Vor vielen Sommern - 1974

1974 war meine erste Fußball-Weltmeisterschaft. Zumindest die Erste, die ich bewußt mitverfolgte.
Immerhin schon 32 Jahre her. Ich komme mir verdammt alt vor Opa.

Die Unterschiede zu heute sind bemerkenswert. Zum Beispiel war das heute übliche Maß an Kommerzialisierung vermutlich unverstellbar. Aber auch den Aufwand an Sicherheit hätte man sich damals schwer vorstellen können.

Ein Schlaglicht: Ende Mai 1974 war ich auf Klassenreise, in Eutin. Im Nachbarort Malente-Gremsmühlen bezog die bundesdeutsche Nationalmannschaft ihr Trainingslager. Natürlich ließen wir es uns nicht nehmen, mal bei der abgeschirmten Sportschule Malente-Gremsmühlen Zaungast zu sein. Im Rückblick erschrecke ich beinahe darüber, wie groß der Unterschied zwischen "abgeschirmt" 1974 und abgeschirmt 2006 ist. Auch wenn ein paar Schulkinder sicherlich nachsichtiger behandelt wurden als "erwachsene" Fußball-Verrückte.
Auch 1974 gab es schon Sicherheitsbedenken. Immerhin war die RAF aktiv, und kurz vor der Eröffnungsfeier wurde der Rasen von unbekannten Tätern mir Parolen verunziert. Heute wären sie wohl nicht einmal in die Nähe des Stadions gekommen - und wenn doch, wäre die Feier wohl aus Sicherheitsgründen abgesagt worden. :-(
Dafür war der Sport, soweit ich es mitbekommen habe, im Zuge des trotz der Entspannungspolitik immer noch frostigen Ost-West-Verhältnisses sehr politisiert. Legendär, zumindest für überzeugte Ex-DDRler, war das "deutsch-deutsche Duell" zwischen der DDR und den "Klassenfeinden" BRD im Hamburger Volksparkstadion am 22. Juni. Denn die DDR-Mannschaft gewann 1:0 und wurde Gruppensieger, das Tor schoß Jürgen Sparwasser.

Daran, dass es damals einen ähnlichen schwarz-rot-goldenen Flaggenrausch wie heute gegeben hätte, kann ich mich nicht erinnern. Wahrscheinlich erzwang schon die "besondere politische Situation Deutschlands" ein wenig Zurückrückhaltung in Sachen Hurra-Patriotismus. Ich kann mich nur daran erinnern, dass der Frühsommer 1974 extrem verregnet war. Die "Wasserschlacht" BR Deutschland gegen Polen im Frankfurter Waldstadion am 3. Juli ist legendär (die BRD gewann 1:0) , und auch vor dem Endspiel am 7. Juli, Niederlande gegen Deutschland, mußte der Rasen des Münchner Olympiastadions erst einmal "ausgewrungen" werden.Regenschirm

Diese "heiße Phase" der nassen WM bekam ich nur an einem winzigen schwarz-weiß-Fernseher mit, auf dänisch, mit deutschen Kommentar über Mittelwellen-Radio. Denn ab der letzten Juni-Woche war ich mit meiner Mutter und meinem Bruder zum Wohnwagenurlaub im kleinen Nordseeküstenort Svinkløv in Nordjütland. (Vater hatte noch zu Arbeiten.) Der nationale Überschwang der deutschen Campinggäste ob der gewonnen Weltmeisterschaft hielt sich in Grenzen - aus gutem Grund. Bei aller dänischen Toleranz und Gastfreundschaft - damals konnten sich noch verdammt viele Dänen verdammt gut an die deutsche Besatzungszeit erinnern, schließlich lag das Ende des 2. Weltkriegs erst 29 Jahre zurück. Gerade um Svinkløv herum gab es jede Menge perfekt erhaltenen deutscher "Atlantikwall"-Bunker und das letzte Minenfeld war erst drei Jahre zuvor zuende geräumt worden.

Als Junge war Camping-Urlaub in Dänemark gleichbedeutend mit "Freiheit" (wir waren mehrmals dort). Aus heutige Sicht würde ich sagen, dass dort ein tolerantes, heiteres und kinderfreundliches Sozialklima herrschte, das sich angehm vom "engen" und verbiesterten deutschen Sozialklima immerhin sechs Jahre nach "´68" abhob und auch auf deutsche Urlauber abfärbte. Damals fand ich es einfach nur toll.
Ein Beispiel: an (west-) deutschen Stränden herrschte damals ein streng reglementierter Geist, noch reglementierter als heute. In Dänemark und speziell an den weiten und breiten Stränden der nordjütischen Nordseeküste herrschte dagegen das Prinzip "tu was du willst solange du niemanden störst". Mit dem Auto bis an den Strand fahren? Kein Problem! (War es auch nicht, es gab noch kaum Geländewagen, mit denen man, wie einige Jahre später, die Strände zu "Autostränden" mißbrauchen konnte.) Feiern und Grillen am Strand - kein Problem, solange man niemanden störte. Einfach nackt baden? Kein Problem (auch nicht für Erwachsene), solange man es nicht gerade am ziemlich vollen Strand vor dem Badehotel machte. Sandburgen bauen? (Ich meine diese Ein-Familien-Ringwallanlagen, die damals an deutschen Stränden üblich waren.) Ging absolut nicht, weil sich recht viele mit Recht an dieser deutschen Unsitte störten! Grins

Obwohl das Wetter etwas "durchwachsen" war, erinnere ich mich an herrliche und scheinbar endlosen Sommerferien (wir waren die ganzen sechs Wochen dort). Auch wenn kein "Strandwetter" war, gab viel im Freien zu erleben. Und "Strandwetter" definiert ein Schuljunge sehr viel großzügiger als ein Erwachsener (jedenfalls war das damals so).
Nach den Sommerferien war ich im Ergebnis offensichtlich auffällig braun. Das war nicht ganz unwichtig, denn damals, als sich noch kaum jemand groß Gedanken um Hautkrebs-Risiko und das "Ozonloch" machte, war "braun" noch "gesund und schön". Da es noch praktisch keine Sonnenstudios gab und Selbstbräuner einen an schwere Hepatitis erinnernden Hautton hervorriefen, galt sehr braun zu sein sogar als glaubwürdiges Indiz für einen gewissen Wohlstand - es ließ, zumal in mäßigen Sommern wie 1974, darauf schließen, dass man sich eine längere Reise in den fernen Süden leisten konnte. Kein Wunder auch, dass Armvergleiche nach dem Urlaub auch unter Schülern üblich waren. Ich stach sogar einige Italien- und Spanienurlauber locker aus. Selbst die Schulsekretärin sprach mich darauf an, mit den Worten: "Bei uns oben hat es dauernd geregnet". Ich konnte die gute Frau kaum davon überzeugen, dass ich noch "weiter oben" Urlaub gemacht hatte, und das Wettter keineswegs durchweg sonnig gewesen war.
Das Klischee war stärker als die Realität.Sonne

Alles in allem kommt mir die Welt der 70er in der Erinnerung sehr bizarr vor. Und keineswegs so "golden", wie es manche Nostalgiker (die in der Regel noch eine ganze Generation älter sind als ich) weiß machen wollen. Eine - immer noch! - spießige, enge, erst in Teilbereichen langsam tolerant und "westlich" werdende (west-)deutsche Gesellschaft. Dass es damals langsam anders wurde, verdanken wir wohl vor allem den heute viel geschmähten "´68ern", der damals umstrittenen Regierung Brandt ("mehr Demokratie wagen", Entspannungspolitik), der von bestimmten Kreisen immer noch geschmähten "Verwestlichung", einschließlich amerikanischer Filme, dem ebenfalls gern kritisierten "Massentourismus", der noch mehr kritisierten Einwanderung (von "Gastarbeitern"). Ich habe sogar den Verdacht, wir "im Westen" verdankten manche demokratische Errungenschaft der deutschen Teilung, der Konkurrenz zur "realsozialistischen" DDR, und dem abschreckenden Beispiel eines autoritären "Gegenmodells" vor der Haustür.

Merkwürdig, wie weit ich von Thema "Fußball WM" ich abgekommen bin, und wie weit ins Private ich beim vor mich hinschreiben abgelitt. Ich lasse es aber so stehen, als persönliches Zeitbild des Sommers ´74.

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