Zwischen den Zeilen der Zeitungen steht die Panik

In Deutschland von der Mitte aus betrachtet, herrschen nun oben die Heuschrecken und unten die Sozialschmarotzer, der Kleinbürger sieht oben und unten Gefahren, er sieht die ganze Welt als Feinde.
Cordt Schnibben, "Der seufzende Kleinbürger".

Ich gebe Schnibben recht. Allerdings kommen die "spießigen" Ängste und Vorurteile der sozialen "Mitte" nicht von ungefähr.

Die Abstiegsängste des "Kleinbürgers" sind nachvollziehbar. Seid den Hartz-Reformen steht zwischen der gut bezahlten, angesehenen Stellung und dem Sozialhilfeniveau gerade mal ein Jahr Arbeitslosigkeit. Oder was passiert, wenn ein Kleinunternehmer in Konkurs geht? Es gibt Länder, in denen das halb so wild ist, allerdings gehört Deutschland nicht dazu.

Zu dieses berechtigten ökonomischen Ängsten kommen Ängste, die mutwillig geschürt werden.
Besonders auffällig ist dieser Mutwillen, wenn beispielsweise dieselben Experten, die uns noch vor einigen Monaten von einem anhaltenden Wirtschaftswachstum und einem DAX von mehr als 10000 erzählten, sich heute im Pessimismus überbieten. Immerhin eines bleibt konstant, ob Hochkonjunktur oder Rezession: sie sehen durch zu hohe Lohnkosten den Wirtschaftsstandort Deutschland in Gefahr. (Man kann das natürlich auch völlig anders sehen. Als Nicht-Volkswirtschaftler kann ich zwar nicht beurteilen, wie seriös das ist, allerdings wirkt das, was die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik schreibt, auf mich weitaus plausibler, als die Analysen und Ratschläge etwa des Ifo-Institutes, von Lobbybuden wie der INSM gar nicht zu reden ... )

Die "kleinbürgerliche" Angst vor der "Bedrohung durch Sozialschmarotzer" ist das - vielleicht in vielen Fällen gar nicht so unwillkommene - Nebenprodukt der Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre, insbesondere der Hartz IV-Regelungen, mit der Grundlinie: "mehr Druck auf auf die Arbeitslosen", die sich in "mehr Druck auf die von Arbeitslosigkeit bedrohten" fortsetzt. Dass gerade Boulevardmedien die Angst vor Sozialschmarotzern gerne bedienen, ist meiner Ansicht nach Symptom, aber nicht Ursache, dieser Angst. Allerdings sind die Medien starke Angstverstärker.
Ich bin der Ansicht, dass eine berechtigte Angst medial so kanalisiert wird, dass sie für die Machtelite "ungefährlich" wird - die Angst treibt die Menschen nicht etwa auf die Straße, sondern zu verstärkten Anpassungsleistungen an den Arbeitsmarkt an.

Auch die Angst vor den "Heuschrecken" und "Ausbeutern" ist nicht in erster Linie Produkt profilierungssüchtiger Politiker, geschweige denn das Resultat der Demagogie politischer Extremisten.
Viele der vermeintlichen kleinbürgerlichen Spießer erkennen, dass es nicht nur ein "Unterschichtenproblem", sondern auch ein "Oberschichtenproblem" gibt. Die Angst vor den "Heuschrecken" resultiert aus der Erfahrung kaltschnäuzige Vernichtung Zehntausender von Arbeitsplätzen heraus, aus der desillusionierenden Erkenntnis, dass auch (und gerade) in deutschen Spitzenunternehmen eine Kombination von Größenwahn und Gier, von Korruption und Vorteilsnahme herrscht. Die Integrität und Kompetenz des wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Führungspersonals der Bundesrepublik steht in Frage. Aber auch diese Angst - die Angst vor unfähigen und hemmungslos egoistischen "Wirtschaftsführerern" - wird medial kanalisiert. Das Bild der "Heuschrecken" und der "Abzocker" wird sowohl von "links" wie von "rechts" bedient - im Falle von "rechts" und manchmal leider auch von "links" mit fremdenfeindlichen und strukturell antisemitischen Untertönen. Aber auch die Welle der Diskussionen über "Moral in der Wirtschaft" ist meiner Ansicht nach eine Kanalisierung - denn an und für sich ist Eigennutz ja im Wirtschaftsleben eher eine nützliche Eigenschaft.

So nachvollziehbar es auch ist, dass "der Kleinbürger", die "Mittelschicht", sich in einer Welt von Feinden sieht, so politisch gefährlich ist es. Eine wesentliche Ursache des "Rechtsextremismus" sehe ich darin, dass die rechtsextreme Ideologien (ja, es gibt mehrere) für komplexe und schwer durchschaubare Problematiken einfache Modelle anbietet - und für die Ängste identifizierbare "Sündenböcke" zu liefern.

Zwischen den Zeilen der Zeitungen steht die Panik und kriecht dir ins Hirn.

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