Sozialromantische Piraten
(Angeregt durch eine Idee von Seeräuber-Karan anläßlich des Flaggenwahns zur FiFaFu-WM: Piratenflagge statt schwarzrotsenf.)
Piraten sind gerade im "arbeitenden Volke" beliebt. (Es sei denn, man arbeitet zufällig auf einem Schiff, das im Südchinesischen Meer, in der Malakka-Straße, in der Sunda-See oder vor den Küsten des Senegals unterwegs ist.) Das ist bemerkenswert, denn Piraterie ist in der Praxis meistens eine brutale Form der organisierten Kriminalität: Bandenmäßig begangener schwerer Raub, sehr oft in Tateinheit mit Körperverletzung, Mord, Freiheitsberaubung, Hehlerei und nicht selten Vergewaltigung. Nicht unbedingt das Holz, aus dem man Volkshelden schnitzt.
Ein Teil der Antwort liegt sicher darin, dass die "gewöhnlichen Kriminellen" unter den Seeräubern im Allgemeinen unter den Tisch fallen. Wenn schon Verbrecher, dann schon "Verbrecher von Format", mindestens Mafia-Format. Oder noch besser: Kaperfahrer, Kosaren, Freibeuter mit ehrenwertem Ziel, die eher Guerrillakämpfer zur See als schäbige Gangster mit schwimmendem Untersatz sind.
Behält man die Verdrängung des banal-brutal Bösen im Hinterkopf, trifft Wolfram zu Mondfeld in der Einführung zum "Piratenkochbuch" den Nagel auf den Kopf:
Zur Rebellionsromantik kommt die Sozialromantik hinzu: der Freibeuter als "Robin Hood der Meere", der den Reichen nimmt und den Armen gibt. (Wofür es historisch, von einigen Kaperfahrern mit politischer Zielsetzung einmal abgesehen, kaum Beispiele gibt.)
Nehmen wir einmal Deutschlands beliebtesten Seeräuber, Klaus Störtebeker. So ziemlich alles deutet darauf hin, dass er ein rücksichtsloser, brutaler, beutegieriger Typ war, für den ein Leben nicht viel zählte. Die "Vitalienbüder", die "Likendeeler" waren im Grunde nichts anderes als marodierende und plündernde Söldner zur See.
Der Schlüssel zur sozialromatischen Legende vom edlen Rebellen, der die reichen "Pfeffersäcke" plünderte (ein Spottname, der erst gut 200 Jahre nach Störtebeker gebräuchlich wurde) und der der armen Landbevölkerung nach Kräften half, ist meiner Ansicht nach dieses eine Wort: "Likendeeler" - "Gleichteiler".
Gemeint war natürlich die "Gleichteilung" der Beute. Diese "Gleichteilung" war auch typisch für die Boucanniers, Flibustiers, "Brüder der Küste" der Karibik im 17. Jahrhundert. Alexandere Olivier Exquemerlin, der nicht ganz freiwillig als "Chirurgus" (Feldscher - "Knochenflicker" und Heilpraktiker) um 1670 auf karibischen Freibeuterschiffen fuhr, beschrieb in seinem Buch die Regeln der Beuteteilung:
Jedes Besatzungsmitglied hatte Anspruch auf einen gleich großen Beuteanteil. Nur der Kapitän erhielt zwei Anteile, die Schiffsjungen einen Halben. Bevor "der Pott" aufgeteilt wurde, gingen die Entschädigungen für die Versehrten ab, die von 100 Golddublonen für den Verlust eines Fingers bis zu 1800 Dublonen für den Verlust beider Hände gingen. Außerdem gab es garantierte Anteile für den Schiffsarzt (250 Dublonen), für den Schiffszimmermann (100 - 150 Dublonen), für den Mann, der das Beuteschiff zuerst gesichtet hatte (100 Dublonen) und für den, der die fremde Flagge niederholte (50 Dublonen). Der Anteil der Gefallenen wurde an die nächsten auffindbaren Angehörigen gezahlt.
Damals dachte kein Staat und kein Privatunternehmen an derartige Regelungen, wie die, die sich die "Ausgestoßenen der Gesellschaft" leisteten. Allenfalls bei den Knappen in den Bergwerken und bei einigen handwerklichen Bruderschaften gab es bescheidene Ansätze in diese Richtung.
Außerdem ging es unter den "Brüdern der Küste" sehr demokratisch zu. Kapitän und Offiziere wurden von der Bordgemeinschaft gewählt und waren jederzeit absetzbar. Freiwillige Selbstdiziplin machte die bei den Kriegsmarinen üblichen harten Strafen (meistens) überflüssig. Betrügereien bei der Beuteverteilung waren nicht häufiger als bei bürgerlichen Handelsgesellschaften.
Es war letzten Endes der enorme äußere Druck und der Umstand, dass der Betrieb eines Schiffes dauernde "Teamarbeit", Organisation und Diziplin erforderte, die zu quasi-kommunistischen Schiffsgemeinschaften führte. Jeder wuße, was auf dem Spiel stand: Wohlstand oder Tod. Jeder war auf den Anderen angewiesen.
Es war wohl die überlieferte außerordentliche gruppeninterne Solidarität und Gerechtigkeit bei einigen Freibeutergemeinschaften, die das Volk an Land, das von sozialer Gerechtigkeit, politischer Mitbestimmung und Wohlstand für alle nur träumen konnte, so beeindruckte. Ich nehme an, dass diese gruppeninterne Gerechtigkeit der "Gleichteiler" dazu führte, dass die Piraten ganz allgemein, also auch nach außen hin, als "Streiter für die Gerechtigkeit" galten. Und das, obwohl selbst die "Brüder der Küste" außerhalb ihrer verschworenen "kommunistischen" Gemeinschaft skrupellos raubten und plünderten - und darunter die "einfachen Leute" an Bord der überfallenen Schiffe mehr litten, nämlich mit Leib und Leben, als die "Pfeffersäcke" im trockenen und sicheren Kontor, die schlimmstenfalls einen außerordendlichen Verlust verbuchen mußten.
Waren die "Brüder der Küste" nach innen hin quasi "kommunistisch", so agierten sie nach außen so skrupellos anarchokapitalistisch, das jedem "Libertären" das Herz im Leibe lachen müßte. Beim Handeln und Hehlen auf Tortuga und später in Port Royal auf Jamaica, herrschte absolute Vertragsfreiheit (und meistens sogar Vertragstreue), andere Gesetze wurden schlicht ignoriert - nach "sozialer Gerechtigkeit" oder "politischen Verhältnissen" fragte niemand, die "Machtfrage" stellte sich nicht, und freigiebig waren Freibeuter fast nie - wenn ein typischer Pirat seinen Beuteanteil unter den Armen verteilte, dann nur, damit die in der Jacke eingenähten Dublonen nicht so auftrugen.
Freibeuter waren in der Tat Freiheitskämpfer - aber nur für ihre eigene Freiheit.
Zum Weiterlesen: Aufsatz über "Piratenutopien" aus anarchistischer Sicht, geht auch auf den in im Kommentar erwähnten "Piratenstaat" Libertatia ein: do or die: Pirate Utopias
Piraten sind gerade im "arbeitenden Volke" beliebt. (Es sei denn, man arbeitet zufällig auf einem Schiff, das im Südchinesischen Meer, in der Malakka-Straße, in der Sunda-See oder vor den Küsten des Senegals unterwegs ist.) Das ist bemerkenswert, denn Piraterie ist in der Praxis meistens eine brutale Form der organisierten Kriminalität: Bandenmäßig begangener schwerer Raub, sehr oft in Tateinheit mit Körperverletzung, Mord, Freiheitsberaubung, Hehlerei und nicht selten Vergewaltigung. Nicht unbedingt das Holz, aus dem man Volkshelden schnitzt.
Ein Teil der Antwort liegt sicher darin, dass die "gewöhnlichen Kriminellen" unter den Seeräubern im Allgemeinen unter den Tisch fallen. Wenn schon Verbrecher, dann schon "Verbrecher von Format", mindestens Mafia-Format. Oder noch besser: Kaperfahrer, Kosaren, Freibeuter mit ehrenwertem Ziel, die eher Guerrillakämpfer zur See als schäbige Gangster mit schwimmendem Untersatz sind.
Behält man die Verdrängung des banal-brutal Bösen im Hinterkopf, trifft Wolfram zu Mondfeld in der Einführung zum "Piratenkochbuch" den Nagel auf den Kopf:
Gewiß, es gibt ein paar Chrakterzüge, die allen Freibeutern, von den kleinsten und schäbigsten bis zu den größten und berühmtesten, gemeinsam waren: Ein guter Schuß Verwegenheit und Abenteuerlust, ein gefährlicher Beruf, aus dem sie das Schlechteste, aber auch das Beste machen konnten. Doch damit hört die Gemeinsamkeit schon auf. Der Reigen der Piraten reicht vom plumpen Rohling bis zum eleganten Weltmann und blasierten Aristokraten, vom kleinen Banditen bis zum Admiral und Schöpfer einer Flotte, vom Besitzer einer winzigen Schaluppe bis zum Kommandanten eines 70-Kanonenschiffes, vom haltlosen Spieler bis zum rechtschaffenden Bürger und zum verschrobenen Heiligen, vom Analphabeten bis zum Forscher, Wissenschaftler und Universitätsdozenten, vom zerlumpten Dieb bis zum Advokaten und Richter, vom jämmerlichen Habenichts bis zum millionenschweren Reeder, vom skrupellosen Verbrecher bis zum Sozialreformer und gefeierten Freiheitskämpfer.Also: für jeden Geschmack ist der passende Held oder Schurke dabei. Das ist der Stoff, aus dem die Rebellionsromantik ist.
Zur Rebellionsromantik kommt die Sozialromantik hinzu: der Freibeuter als "Robin Hood der Meere", der den Reichen nimmt und den Armen gibt. (Wofür es historisch, von einigen Kaperfahrern mit politischer Zielsetzung einmal abgesehen, kaum Beispiele gibt.)
Nehmen wir einmal Deutschlands beliebtesten Seeräuber, Klaus Störtebeker. So ziemlich alles deutet darauf hin, dass er ein rücksichtsloser, brutaler, beutegieriger Typ war, für den ein Leben nicht viel zählte. Die "Vitalienbüder", die "Likendeeler" waren im Grunde nichts anderes als marodierende und plündernde Söldner zur See.
Der Schlüssel zur sozialromatischen Legende vom edlen Rebellen, der die reichen "Pfeffersäcke" plünderte (ein Spottname, der erst gut 200 Jahre nach Störtebeker gebräuchlich wurde) und der der armen Landbevölkerung nach Kräften half, ist meiner Ansicht nach dieses eine Wort: "Likendeeler" - "Gleichteiler".
Gemeint war natürlich die "Gleichteilung" der Beute. Diese "Gleichteilung" war auch typisch für die Boucanniers, Flibustiers, "Brüder der Küste" der Karibik im 17. Jahrhundert. Alexandere Olivier Exquemerlin, der nicht ganz freiwillig als "Chirurgus" (Feldscher - "Knochenflicker" und Heilpraktiker) um 1670 auf karibischen Freibeuterschiffen fuhr, beschrieb in seinem Buch die Regeln der Beuteteilung:
Jedes Besatzungsmitglied hatte Anspruch auf einen gleich großen Beuteanteil. Nur der Kapitän erhielt zwei Anteile, die Schiffsjungen einen Halben. Bevor "der Pott" aufgeteilt wurde, gingen die Entschädigungen für die Versehrten ab, die von 100 Golddublonen für den Verlust eines Fingers bis zu 1800 Dublonen für den Verlust beider Hände gingen. Außerdem gab es garantierte Anteile für den Schiffsarzt (250 Dublonen), für den Schiffszimmermann (100 - 150 Dublonen), für den Mann, der das Beuteschiff zuerst gesichtet hatte (100 Dublonen) und für den, der die fremde Flagge niederholte (50 Dublonen). Der Anteil der Gefallenen wurde an die nächsten auffindbaren Angehörigen gezahlt.
Damals dachte kein Staat und kein Privatunternehmen an derartige Regelungen, wie die, die sich die "Ausgestoßenen der Gesellschaft" leisteten. Allenfalls bei den Knappen in den Bergwerken und bei einigen handwerklichen Bruderschaften gab es bescheidene Ansätze in diese Richtung.
Außerdem ging es unter den "Brüdern der Küste" sehr demokratisch zu. Kapitän und Offiziere wurden von der Bordgemeinschaft gewählt und waren jederzeit absetzbar. Freiwillige Selbstdiziplin machte die bei den Kriegsmarinen üblichen harten Strafen (meistens) überflüssig. Betrügereien bei der Beuteverteilung waren nicht häufiger als bei bürgerlichen Handelsgesellschaften.
Es war letzten Endes der enorme äußere Druck und der Umstand, dass der Betrieb eines Schiffes dauernde "Teamarbeit", Organisation und Diziplin erforderte, die zu quasi-kommunistischen Schiffsgemeinschaften führte. Jeder wuße, was auf dem Spiel stand: Wohlstand oder Tod. Jeder war auf den Anderen angewiesen.
Es war wohl die überlieferte außerordentliche gruppeninterne Solidarität und Gerechtigkeit bei einigen Freibeutergemeinschaften, die das Volk an Land, das von sozialer Gerechtigkeit, politischer Mitbestimmung und Wohlstand für alle nur träumen konnte, so beeindruckte. Ich nehme an, dass diese gruppeninterne Gerechtigkeit der "Gleichteiler" dazu führte, dass die Piraten ganz allgemein, also auch nach außen hin, als "Streiter für die Gerechtigkeit" galten. Und das, obwohl selbst die "Brüder der Küste" außerhalb ihrer verschworenen "kommunistischen" Gemeinschaft skrupellos raubten und plünderten - und darunter die "einfachen Leute" an Bord der überfallenen Schiffe mehr litten, nämlich mit Leib und Leben, als die "Pfeffersäcke" im trockenen und sicheren Kontor, die schlimmstenfalls einen außerordendlichen Verlust verbuchen mußten.
Waren die "Brüder der Küste" nach innen hin quasi "kommunistisch", so agierten sie nach außen so skrupellos anarchokapitalistisch, das jedem "Libertären" das Herz im Leibe lachen müßte. Beim Handeln und Hehlen auf Tortuga und später in Port Royal auf Jamaica, herrschte absolute Vertragsfreiheit (und meistens sogar Vertragstreue), andere Gesetze wurden schlicht ignoriert - nach "sozialer Gerechtigkeit" oder "politischen Verhältnissen" fragte niemand, die "Machtfrage" stellte sich nicht, und freigiebig waren Freibeuter fast nie - wenn ein typischer Pirat seinen Beuteanteil unter den Armen verteilte, dann nur, damit die in der Jacke eingenähten Dublonen nicht so auftrugen.
Freibeuter waren in der Tat Freiheitskämpfer - aber nur für ihre eigene Freiheit.
Zum Weiterlesen: Aufsatz über "Piratenutopien" aus anarchistischer Sicht, geht auch auf den in im Kommentar erwähnten "Piratenstaat" Libertatia ein: do or die: Pirate Utopias
MMarheinecke - Sonntag, 30. Juli 2006
Es mag an dieser Abhängigkeit vom Wohlwollen "antispanischer" Kolonialmächte gelegen haben, dass die politischen Ideen der "Brüder der Küste" nicht über relativ kleine "Banden" und "Flotten" hinausreichten. Es gab zwar Versuche, regelrechte Staaten nach "Buccaniersregeln" aufzuziehen, sie scheiterten aber alle recht schnell. (Indirekt haben diese Versuche, vor allem der legendäre kurzlebige Freistaat "Libertatia" auf Madagaskar, die Phantasie der politischen Denker der Aufklärung angeregt.)