Montag, 3. Mai 2010

Persönliche Etappen: 1974 - Sommer der Wandlung

Oder: Das Jahr, in dem ich der Göttin begegnete.
Ich werde, von Freunden und anderen, hin und wieder gefragt, wie ich denn zum "Neuheidentum gekommen" wäre, bzw. wie mir Ásatrú zustieß - also, um es etwas pathetisch zu formulieren, fragen sie nach meinem "spirituellen Weg".
Beim Versuch, meinen Weg zu schildern merkte ich schnell, dass H. R. Kunze recht hatte, als er damals sang: "Eigene Weg sind schwer zu beschreiben, sie entstehen ja erst beim Geh'n".
Ein weiteres Problem: wie schildere ich meinen Weg so, dass es persönlich ist, aber nicht die Privatsphäre der vielen Menschen, die mich auf meinem Weg begleiteten und der Menschen, die mir Steine in den Weg legten, verletzt?
Also keine kurzgefasste spirituelle Autobiographie, sondern Skizzen fünf markanter Etappen auf meinem Weg.


1974 - das ist ein Jahr, über dessen Sommer ich vor gut vier Jahren schon einmal bloggte. Vor vielen Sommern - 1974. Liest man diesen alten Blogbeitrag, könnte der Eindruck entstehen, dass ich mich in diese Zeit zurücksehnen. Tatsächlich ist es aber so, dass ich um nichts in der Welt noch einmal 12 Jahre alt sein möchte. Sommer der Wandlung, das war auch die nicht unbedingt angenehme Erfahrung der Pubertät. Es war auch die Zeit, in der ich erstmals wirkliche "Schulprobleme" hatte, in der ich abwechselnd aufsässig und nachgiebig bis unterwürfig war. Ganz normal - oder auch nicht. Denn irgendwie war ich "anders". Heute würde man mich wohl als "jungen Nerd" bezeichnen, damals "komischer Vogel" oder, mit boshaftem Unterton "kleiner Professor". (Was von Erwachsenen meistens als "Verhaltensstörung" beschrieben wurde - aber das ist so eine dieser Sachen, in der Details die Netzöffentlichkeit nichts angehen.)
Erst recht nicht will ich noch einmal in der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 1974 zwölf sein.
Nun war die BRD bestimmt nicht das scheußlichste Land der Erde, und 1974 kein sonderlich scheußliches Jahr, im zeitgeschichtlichen Vergleich schneidet es sogar ganz gut ab. Wenn man mitten drin steckt, sieht das aber anders aus.

"'68" war schon sechs Jahre her, und der Amtsantritt der Regierung Willy Brandt (der 1974 über die Guillaume-Affäre gestolpert wurde) lag auch schon fast fünf Jahre zurück. Ein Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft der frühen 1970er war bunt, experimentierfreudig, weltoffen, aber auch, wie manche "68er", ein wenig selbstgerecht - der "große Rest" scheint mir im Rückblick ziemlich konservativ im schlechten Sinne gewesen zu sein. Miefig, spießig, ängstlich. Natürlich machte ich mir in diesem Alter darüber noch keine Gedanken - aber ich spürte es, vor allem im Kontrast zu Dänemark, wo ich 1974 trotz "durchwachsenem" Wetter herrlichen sechs Ferienwochen verbrachte. Es herrschte dort ein tolerantes, heiteres und kinderfreundliches Sozialklima, das sich angenehm von den deutschen Verhältnissen unterschied und auch auf deutsche Urlauber abfärbte. (Nun wird vielleicht auch klar, wieso so viele Menschen meiner Generation begeisterte Skandinavienfans sind. Da wirken oft wohl auch angenehme Ferienerlebnisse nach.)
Christian Rickens schrieb in seinem Buch "Die neuen Spießer", was für ein verkorkstes Land die Bundesrepublik der Wirtschaftswunderzeit gewesen wäre. Er schrieb z. B.:
Ein Land, in dem es draußen nur Kännchen gab, in dem man Beatmusik nur nach vorherigen Warnhinweisen im Fernsehen sendete.
Der Satz trifft meine Erinnerung an das Land meiner Kindheit ziemlich genau, denn von den politischen und gesellschaftlichen Missständen, die das verkorkste Land vor allem ausmachten, bekam ich als Kind ja nichts mit. Sehr wohl aber jene bizarren Sitten, wie die, dass man auf der Terrasse eines Cafés seinen Kaffee (oder in meinem damaligen Alter eher: Kakao) grundsätzlich nur im Kännchen serviert bekam, auch wenn man nur Durst auf eine Tasse hatte. Warum? "Das macht man eben so!" - "Das haben wir immer schon so gemacht!"- "Das wird schon seine Gründe haben!"
Sehr viele Dinge, die ich nicht mochte und nicht verstand, wurden so "begründet". Ich merkte aber, dass sich das änderte - für einen nerdigen Pubertätsbengel natürlich viel zu langsam.
Um auf "draußen gab es nur Kännchen" zurückzukommen: 1974 war gar nicht so einfach war, im Café oder Restaurant draußen zu sitzen. Im Erdkundeunterricht rätselten wir, warum in Paris die Cafés und Bistros Tische und Stühle auf die Straße stellten, und warum das in Hamburg nicht üblich war. Lag das am Wetter? Wohl kaum. An den breiten Straßen in Paris? Aber warum gab es nicht mal in den neu eröffneten Fußgängerzonen Straßencafés? Wir fanden keine Antwort. Aber wir fanden Straßencafés bei gutem Wetter toll (das Wort "geil" kam erst später in Mode). Wir waren nicht die Einzigen, weshalb es sie einige Jahre später auch bei uns gab. Zum Klassenfest wollten wir grillen. Wir erkundigten uns danach, wo man in Parks eventuell grillen dürfte und waren über die Auskunft, dass das grundsätzlich erlaubt wäre (unter Beachtung einiger Vorsichtsmaßregel und wenn wir niemanden belästigen) völlig überrascht. Wir gingen wie selbstverständlich davon aus, dass "man" nicht "so einfach" in der Öffentlichkeit grillen dürfte. (Daher ist es auch logisch, dass es dann anders sozialisierte Einwanderer waren, die sich als "Parkgrillpioniere" hervortaten.) Sich als "Rebell" zu fühlen oder "Mutproben" zu machen, war damals (noch) relativ einfach: es gab noch viele Dinge, die "man" nicht "durfte", die aber nicht tatsächlich verboten waren. Aber das änderte sich rasch - was von Konservativen als "Werteverfall" beklagt wurde (und von "68er-Bashern" wie dem Historiker Paul Nolte immer noch wird). So viel zum "zeitgeschichtlichen Hintergrund".

Da es ja hier um meinen "spirituellen Weg" (oder so etwas in der Art) gehen soll, ist es vielleicht nicht unwichtig, zu wissen, wie der zwölfjährige Martin es denn mit der Religion hielt. In einem Satz: Ich hielt überhaupt nichts. Nicht, dass ich Atheist gewesen wäre - das hätte eine gewisse Auseinandersetzung mit der Religion erfordert - es war einfach egal. Meine Eltern waren nicht religös, meinen Vater habe ich aus der Zeit, obwohl er ständig über die Kirchen meckerte und folglich auch nicht Mitglied in so einem Verein war, nicht als kämpferischen Atheisten in Erinnerung. Ich nahm brav am Religionsunterricht teil, aber es war schon klar: Konfirmieren lassen würde ich mich nicht. Jugendweihe wäre aber auch nicht meine Sache gewesen. Der Gott der Kinderbibel wurde für mich kurz nach dem Osterhasen und kurz vor dem Weihnachtsmann unglaubwürdig.
Die "Erwachsenenbibel" fand ich aber teilweise ganz spannend - obwohl ich fand, dass dieser J'h'w'h oder wie der Typ hieß, ein eher unangenehmer Bursche war. (Nein, auf die Idee, das antisemitisch zu deuten, kam ich zum Glück nicht - oder ich hatte das Glück, dass mich niemand auf diesen damals wohl für mich naheliegenden bösen Trip schickte.)
Ich hatte es sowieso mit mythologischen Texten, wenn auch vorerst nur in "jugendgerechten" Nacherzählungen und als "Götter- und Heldensagen" deklariert. Da gab es auch ein paar sympathischere Götter - auch wenn sie für meinen Eindruck, jedenfalls in den Nacherzählungen, zu "menschlich" geschildert wurden. Auch wenn sie menschliche Gestalt annehmen können, wollte ich sie nicht als bloße "Superhelden" wie etwa "der mächtige Thor" in den Marvel-Comics sehen. (Superheldencomics las ich leidenschaftlich gern - vielleicht gerade weil mein Vater und einige meiner Lehrer diesen "Schund" hassten, sie aber, weil ich ja auch richtige und ordentliche Bücher las, nicht den üblichen Spruch "lies lieber was Anständiges" anbringen konnten. Am coolsten fand ich Batman und Spiderman. Finde ich genau genommen noch immer.)

Ich hatte also einiges mythologisches Halbwissen, als ich während jener Klassenfahrt nach Ostholstein im Spätfrühjahr 1974 eine "mystische Offenbarung" oder eine "Erscheinung" hatte. (Und damit meine ich nicht etwa die Tatsache, dass wir "Zaungäste" im Trainingslager der Fußballnationalmannschaft in der benachbarten Sportschule Malente waren. Was heute wahrscheinlich nicht mehr möglich wäre - über die laut damaliger Presse "strengen Sicherheitsmaßnahmen" würden heutige Berufsparanoiker Sicherheitsexperten nur mit dem Kopf schütteln.)

Als etwas einzelgängerischem und sehr labilen (sogar für die Verhältnisse in diesem labilen Alter) Jungen ging mir das enge Zusammensein mit den Klassenkameraden nach einige Tagen auf die Nerven. An einen Nachmittag, der sonst nicht "verplant" war, ging ich daher allein im Wald spazieren. Irgendwo im Wald spürte ich eine gewaltige Präsenz und große Macht. (Sorry für den wenig originellen Eso-Jargon, aber das trifft es noch am Besten.) Ich setzte mich hin und fiel spontan in einen Zustand, von dem ich erst später wissen würde, dass er einer leichten Trance entsprach. Ich fühlte mich - gerufen und berufen, und zwar auf sehr freundschaftliche Art. Dann hatte ich etwas, dass ich vielleicht als Äquivalent einer "Marienerscheinung" bezeichnen könnte. Eine sehr real wirkende, aber zugleich "überirdische" Erscheinung. Nur war das bei mir nicht die Jungfrau Maria, sondern eine andere "Jungfrau", eine Göttin. Sie stellte sich als Pallas Athena vor - die bei den Römern Minerva genannt würde. Als ich sehr viel später auf Lucius Apuleius Metamorphoses ("Der goldene Esel") stieß, merkte ich, dass das Aussehen der Göttin und ihr Auftreten sehr stark seine Beschreibung der Erscheinung der Göttin Isis erinnerte. (Karan hat die Rede der Isis aus den "Metamorphoses" sehr stimmungsvoll vertont - übrigens ohne von meinem Erlebnis zu wissen: luna.) Nein, die Metamorphoses kannte ich damals noch nicht.
Was habe ich das erlebt? Ich weiß es nicht. Ich habe gut 20 Jahre lang versucht, eine "rationale" Erklärung zu finden - und einige weniger "rationale". Tatsächlich fürchtete ich sehr, verrückt zu sein - im Sinne eines schizophrenen Schubes (obwohl ich diesen Ausdruck damals natürlich noch nicht kannte). Erst Jahre später erfuhr ich, dass an und für sich solche Visionen, wie ich sie damals zum ersten Mal hatte, für Tiefenpsychologen nichts Ungewöhnliches sind, und nicht unbedingt etwas mit schweren Störungen zu tun haben müssen. C. G. Jung sah in solchen Visionen nicht unbedingt schizophrene Wahnideen; sie seien eher der klassische Ausdruck fortschreitenden Selbstfindung.
Leider wusste ich noch nichts von C. G. Jung oder Tiefenpsychologie: Wer "spinnt", der ist eben schwer krank und nicht zurechnungsfähig. Ich hatte furchtbare Angst, den Verstand zu verlieren - obwohl mich die Göttin der Weisheit ausdrücklich ermutigte, mich meines Verstandes zu bedienen.
Ich schreibe das in der Hoffnung, dass niemand bei mir eine Psychose ferndiagnostiziert. Dass ich "irgendwie verrückt" bin, gebe ich allerdings zu.

Meine Vision behielt ich für mich. Aber ich erlebte etwas, dass in Esoterikerkreisen "Channeling" genannt wird - "Durchsagen" der Göttin. Ich schrieb dass, was mir übermittelt wurde, rasend schnell auf - leider ziemlich unleserlich. Außerdem begann ich, antike Tempel - vorzugsweise im dorischen Stil - zu zeichnen. Leider hat die Zeichnung einer "idealen" Akropolis die Zeit nicht überlebt, leider, denn einige Architektur-Studenten, die sinnvoll-zufälligerweise in der selben Jugendherberge waren, zeigten sich erstaunt über die Qualität meines Entwurfes. Später zeichnete ich noch einen ganze Reihe antiker Tempel, aber die besondere Qualität dieser "inspirierten" Zeit erreichten sie nicht mehr. Interessantes Detail: ab dieser Zeit stellte ich mir antike Tempel und antike Statuen nicht mehr marmorweiß, sondern farbig bemalt vor. Ich war sehr erstaunt, als mir eine Architekturstudentin das bestätigte.
Wie ging ich damit um? Ich habe nicht zufällig das noch ziemlich engstirnige geistige Klima dieser Zeit beschrieben. Esoterik war damals etwas für "ausgeflippte Hippies" und in meiner Vorstellungswelt gab es damals nur die Alternativen "Christentum" oder "Atheismus" - und sonst nichts. (Es gab noch einige Moslems in meiner Umgebung, aber den Islam nahm ich damals als eine etwas exotische Abart des Christentums war, bloß ohne die mir sowieso nie einleuchtende Dreieinigkeit. Dann schon lieber gleich eine Götterdreiheit - ich deutete also das Christentum als insgeheim polytheistisch.) Wobei "atheistisch" für mich lange Zeit gleichbedeutend mit "vernünftig" war - trotz leiser Proteste der Göttin der Weisheit.

Ich schuf mir eine "Tarnung" für meine mystischen Erfahrungen (es kamen noch mehr dazu) und um mein daraus resultierendes verstärktes Interesse an heidnischen Gottheiten zu kaschieren. Als Science-Fiction-Fan kannte ich die Behauptungen Erich von Dänikens zur Prä-Astronautik - und es gab tatsächlich in meiner Umgebung einige Prä-Astronautik-Fans. Also las ich die Bücher von Dänikens. Es war zwar seltsam, die Götter (von deren Existenz ich tief in mir drin von da an überzeugt war) als "Astronauten" zu deuten, aber es wurde zwar belächelt, aber akzeptiert.

Im selben Jahr, in den lange Campingferien in Nordjütland, hörte ich übrigens zum ersten Mal das Wort "Asatro" (dänische Version von "Ásatrú"). Eine Gruppe dänischer Biker - im Outfit irgendwo zwischen "Hippie" und "Rocker" - übernachtete auf dem Campingplatz. Die bizarr aufgemotzten Motorräder faszinierten mich - und die Biker waren sehr viel freundlicher als ich es aufgrund dessen, was ich von Hamburger Rockern mitbekommen (und gehört) hatte, erwartet hätte. Einer von ihnen war Lederhandwerker und bot wunderschöne verzierte Gürtel und ähnliche Ledersachen zum Verkauf an - bis auf seine Tattoos sah er so aus, wie ich mir einen Wikinger vorstellte und er trug tatsächlich einen Thorshammer. Ich verstand kaum Dänisch, aber ich bekam mit, dass es sich mit einem ziemlich verwundert dreinblickendem dänischen "Normalcamper" über "Asatro" unterhielt. Ich kannte, aus meinen Sagenbüchern, den Namen "Asathor" und vermutete, dass der "Motorradwikinger" über seinen Thorshammer geredet hätte. Erst später verriet mir ein dänischer Junge etwa in meinem Alter, der deutlich mehr Deutsch als ich Dänisch konnte, was es damit auf sich hatte. Das seien neue Heiden, die an die alten Götter glauben würden. Seltsamerweise fühlte ich mich mich durch das Wissen, dass es Menschen gab, die es, wie ich, "mit den alten Göttern" hatten, eher beunruhigt.

Warum erschien mir ausgerechnet Athena? Mein Freund Duke hat wohl recht, wenn er meint, dass die jeweilige Kultur, die einen prägt, sehr selbstverständlich und wie von selbst die Visionen und sonstigen Eindrücke vorformt.
Allerdings entsprach meine Vision nicht gerade der Kultur, in der ich aufgewachsen bin - das Hellenismos-Thema kannte ich bestenfalls als Karikatur. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass ich, wäre ich in einem streng katholischen Rahmen aufgewachsen, die Göttin als "Jungfrau Maria" gedeutet hätte. Warum keine germanische Göttin? Vielleicht, weil Athena genau die Göttin ist, die ich brauche - und die mich, in gewisser Weise, braucht.
Aber diese Erkenntnis - oder wie man es auch nennen mag - erreichte mich erst sehr viel später.

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