseln mit sehr vielen Glöckchen dran, und auch kleine Steinfiguren, die richtige Elefanten darstellen, mit vier Beinen, wie es sich gehört. Und wenn der Laden geöffnet ist, dann stehen metallene Zierdrachen davor, auf denen man reiten kann, zumindest wenn der Inhaber gerade nicht guckt. Der Sohn liebt diesen Laden. Monster! Elefanten! Drachen! Mit anderen Worten, die anderen Religionen können einpacken.

Freitag, 7. Mai 2010

"Wissenschaftliche" Studien ohne Wert - warum werden sie geglaubt?

Im Beitrag Marginalie zu Kopp etc. - Wer glaubt "so einen Unsinn"? machte ich mir Gedanken darüber, wieso haarsträubende "Weltverschwörungstheorien", durchsichtige pseudowissenschaftliche Behauptungen und plumpe Sensationsmeldungen geglaubt werden.

Ein besonders problematischer Sonderfall sind obskure "wissenschaftliche Studien", die an und für sich ohne große Mühe als manipulative Junk Science oder als Pseudowissenschaft entlarvt werden könnten - aber nicht entlarvt werden.

Ein aktuelles Beispiel:
Nicht nur die Tagespresse samt dazugehörigen online-Medien, sonder selbst an sich seriöse Wissenschaftsportale wie wissenschaft.de brachten vor einigen Tagen die Meldung: Lachen als Therapie gegen Appetitlosigkeit. Lachen sollt die Konzentration von appetitfördernden Hormonen im Blut auf ähnliche Weise wie körperliche Übungen steigern. Das hätten US-Forscher der Loma Linda Universität in einer Studie herausgefunden, in der sie den Teilnehmern lustige Filmausschnitte zeigten. Nicht nur das: Lachen soll Stress reduzieren, das Immunsystem stärken, den Cholesterinspiegel senken und den Blutdruck reduzieren.

Die Pressemitteilung des "Experimental Biology Meeting" in Anaheim, Kalifornien, auf der der Hype beruht, verrät beim genaueren Hinsehen einige ernüchternde Fakten: Study Finds Body’s Response to Repetitive Laughter is Similar to The Effect of Repetitive Exercise.
Die sensationellen Erkenntnisse basieren nämlich auf einer Studie mit gerade einmal 14 Probanden, die sich über drei Wochen Ausschnitte aus lustigen oder dramatischen Filmen ansahen, und deren körperliche Reaktionen anschließend gemessen wurden.
Der wissenschaftliche Wert dieser Mini-Studie dürfte gering sein. Selbst wenn ihre Ergebnisse zuträfen, wären sie alles andere als sensationell, denn dass Lachen das körperliche Wohlbefinden verbessert, ist seit dem Altertum bekannt.

Trotzdem haben viele große Medien darüber berichtet. Warum?
Ich vermute, außer mangelhafter Recherche (in diesem Falle hätte es genügt, sich die Pressemeldung aufmerksam durchzulesen), liegt das daran, dass diese triviale Studie an einer der größten medizinischen Hochschulen der USA stattfand und die Ergebnisse, gerade weil sie eher banal sind, plausibel wirken.
Dass die Loma Linda University eine Einrichtung der Seventh day Adventists spricht zwar nicht unbedingt gegen die Seriosität der dort betriebene Forschung. Religionsausübung und Heilkunde gehören aber bei den Adventisten unmittelbar zusammen, was schon bei Fragen der gesunden Lebensführung dazu führen könnte, dass "religiös unpassende" Forschungsergebnisse unter den Tisch fallen könnten. Als Fundamentalisten lehnen sie z. B. die Evolutionstheorie strikt ab, was bei der medizinischen Grundlagenforschung durchaus von Bedeutung sein kann.

Ein weitere aktuelles Beispiel: die Widerlegung des "Mozart-Effektes" - der Hypothese, dass sich das räumliche Vorstellungsvermögen durch das Hören klassischer Musik, insbesondere der Musik von Wolfgang Amadeus Mozart, verbessert.
Mozart-Musik macht doch nicht schlauer
Das Erstaunliche ist nicht, dass diese Hypothese jetzt widerlegt wurde, sondern, dass sie so lange von so vielen, auch sachkundigen, Menschen geglaubt wurde - und auch in erheblichem Maße kommerziell ausgeschlachtet werden konnte.
Hier kommt meiner Ansicht nach ein weiterer Faktor ins Spiel: Wunschdenken. Mozarts Musik als Wundermittel zur Steigerung des IQ von Kindern - so "einfach" ist das.

Weitaus bedeutsamer als nachlässige oder pseudowissenschaftliche "Studien" sind allerdings nicht offensichtliche wirtschaftliche Interessen hinter scheinbar unabhängigen Studien Arzneimittelstudien: Manipulierte Ergebnisse durch Pharma-Sponsoring (Forschung & Lehre), Medizin am langen Arm der Krankheitsindustrie (faz.net). Der weitgehend unkritische Umgang der Medien schon mit leicht durchschaubaren "Schrottstudien" lässt hinsichtlich lancierter manipulierter Studien Schlimmes befürchten.

Montag, 3. Mai 2010

Persönliche Etappen: 1974 - Sommer der Wandlung

Oder: Das Jahr, in dem ich der Göttin begegnete.
Ich werde, von Freunden und anderen, hin und wieder gefragt, wie ich denn zum "Neuheidentum gekommen" wäre, bzw. wie mir Ásatrú zustieß - also, um es etwas pathetisch zu formulieren, fragen sie nach meinem "spirituellen Weg".
Beim Versuch, meinen Weg zu schildern merkte ich schnell, dass H. R. Kunze recht hatte, als er damals sang: "Eigene Weg sind schwer zu beschreiben, sie entstehen ja erst beim Geh'n".
Ein weiteres Problem: wie schildere ich meinen Weg so, dass es persönlich ist, aber nicht die Privatsphäre der vielen Menschen, die mich auf meinem Weg begleiteten und der Menschen, die mir Steine in den Weg legten, verletzt?
Also keine kurzgefasste spirituelle Autobiographie, sondern Skizzen fünf markanter Etappen auf meinem Weg.


1974 - das ist ein Jahr, über dessen Sommer ich vor gut vier Jahren schon einmal bloggte. Vor vielen Sommern - 1974. Liest man diesen alten Blogbeitrag, könnte der Eindruck entstehen, dass ich mich in diese Zeit zurücksehnen. Tatsächlich ist es aber so, dass ich um nichts in der Welt noch einmal 12 Jahre alt sein möchte. Sommer der Wandlung, das war auch die nicht unbedingt angenehme Erfahrung der Pubertät. Es war auch die Zeit, in der ich erstmals wirkliche "Schulprobleme" hatte, in der ich abwechselnd aufsässig und nachgiebig bis unterwürfig war. Ganz normal - oder auch nicht. Denn irgendwie war ich "anders". Heute würde man mich wohl als "jungen Nerd" bezeichnen, damals "komischer Vogel" oder, mit boshaftem Unterton "kleiner Professor". (Was von Erwachsenen meistens als "Verhaltensstörung" beschrieben wurde - aber das ist so eine dieser Sachen, in der Details die Netzöffentlichkeit nichts angehen.)
Erst recht nicht will ich noch einmal in der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 1974 zwölf sein.
Nun war die BRD bestimmt nicht das scheußlichste Land der Erde, und 1974 kein sonderlich scheußliches Jahr, im zeitgeschichtlichen Vergleich schneidet es sogar ganz gut ab. Wenn man mitten drin steckt, sieht das aber anders aus.

"'68" war schon sechs Jahre her, und der Amtsantritt der Regierung Willy Brandt (der 1974 über die Guillaume-Affäre gestolpert wurde) lag auch schon fast fünf Jahre zurück. Ein Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft der frühen 1970er war bunt, experimentierfreudig, weltoffen, aber auch, wie manche "68er", ein wenig selbstgerecht - der "große Rest" scheint mir im Rückblick ziemlich konservativ im schlechten Sinne gewesen zu sein. Miefig, spießig, ängstlich. Natürlich machte ich mir in diesem Alter darüber noch keine Gedanken - aber ich spürte es, vor allem im Kontrast zu Dänemark, wo ich 1974 trotz "durchwachsenem" Wetter herrlichen sechs Ferienwochen verbrachte. Es herrschte dort ein tolerantes, heiteres und kinderfreundliches Sozialklima, das sich angenehm von den deutschen Verhältnissen unterschied und auch auf deutsche Urlauber abfärbte. (Nun wird vielleicht auch klar, wieso so viele Menschen meiner Generation begeisterte Skandinavienfans sind. Da wirken oft wohl auch angenehme Ferienerlebnisse nach.)
Christian Rickens schrieb in seinem Buch "Die neuen Spießer", was für ein verkorkstes Land die Bundesrepublik der Wirtschaftswunderzeit gewesen wäre. Er schrieb z. B.:
Ein Land, in dem es draußen nur Kännchen gab, in dem man Beatmusik nur nach vorherigen Warnhinweisen im Fernsehen sendete.
Der Satz trifft meine Erinnerung an das Land meiner Kindheit ziemlich genau, denn von den politischen und gesellschaftlichen Missständen, die das verkorkste Land vor allem ausmachten, bekam ich als Kind ja nichts mit. Sehr wohl aber jene bizarren Sitten, wie die, dass man auf der Terrasse eines Cafés seinen Kaffee (oder in meinem damaligen Alter eher: Kakao) grundsätzlich nur im Kännchen serviert bekam, auch wenn man nur Durst auf eine Tasse hatte. Warum? "Das macht man eben so!" - "Das haben wir immer schon so gemacht!"- "Das wird schon seine Gründe haben!"
Sehr viele Dinge, die ich nicht mochte und nicht verstand, wurden so "begründet". Ich merkte aber, dass sich das änderte - für einen nerdigen Pubertätsbengel natürlich viel zu langsam.
Um auf "draußen gab es nur Kännchen" zurückzukommen: 1974 war gar nicht so einfach war, im Café oder Restaurant draußen zu sitzen. Im Erdkundeunterricht rätselten wir, warum in Paris die Cafés und Bistros Tische und Stühle auf die Straße stellten, und warum das in Hamburg nicht üblich war. Lag das am Wetter? Wohl kaum. An den breiten Straßen in Paris? Aber warum gab es nicht mal in den neu eröffneten Fußgängerzonen Straßencafés? Wir fanden keine Antwort. Aber wir fanden Straßencafés bei gutem Wetter toll (das Wort "geil" kam erst später in Mode). Wir waren nicht die Einzigen, weshalb es sie einige Jahre später auch bei uns gab. Zum Klassenfest wollten wir grillen. Wir erkundigten uns danach, wo man in Parks eventuell grillen dürfte und waren über die Auskunft, dass das grundsätzlich erlaubt wäre (unter Beachtung einiger Vorsichtsmaßregel und wenn wir niemanden belästigen) völlig überrascht. Wir gingen wie selbstverständlich davon aus, dass "man" nicht "so einfach" in der Öffentlichkeit grillen dürfte. (Daher ist es auch logisch, dass es dann anders sozialisierte Einwanderer waren, die sich als "Parkgrillpioniere" hervortaten.) Sich als "Rebell" zu fühlen oder "Mutproben" zu machen, war damals (noch) relativ einfach: es gab noch viele Dinge, die "man" nicht "durfte", die aber nicht tatsächlich verboten waren. Aber das änderte sich rasch - was von Konservativen als "Werteverfall" beklagt wurde (und von "68er-Bashern" wie dem Historiker Paul Nolte immer noch wird). So viel zum "zeitgeschichtlichen Hintergrund".

Da es ja hier um meinen "spirituellen Weg" (oder so etwas in der Art) gehen soll, ist es vielleicht nicht unwichtig, zu wissen, wie der zwölfjährige Martin es denn mit der Religion hielt. In einem Satz: Ich hielt überhaupt nichts. Nicht, dass ich Atheist gewesen wäre - das hätte eine gewisse Auseinandersetzung mit der Religion erfordert - es war einfach egal. Meine Eltern waren nicht religös, meinen Vater habe ich aus der Zeit, obwohl er ständig über die Kirchen meckerte und folglich auch nicht Mitglied in so einem Verein war, nicht als kämpferischen Atheisten in Erinnerung. Ich nahm brav am Religionsunterricht teil, aber es war schon klar: Konfirmieren lassen würde ich mich nicht. Jugendweihe wäre aber auch nicht meine Sache gewesen. Der Gott der Kinderbibel wurde für mich kurz nach dem Osterhasen und kurz vor dem Weihnachtsmann unglaubwürdig.
Die "Erwachsenenbibel" fand ich aber teilweise ganz spannend - obwohl ich fand, dass dieser J'h'w'h oder wie der Typ hieß, ein eher unangenehmer Bursche war. (Nein, auf die Idee, das antisemitisch zu deuten, kam ich zum Glück nicht - oder ich hatte das Glück, dass mich niemand auf diesen damals wohl für mich naheliegenden bösen Trip schickte.)
Ich hatte es sowieso mit mythologischen Texten, wenn auch vorerst nur in "jugendgerechten" Nacherzählungen und als "Götter- und Heldensagen" deklariert. Da gab es auch ein paar sympathischere Götter - auch wenn sie für meinen Eindruck, jedenfalls in den Nacherzählungen, zu "menschlich" geschildert wurden. Auch wenn sie menschliche Gestalt annehmen können, wollte ich sie nicht als bloße "Superhelden" wie etwa "der mächtige Thor" in den Marvel-Comics sehen. (Superheldencomics las ich leidenschaftlich gern - vielleicht gerade weil mein Vater und einige meiner Lehrer diesen "Schund" hassten, sie aber, weil ich ja auch richtige und ordentliche Bücher las, nicht den üblichen Spruch "lies lieber was Anständiges" anbringen konnten. Am coolsten fand ich Batman und Spiderman. Finde ich genau genommen noch immer.)

Ich hatte also einiges mythologisches Halbwissen, als ich während jener Klassenfahrt nach Ostholstein im Spätfrühjahr 1974 eine "mystische Offenbarung" oder eine "Erscheinung" hatte. (Und damit meine ich nicht etwa die Tatsache, dass wir "Zaungäste" im Trainingslager der Fußballnationalmannschaft in der benachbarten Sportschule Malente waren. Was heute wahrscheinlich nicht mehr möglich wäre - über die laut damaliger Presse "strengen Sicherheitsmaßnahmen" würden heutige Berufsparanoiker Sicherheitsexperten nur mit dem Kopf schütteln.)

Als etwas einzelgängerischem und sehr labilen (sogar für die Verhältnisse in diesem labilen Alter) Jungen ging mir das enge Zusammensein mit den Klassenkameraden nach einige Tagen auf die Nerven. An einen Nachmittag, der sonst nicht "verplant" war, ging ich daher allein im Wald spazieren. Irgendwo im Wald spürte ich eine gewaltige Präsenz und große Macht. (Sorry für den wenig originellen Eso-Jargon, aber das trifft es noch am Besten.) Ich setzte mich hin und fiel spontan in einen Zustand, von dem ich erst später wissen würde, dass er einer leichten Trance entsprach. Ich fühlte mich - gerufen und berufen, und zwar auf sehr freundschaftliche Art. Dann hatte ich etwas, dass ich vielleicht als Äquivalent einer "Marienerscheinung" bezeichnen könnte. Eine sehr real wirkende, aber zugleich "überirdische" Erscheinung. Nur war das bei mir nicht die Jungfrau Maria, sondern eine andere "Jungfrau", eine Göttin. Sie stellte sich als Pallas Athena vor - die bei den Römern Minerva genannt würde. Als ich sehr viel später auf Lucius Apuleius Metamorphoses ("Der goldene Esel") stieß, merkte ich, dass das Aussehen der Göttin und ihr Auftreten sehr stark seine Beschreibung der Erscheinung der Göttin Isis erinnerte. (Karan hat die Rede der Isis aus den "Metamorphoses" sehr stimmungsvoll vertont - übrigens ohne von meinem Erlebnis zu wissen: luna.) Nein, die Metamorphoses kannte ich damals noch nicht.
Was habe ich das erlebt? Ich weiß es nicht. Ich habe gut 20 Jahre lang versucht, eine "rationale" Erklärung zu finden - und einige weniger "rationale". Tatsächlich fürchtete ich sehr, verrückt zu sein - im Sinne eines schizophrenen Schubes (obwohl ich diesen Ausdruck damals natürlich noch nicht kannte). Erst Jahre später erfuhr ich, dass an und für sich solche Visionen, wie ich sie damals zum ersten Mal hatte, für Tiefenpsychologen nichts Ungewöhnliches sind, und nicht unbedingt etwas mit schweren Störungen zu tun haben müssen. C. G. Jung sah in solchen Visionen nicht unbedingt schizophrene Wahnideen; sie seien eher der klassische Ausdruck fortschreitenden Selbstfindung.
Leider wusste ich noch nichts von C. G. Jung oder Tiefenpsychologie: Wer "spinnt", der ist eben schwer krank und nicht zurechnungsfähig. Ich hatte furchtbare Angst, den Verstand zu verlieren - obwohl mich die Göttin der Weisheit ausdrücklich ermutigte, mich meines Verstandes zu bedienen.
Ich schreibe das in der Hoffnung, dass niemand bei mir eine Psychose ferndiagnostiziert. Dass ich "irgendwie verrückt" bin, gebe ich allerdings zu.

Meine Vision behielt ich für mich. Aber ich erlebte etwas, dass in Esoterikerkreisen "Channeling" genannt wird - "Durchsagen" der Göttin. Ich schrieb dass, was mir übermittelt wurde, rasend schnell auf - leider ziemlich unleserlich. Außerdem begann ich, antike Tempel - vorzugsweise im dorischen Stil - zu zeichnen. Leider hat die Zeichnung einer "idealen" Akropolis die Zeit nicht überlebt, leider, denn einige Architektur-Studenten, die sinnvoll-zufälligerweise in der selben Jugendherberge waren, zeigten sich erstaunt über die Qualität meines Entwurfes. Später zeichnete ich noch einen ganze Reihe antiker Tempel, aber die besondere Qualität dieser "inspirierten" Zeit erreichten sie nicht mehr. Interessantes Detail: ab dieser Zeit stellte ich mir antike Tempel und antike Statuen nicht mehr marmorweiß, sondern farbig bemalt vor. Ich war sehr erstaunt, als mir eine Architekturstudentin das bestätigte.
Wie ging ich damit um? Ich habe nicht zufällig das noch ziemlich engstirnige geistige Klima dieser Zeit beschrieben. Esoterik war damals etwas für "ausgeflippte Hippies" und in meiner Vorstellungswelt gab es damals nur die Alternativen "Christentum" oder "Atheismus" - und sonst nichts. (Es gab noch einige Moslems in meiner Umgebung, aber den Islam nahm ich damals als eine etwas exotische Abart des Christentums war, bloß ohne die mir sowieso nie einleuchtende Dreieinigkeit. Dann schon lieber gleich eine Götterdreiheit - ich deutete also das Christentum als insgeheim polytheistisch.) Wobei "atheistisch" für mich lange Zeit gleichbedeutend mit "vernünftig" war - trotz leiser Proteste der Göttin der Weisheit.

Ich schuf mir eine "Tarnung" für meine mystischen Erfahrungen (es kamen noch mehr dazu) und um mein daraus resultierendes verstärktes Interesse an heidnischen Gottheiten zu kaschieren. Als Science-Fiction-Fan kannte ich die Behauptungen Erich von Dänikens zur Prä-Astronautik - und es gab tatsächlich in meiner Umgebung einige Prä-Astronautik-Fans. Also las ich die Bücher von Dänikens. Es war zwar seltsam, die Götter (von deren Existenz ich tief in mir drin von da an überzeugt war) als "Astronauten" zu deuten, aber es wurde zwar belächelt, aber akzeptiert.

Im selben Jahr, in den lange Campingferien in Nordjütland, hörte ich übrigens zum ersten Mal das Wort "Asatro" (dänische Version von "Ásatrú"). Eine Gruppe dänischer Biker - im Outfit irgendwo zwischen "Hippie" und "Rocker" - übernachtete auf dem Campingplatz. Die bizarr aufgemotzten Motorräder faszinierten mich - und die Biker waren sehr viel freundlicher als ich es aufgrund dessen, was ich von Hamburger Rockern mitbekommen (und gehört) hatte, erwartet hätte. Einer von ihnen war Lederhandwerker und bot wunderschöne verzierte Gürtel und ähnliche Ledersachen zum Verkauf an - bis auf seine Tattoos sah er so aus, wie ich mir einen Wikinger vorstellte und er trug tatsächlich einen Thorshammer. Ich verstand kaum Dänisch, aber ich bekam mit, dass es sich mit einem ziemlich verwundert dreinblickendem dänischen "Normalcamper" über "Asatro" unterhielt. Ich kannte, aus meinen Sagenbüchern, den Namen "Asathor" und vermutete, dass der "Motorradwikinger" über seinen Thorshammer geredet hätte. Erst später verriet mir ein dänischer Junge etwa in meinem Alter, der deutlich mehr Deutsch als ich Dänisch konnte, was es damit auf sich hatte. Das seien neue Heiden, die an die alten Götter glauben würden. Seltsamerweise fühlte ich mich mich durch das Wissen, dass es Menschen gab, die es, wie ich, "mit den alten Göttern" hatten, eher beunruhigt.

Warum erschien mir ausgerechnet Athena? Mein Freund Duke hat wohl recht, wenn er meint, dass die jeweilige Kultur, die einen prägt, sehr selbstverständlich und wie von selbst die Visionen und sonstigen Eindrücke vorformt.
Allerdings entsprach meine Vision nicht gerade der Kultur, in der ich aufgewachsen bin - das Hellenismos-Thema kannte ich bestenfalls als Karikatur. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass ich, wäre ich in einem streng katholischen Rahmen aufgewachsen, die Göttin als "Jungfrau Maria" gedeutet hätte. Warum keine germanische Göttin? Vielleicht, weil Athena genau die Göttin ist, die ich brauche - und die mich, in gewisser Weise, braucht.
Aber diese Erkenntnis - oder wie man es auch nennen mag - erreichte mich erst sehr viel später.

Freitag, 30. April 2010

Medizinjournalismus: Manipulieren für einen guten Zweck?

Die Warnungen vor Hautkrebs zum Anfang der warmen Jahreszeit gehören seit Jahren genau so zum jährlichen medizinjournalistischen Ritual wie die Zecken. Während im Falle der Warnungen vor "dieses Jahr besonders zahlreichen Zecken" (egal, ob der Winter kalt oder mild, trocken oder feucht, kurz oder lang war) und der angeblich "immer größer werdenden Gefahr der FSME" die Nähe zu interessierten Pharmaunternehmen mit den Händen zu greifen ist: Frühlingserwachen der Zecken-Experten (stationäre Aufnahme), stehen hinter den Hautkrebswarnungen keine offensichtlichen wirtschaftlichen Interessen - mit Früherkennung ohne großen apparativen Aufwand lässt sich längst nicht so viel verdienen, wie mit (meist überflüssigen, hin und wieder gefährlichen) FSME-Impfungen.

Trotzdem haben Meldungen wie diese (Zahl der Hautkrebsfälle steigt rasant an. Jedes Jahr erkranken 195 000 Deutsche an Hautkrebs) einen unangenehmen Beigeschmack. Darauf, dass die alarmierenden Zahlen nicht zuletzt auf eine verstärkte Diagnostik zurückzuführen sind, und daher in gewisser Weise ein gutes Zeichen sind, bloggte ich schon mehrmals: Was jeder weiß ..., “Todesurteil für UV-süchtige Teenager“ und Noch eine Horror-Prognose .... Die an sich nahe liegende gute Nachricht - " Hautkrebs wird heute meist schon im frühen Stadium entdeckt" - scheint kaum Nachrichtenwert zu haben.
Interessante Daten und Fakten über den mit Abstand gefährlichsten Hautkrebs, das maligne Melanoms der Haut, dem "schwarze Hautkrebs", erfährt man auf der Website des Berufsverbandes der Deutschen Dermatologen e. V. Zahlen, Daten, Fakten - Malignes Melanom der Haut. Es ist nicht ganz einfach, diese nüchternen Fakten - die jedem Hautarzt bekannt sein sollten - mit den alarmistischen Behauptungen in Einklang zu bringen.
Wobei der Alarmismus nicht einmal vor Lügen haltmacht: Letztes Jahr hieß es im Rahmen der allfrühjährlichen Hautkrebs-Warnsaison:
Untersuchungen haben gezeigt, dass jede zweite 14-Jährige einmal pro Woche ins Sonnenstudio geht. Eine laut Stockfleth bedenkliche Zahl: Denn je öfter ein Mensch seit frühester Kindheit der Sonnenbestrahlung ausgesetzt war, umso ist höher sein Hautkrebsrisiko.
Hautkrebs: Kein Solarium für Jugendliche.
Prof. Eggert Stockfleth ist Leiter des Hauttumor-Centrums am Universitätsklinikum Charité in Berlin. Sein Wort hat also Gewicht. Auf welche Untersuchungen sich seine Behauptung stützt, dass "jede zweite 14-Jährige einmal pro Woche ins Sonnenstudio" ginge, wüsste ich gerne. Es müsste, wenn das wahr wäre, sehr viel mehr auch im Winter auffällig gebräunte Teenager geben, als mir das bisher aufgefallen wäre.
Nach einer schon etwas älteren Umfrage des IJF Instituts für Jugendforschung (11/2005) benutzten etwa 7 Prozent der Jugendlichen in Deutschland bis einschließlich 18 Jahren mindestens einmal im Monat eine Sonnenbank. Auf diese Umfrage stützt sich auch der Solarien-Fachverbandes "photomed": Wie nutzen Kinder und Jugendliche das Solarium?. Wenn man als "regelmäßige Nutzung" sinnvollerweise "Einmal pro Woche" definieren würde, ergäben sich in den Altersgruppen 13-16 Jahren überhaupt keine statistisch darstellbare Nutzung.
Auch aus einer neuere Umfrage des Forschungszentrum Jülich (in Auszügen auf der Website der Fachzeitschrift "BMC Dermatology" A population-based survey on tanning bed use in Germany) lässt nichts auf einen massenhaften Solariumsgebrauch durch Teenager schließen. Die Solarienverbände haben auch in eigenen Untersuchungen festgestellt, dass Jugendliche unter 18 nur 3,5 Prozent der Solarien-Kunden ausmachten - weshalb die Solarien-Lobby kaum Widerstand gegen das 2009 verabschiedete "Solariengesetz" (Gesetz zur Regelung des Schutzes vor nichtionisierender Strahlung) leistete, dessen wichtigste Bestimmung das Solarienverbot für Jugendliche unter 18 Jahren ist: Die paar minderjährigen Kunden wären einem möglichen Imageschaden durch den Vorwurf, der "Asitoasterbranche" sei die Gesundheit schützbedürftiger Jugendlicher schnuppe, vermute ich, nicht wert gewesen.

Auch zum Thema "Lügen und Medizinjournalismus" gehört, dass "photomed" anscheinend jede Meldung darüber, wie wichtig das "Sonnenvitamin" D3 für die Gesundheit ist, als Argument für den Sonnenbankbesuch ausschlachtet. Allerdings sind die wirtschaftlichen Interessen, die künstliche Besonnung als "gesund" zu verkaufen, in diesem Fall offensichtlich.

Wie auch immer die konkreten Motive hinter den Hautkrebs-Alarmmeldungen in jedem Frühling aussehen, sie passen in die allgemeinen Tendenz, die Ursachen gefährlicher Krankheiten am Lebensstil des Einzelnen festzumachen - der Kranke ist also "selber Schuld" an seinem Leiden.
Dass die simple Gleichung: "Mehr Sonne = mehr schwarzer Hautkrebs" nicht stimmt, geht aus dem europäischen Vergleich hervor:
Die meisten malignen Melanome werden in Europa in für Männer in Schweden und Dänemark diagnostiziert, für Frauen in Dänemark, Österreich und Schweden. Ähnlich wie in Europa insgesamt zeigt sich auch ein leichtes Nord-Süd-Gefälle innerhalb Deutschlands. Im Vergleich zu den deutschen Werten sehr niedrige Erkrankungsraten treten für beide Geschlechter in Griechenland auf.
Der BVDD vermutet, dass das mit der Hautpigmentierung der jeweiligen Bevölkerung zusammenhängt, also salopp gesagt: der "typische" Grieche wird schneller braun als der "typische" Däne und bekommt daher weniger Hautkrebs. Allerdings ist in Griechenland die "Sonnengesamtbelastung" aber auch sehr viel größer als in Dänemark.
Als Risikofaktoren gelten eine große Anzahl von Pigmentmalen (Nävi), vor allen solche mit unregelmäßiger Form, ein heller Hauttyp und eine genetische Disposition (bei familiär gehäuftem Auftreten).
Obwohl bisher keine Dosis-Wirkungs-Beziehung bestimmt werden konnte, scheint intensive Sonnenexposition oder Exposition gegenüber künstlicher UV-Strahlung, insbesondere in der Kindheit, die Entstehung der Erkrankung zu begünstigen. Andere Faktoren, etwa bestimmte Chemikalien, Medikamente oder der Einfluss von Schwangerschaften, werden sehr kontrovers diskutiert.

Es wäre, im Sinne der Gesundheitsaufklärung, gar nicht so schlecht, wenn dieser unsichere Erkenntnisstand allgemein bekannt wäre.

Sonntag, 25. April 2010

Marginalie zu Kopp etc. - Wer glaubt "so einen Unsinn"?

Lange Zeit nahm ich an, dass haarsträubend konstruierte "Weltverschwörungstheorien", pseudowissenschaftliche Behauptungen jener Sorte, die ein aufgeweckter Grundschüler entlarven könnte, und plumpe Sensationsmeldungen, die keiner ad-hoc-Plausibilitätprüfung standhalten, vor allem von drei Sorten Menschen geglaubt würde:
  1. besonders dumme Menschen
  2. Menschen, die zwar nicht dumm sind, denen es aber am nötigen Wissen, der nötigen Lebenserfahrung oder der nötigen gesunden Skepsis mangelt: die "Naiven"
  3. und Menschen, die weder dumm noch naiv sind, aber in einem geschlossenen System der (Fehl-)Wahrnehmung stecken - das kann ein autoritäres Glaubenssystem sein, aber auch persönliche Hörigkeit, ideologische Verbohrtheit oder "Wahn" im Sinne etwa einer paranoiden Wahrnehmungsstörung.
Später ergänzte ich dieses einfache Schema, das in etwa der Haltung von "Skeptiker"-Organisationen wie der GWUP entspricht, durch Menschen, die zwar wissen, dass es Unsinn ist, aber glauben wollen - weil es interessant ist, weil es ihre Ängste und Hoffnung anspricht, weil man sich damit wichtig vorkommen kann usw.. Also ein Aberglaube, ein Glauben wider besseren Wissens, zu dem es heißt: "Ich weiß, dass da nichts daran ist, aber ich glaube ... ".

Die praktische Erfahrung zeigt: auch Menschen, auf die das alles nicht zutrifft, können auf "so einen Unsinn" hereinfallen. Da nehme ich mich keineswegs aus.

Ein praktisches Beispiel: in diesem Blog und, in etwas besser ausgearbeiteter Form auf der Website der "Nornirs Ætt" gibt es eine Satire mit dem Titel:
Wer war eigentlich Thor Steinar?
.
Es gibt Menschen, und zwar offensichtlich keine dummen, naiven oder verbohrten / verrannten / paranoiden Menschen, und auch keine, denen ich ein "Glauben wollen", aus welchen Gründen auch immer, unterstellen möchte, die das für bare Münze genommen haben. Mit dreien von ihnen habe ich mich darüber später unterhalten.
Kern der Satire ist die Behauptung, es hätte einen wenig bekannten deutschvölkischen und der rechten Esoterik zugeneigten Komponisten namens Dietrich "Thor" Steinar gegeben, der eine eigene Version des "Ringes des Nibelungen" geschrieben hätte und im 1. Weltkrieg noch in jungen Jahren gestorben wäre, worauf er und sein "Heldentod" unter einigen Nazis der 1920er Jahre verklärt worden wäre.
Diese Kernbehauptung ist, da ich ja wollte, dass der Scherz im ersten Moment "geschluckt", dann aber schnell als Satire erkannt wird, nicht völlig unplausibel.
Ausschlaggebend war bei allen drei, dass sie den Text nur flüchtig überflogen hatten, so dass ihnen die vielen absurden Details, die ich in die Satire einbaute, nicht weiter auffielen.
Ein weiterer Grund war, dass ich offensichtlich als besonders glaubwürdig wahrgenommen wurde - etwa in den Sinne, dass meine Beiträge auf "Nornirs Ætt" bisher immer ganz gut recherchiert gewesen wären. Wenn ich bisher nicht gelogen oder Unsinn einfach weitergeben hätte, warum sollte ich dann auf einmal etwas schreiben, das nicht stimmt?
Der dritte Grund war, wenigstens bei einem, der "reingefallen" war, der, dass die jämmerliche Figur "Thor" Steinar genau zu seinen Vorstellungen von der "Denke" bzw. "Nicht-Denke" "kackbrauner Kameraden" passte. Er traute ihnen zu, dass sie einen Komponisten, der etwa so "erfolgreich" war, wie Adolf Hitler als Kunstmaler, der seine Opern zusammenplagierte und sich an der Front geradezu mutwillig erschießen ließ, um seinen "Heldenmut" zu beweisen, der aber die "richtige", das heißt, deutschvölkische und germanenschwärmerische Gesinnung gehabt hätte, zum Aushängeschild einer Modemarke machen würden. (Und das obwohl ich behauptete, im Jargon der Wehrmachtssoldaten wären Kleidungsstücke mit Einschusslöchern "Thor-Steinar-Mode" genannt worden.) Wahrscheinlich traute mein "Opfer" den NS-Nostalgikern so etwas nicht von ungefähr zu, und das (nicht ganz unbegründete) Klischee vom "Doof-Nazi" verlieh auch völlig absurden Behauptungen eine gewisse Glaubwürdigkeit.
Das könnte ein Sonderfall von "ich will glauben" sein. Denn auch ich genieße mit gutem Gewissen meine Schadenfreude, wenn sich Rechtsextremisten und andere Typen, die ich nicht mag, mal so richtig blamieren. Es ist auch situationsbedingt: Normalerweise würde ich jedem, der mir erzählen würde, der Papst würde ein Doppelleben fühlen, aktiv schwul sein und einen minderjährigen Geliebten im Lateranpalast verstecken, einen Vogel zeigen. Im Moment aber könnte ich diese bizarre Story glatt glauben wollen.

Wie auch immer: als Konsequenz war ich gegen den Vorschlag, einen Aprilscherz zu machen, der darum geht, dass die "Nornirs Ætt" eine gewisse selbsternannte "germanen-gläubige" "Autoritätsperson" anerkennen würde, die man besser nicht nennt, da die Namensnennung im öffentlich zugänglichen WWW sofort lichtgrußvolle Nerv-Kommentare dieser Person oder ihrer Fans nach sich zieht, die zu löschen Zeit und Nerven kostet. Diese Fans und vor allem die selbst ernannte Ober-Autorität selbst würden das nämlich glatt und hoch erfreut für bare Münze nehmen und die "gute Nachricht" sofort weitertragen - und unsere anschließend notwendigen mühevollen Dementies und Distanzierungen wären den geglückten Aprilscherz nicht Wert gewesen.

Fazit: ein Fake, der zur Vorurteilsstruktur und den Wünschen und Ängsten des Fälschungsopfers passt, wird wahrscheinlich geglaubt werden, wenn das Opfer nicht allzu sorgfältig hinsieht.
Ist der Fälscher eine "Autorität", die als glaubwürdig gilt, etwa ein bekannter Journalist oder ein prominenter Wissenschaftler, ist die Fälschung einigermaßen plausibel und vermeidet der Fälscher allzu dick aufgetragene Behauptungen, können selbst normalerweise wachsamen Zeitgenossen ungeheuerliche Lügengeschichten untergejubelt werden.

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