Überwachungsgesellschaft

Donnerstag, 18. Juni 2009

Nu(h)r ein Lied über Zensur



Von den Ärzten und gefunden bei WirrLicht

Anti-Netz-Ideologie

Herfried Münkler, Professor für Politik an der Humboldt-Universität Berlin, in einem Kommentar in der Frankfurter Rundschau:
Es ist eine eigentümliche Schar, die sich unter dem Banner der Netzfreiheit versammelt hat. Einerseits kriminelle Geschäftemacher, die das Internet benutzen, um verbotene Produkte an den Mann zu bringen, und andererseits ein Ensemble von Freiheitskämpfern, die ihre anarchistischen (kein Staat!) oder kommunistischen Ideen (kein Eigentum) in der virtuellen Welt des Internets realisieren wollen.
Netz-Anarchos und trojanische Pferde gefunden über netzpolitik.org.

Es ist überraschend, ausgerechnet bei einem Politologen auf ein so klassisches Beispiel ideologischen Denkens zu stoßen. (Bei Politikern und Journalisten ist man es ja gewohnt.)
Zugegeben, auch viele Aktivisten der Netzfreiheit neigen dazu, ideologisch zu denken. Etwa dazu, den ungehinderten Informationsaustausch im Internet für die Lösung aller Probleme der Menschheit zu halten. Oder dazu, jenen, die eine unbeschränkte Netzfreiheit, aus welchen Gründen auch immer, skeptisch sehen oder gar ablehnen, stets egoistische und böswillige Motive zu unterstellen.

Blankes, unverholenes ideologisches Denken finde ich zur Zeit allerdings eher auf Seiten jener, die für mehr staatliche Eingriffe und Beschränkungen "im Internet" eintreten. Ganz extrem findet man es im Umfeld der "Stoppschild"-Befürworter, die Zugangsbeschränkungen für ein wirksames Mittel im Kampf "gegen Kinderpornographie im Internet" halten.

Zur Begriffsklärung, was mit "ideologischem Denken" gemeint ist, nun ein längeres Zitat :
Ideologen verschließen sich dem unaufhebbarem Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, indem sie einen Teilaspekt totalisieren. Wir haben es also mit zwei innerlich zusammengehörenden Momenten zu tun: dem der Ausklammerung und dem der Totalisierung. Aus der Verschränkung dieser beiden Momente ergibt sich für den Außenstehenden der Eindruck eines fehlenden Gefühls für Proportionen und Konsequenzen beim Ideologen. Der Betreffende selber hingegen ist von der Gewissheit erfüllt, eine Wahrheit von universeller Gültigkeit zu besitzen, alle Phänomene erklären zu können und ein Heilmittel für alle Leiden der Menschen zu besitzen, und zwar aus einem System, das sich durch Tatsachen nicht mehr widerlegen läßt und auch keines Beweises mehr bedarf, weil es aus sich selbst heraus für sich spricht.
Der Anspruch des Ideologen an sein System ist genau so maßlos wie an seine Umgebung. Dabei ist er persönlich aber weder zu wechselseitiger Anerkennung noch zu wechselseitiger Kritik willens oder fähig. Beides würde den Anspruch des Ideologen, daß die ganze Wirklichkeit in seinem Kalkül aufgehen müsse, gefährden.
Seinen Egoismus kann er jedoch bei sich selber nicht erleben, sondern muß ihn auf die Außenwelt projizieren. So kommt es, daß er jede Kritik an seinem System dadurch entkräftet, daß er sie auf die subjektive Motivation des Kritikers verlagert, dem er seinerseits Egoismus und Böswilligkeit unterstellt.
(aus: Werner Huth, Glaube, Ideologie und Wahn, Frankfurt/M: Ullstein, 1988, S. 233 u. bis S. 234 o. - Hervorhebungen im Original.)

Ein ungemein typisches Merkmal für ideologisches Denken ist das Vereinheitlichen von Feindbildern und das Verschwörungsdenken - unterschiedliche Gegner der Ideologie, die ansonsten völlig unterschiedliche, ja sogar gegensätzliche Interessen haben, stecken "in Wirklichkeit" (also im ideologischen Denken) unter einer Decke.

Prof. Münkler unterstellt nicht, dass (kriminelle) Geschäftemacher, Kommunisten und Anarchisten in Hinblick auf "Kinderporno"-Seiten gemeinsame Interessen hätten. Aber irgendwie raufen sich diese gegensätzlichen Gruppen zusammen, wenn es gegen ein Gesetzesvorhaben der Bundesregierung geht, dass tatsächlich die Interessen dieser drei Gruppen gar nicht berührt - jedenfalls dann nicht, wenn es wirklich auf KiPo-Seiten beschränkt bliebe.
Tatsächlich bringt Prof. Münkler in seinem Aufsatz das Thema "Urheberrecht", das mit der KiPo-Problematik an sich nichts zu schaffen hat, außer, dass das Mittel der Netzsperren von manchen Vertretern der Inhabern von Verwertungsrechten als probates Mittel gegen "Raubkopierer" gesehen wird. Erst wenn der "Kampf gegen Urheberrechtsverletzungen" mit einbezogen wird, geht die ideologische Gleichung (zumindest aus Sicht des Ideologen) auf: erst damit haben nämlich "Geschäftemacher, Kommunisten und Anarchisten" ein gemeinsames Interesse, das ihnen (halbwegs plausibel) unterstellt werden kann.
Aus der Sicht einer ideologischen Gegners der Netzfreiheit ist es "selbstverständlich" klar, dass es sich bei den "Zensursula"-Gegner nur um aus egoistischen oder böswilligen Motiven handelnde Menschen handeln kann.

Nebenbei, aber wichtig: "Kinderpornographische" Websites machen nur einen winzigen Teil des gesellschaftlichen Problems "Kinderpornographie" aus, die wiederum nur ein winziger Teil des schweren gesellschaftlichen Problems "Gewaltverbrechen gegen Kinder" (alias "Kindesmissbrauch" - cetero censeo: dieses Wort unterstellt, es gäbe einen "korrekten Gebrauch" von Kindern) ist.

Nachtrag: Was bin ich - Krimineller, Anarchist oder Kommunist? fragt sich der Wirtschaftsinformatiker Christian Reinboth in seinem Sci-Blog

Dienstag, 16. Juni 2009

Wie steht es mit den Fakten?

Die polizeiliche Kriminalstatisk 2008 ist da (mogis) und Schäuble hat ja auch öffentlichkeitswirksam den Rückgang der Kriminalität präsentiert. (Man sollte ihn bei seinen künftigen öffentlichen Panikattacken an seine Worte erinnern - im Wahlkampf wird reichlich Gelegenheit sein.)

Allerdings sollte man sich davor hüten, dass Fakten, zumal solche, die nicht ins Konzept passen, irgendeinen Einfluss auf Politiker im Wahlkampf hätten. Der Rückgang der Sexualdelikte gegen Kinder, vor allem der Kinderpornografie, perlt an einer dicken Fettschicht aus Empörung, Ignoranz und der Freude darüber, politische Gegner so richtig moralisch diskreditieren zu können einfach ab.
(Wie gut das moralische Diskreditieren klappt, vor allem, wenn man die "Bild" mit im Boot hat, konnte man auf dem außerordentlichen Parteitag der Schisser-Partei Deutschlands am letzten Sonntag sehen, wo der Antrag Löschen statt Sperren echt rückratlos-spezialdemokratisch mit "Die Antragskommission hat vorgeschlagen, den Antrag für erledigt zu erklären, da die Diskussion medial unerwünscht ist". "Medial unerwünscht" bedeutet: "BIld-Hetze funktioniert!")

Deutlicher, woran man bei der "großen Koalition" ist, kann man ein kaum noch machen: Es mag Zufall sein, dass das Sperren an dem Tag beschlossen wurden, an dem die Petition gegen die Netzsperren den Rekord bricht - aber es ist kein Zufall, dass das Gesetz noch ganz schnell vor der Sommerpause durchgewunken wird. Die CDU macht inzwischen mit einer Pressemitteilung klar, dass es um mehr als nur um Kinderpornographie geht:
Die SPD wäre dadurch Gefahr gelaufen, Straftaten im Internet Vorschub zu leisten, von der Vergewaltigung und Erniedrigung kleiner Kinder bis hin zu Urheberrechtsverletzungen in breitestem Ausmaß gegenüber Künstlern und Kreativen.
Nimmt man das beim Wort, sind Raubkopierer viel schlimmer als Kinderschänder. Zwar gibt es am Ende der Mitteilung die Ankündigung keine Mauer bauen zu wollen die Zensurinfrastruktur auf Kinderpornographie beschränken zu wollen, aber es widerspricht allen vorangegangenen Erfahrungen, dass so ein Gesetz nicht mehr oder weniger geräuschlos auf andere Anwendungsgebiete ausgedehnt wird.

Aufruf: Demonstrationen "Löschen statt Sperren - Stoppt die Zensur" am 20. Juni 2009 um 12:00 Uhr in mehreren deutschen Städten. (Wo genau, erfahrt ihr hier.)

Ankündigung: Mahnwache gegen #zensursula - Zeit: Donnerstag 9:00 Ort: Berlin - vor dem Reichstagsgebäude (Ort unter Vorbehalt)

Donnerstag, 21. Mai 2009

Nicht vergessen!

handeln statt wegschauen

Flashmob Grundgesetzlesen am 23. Mai!

Nachtrag, vom Pantoffelpunk:

zensursula1

Mittwoch, 20. Mai 2009

Umfrage: 90% sind gegen Netz-Sperren

Der Verein Missbrauchsopfer gegen Internetsperren hat über Infratest eine durch Spenden finanzierte Umfrage zur Internet-Sperren gemacht. Mehr als 90 Prozent gegen Sperrungen im Internet (Zeit.de).
Irgendwie weicht das Ergebnis auffällig von den "92 % für Netzsperren" der "Kinderhilfe"-Umfrage ab.

Mir gefällt vor allem, dass der Verein mogis so unaufgeregt und seriös gekontert hat. Vorbildlich für andere Aktionen!

Dienstag, 12. Mai 2009

Trau, schau, wem ...

Die Deutsche Kinderhilfe startet eine Unterschriftenaktion, um die Netzzensur-Pläne der Bundesregierung gegen "Kinderpornographie" zu unterstützen. Die Aktion richtet sich explizit gegen die ePetition, die mittlerweile von 75.000 Mitzeichnern unterstützt wird. Deutsche Kinderhilfe für Zensursula.
Deutsche Kinderhilfe? War da nicht mal was? Kommen einem bestimmte Namen nicht irgendwie bekannt vor?

Montag, 4. Mai 2009

Petition gegen Netzsperren

Es gibt jetzt die Petition "Internet - Keine Indizierung und Sperrung von Internetseiten" beim ePetition-System des Deutschen Bundestages. Bitte unterzeichnen!

Text der Petition:
Wir fordern, daß der Deutsche Bundestag die Änderung des Telemediengesetzes nach dem Gesetzentwurf des Bundeskabinetts vom 22.4.09 ablehnt. Wir halten das geplante Vorgehen, Internetseiten vom BKA indizieren & von den Providern sperren zu lassen, für undurchsichtig & unkontrollierbar, da die “Sperrlisten” weder einsehbar sind noch genau festgelegt ist, nach welchen Kriterien Webseiten auf die Liste gesetzt werden. Wir sehen darin eine Gefährdung des Grundrechtes auf Informationsfreiheit.

Begründung

Das vornehmliche Ziel – Kinder zu schützen und sowohl ihren Mißbrauch, als auch die Verbreitung von Kinderpornografie, zu verhindern stellen wir dabei absolut nicht in Frage – im Gegenteil, es ist in unser aller Interesse. Dass die im Vorhaben vorgesehenen Maßnahmen dafür denkbar ungeeignet sind, wurde an vielen Stellen offengelegt und von Experten aus den unterschiedlichsten Bereichen mehrfach bestätigt. Eine Sperrung von Internetseiten hat so gut wie keinen nachweisbaren Einfluß auf die körperliche und seelische Unversehrtheit mißbrauchter Kinder.
Mehr Hintergrundinfos:

Zensur es ist, KiPo-Bekämpfung es nicht ist (Sven Scholz)

Die Argumente für Kinderporno-Sperren laufen ins Leere (heise)

" ... und wenn auch nur ein Kind gerettet wird" (Missbrauchs-Opfer gegen Internet-Sperren

Netzpolitik zum Thema "Zensur"

Dienstag, 21. April 2009

Willig über den Tisch gezogen

Heute, am 22. April 2008, bringt das Bundeskabinett den Gesetzesentwurf zur Sperrung kinderpornographischer Webseiten auf den Weg.
Kinderporno-Sperren: "Frontalangriff auf die freie Kommunikation" befürchtet (heise)
Kinderporno-Sperren: Provider sollen Nutzerzugriffe loggen dürfen (heise).
Bundeskabinett beschließt Gesetzesentwurf zu Kinderporno-Sperren (heise).

Wir werden in Sachen Kinderporno-Sperre von unserer Regierung nach Strich und Faden über den Tisch gezogen.
Die Thematik "Kinderpornographie" erschwert sachliche Diskussion, da jeder, der sich gegen das "Stopschild" ausspricht, sich dem Verdacht aussetzt, es billigend hinzunehmen, wenn Kinder sexualisiert misshandelt und Pädophilen zur Schau gestellt werden.
Dabei werden wir mit eindeutig falschen Interpretationen von Statistiken hinters Licht geführt. Ein Beispiel: Zwar registrierte das BKA von 2006 auf 2007 bei der Besitzverschaffung von Kinderpornografie durch das Internet tatsächlich einen Fallzahlenzuwachs von 111 Prozent (von 2936 auf 6206 Fälle). Dabei geht es aber lediglich um die Menge der eingeleiteten Ermittlungsverfahren und nicht etwa - wie dargestellt - um Verurteilungen. In diese registrierte Steigerung ist die Ermittlungsaktion "Operation Himmel" (12000 Verfahren, die meisten mangels begründetem Tatverdacht eingestellt, keine einzige bisher bekanntgewordene Verurteilung) teilweise eingegangen. Die Argumente für Kinderporno-Sperren laufen ins Leere (c't).
Claudie Klinger hat eine sehr informative und umfassende Linkliste zum Thema Internetsperre in Namen der Bekämpfung von Kinderpornographie zusammengestellt: Haben wir noch Demokratie und Rechtsstaat?
Ergänzung: Sehr fundierte Darstellung von Dennis' Internet World wie die freie Wahl von DNS-Servern in der Öffentlichkeit kriminalisiert wird: Verschmähst Du meine Dienste, so machst Du Dich verdächtig!.

Ob (und wenn ja, welche) weitergehenden Absichten hinter diesem (wieder mal) hektisch zusammenschusterten neuen Angriff auf die Bürgerrechte stecken, ist reine Spekulation.
Ergänzung: ich finde es z. B. bemerkenswert, dass die Beschlussvorlage nicht aus dem Innenministerium und auch nicht aus dem Familienministerium, sondern ausgerechnet aus dem Bundesministerium für Wirtschaft (BMWi) stammt. Und dass es noch im Entwurf vom 01.04.2009 hieß, dass es sich um Angebote handeln muss, die Kinderpornografie enthalten und auf der Sperrliste aufgeführt sind. In der aktuellen Beschlussvorlage wurde der erste Teil gestrichen, so dass der Provider sperren muss, sobald ein Angebot auf der Sperrliste aufgeführt ist - egal, ob KiPo oder nicht.
Ich warne davor, sich in paranoiden Verschwörungstheorien zu verheddern. Es ist schlimm genug, wenn viele unserer politischen Entscheider offensichtlich paranoiden Weltbildern anhängen. Und sich deshalb leicht instrumentalisieren lassen.

In einem Punkt sollten wir unsere Politiker aber nicht unterschätzen: Sie kennen die Mentalität ihres Volkes. Zwar ist das früher blinde Vertrauen der Mehrheit der Deutschen in die "Obrigkeit" dank maximal schlechter Erfahrungen etwas abgemildert. Aber es sind genug "Knöpfe" übrig, auf die sie "drücken" können. Es ist kein Zufall, dass praktisch jedes umstrittene Gesetzesvorhaben mit Appellen an die "Moral" durchgedrückt oder zumindest flankiert wird.
Sie setzen meines Erachtens auf eine deutsche Eigenschaft, die zum typischen Charakterbild der "autoritären Persönlichkeit" gehört und die der britische Dichter D. H. Lawrence sarkastisch zugespitzt so beschrieb:
The Germans are most curious. They love things just because they have a sentimental reason for loving them - Das Heimatland, der Tannenbaum, das Brünnele, das Bächlein - the very words send a German into a swoon of love, which is as often as not entirely false. They make up their feelings in their heads while their real feelings go all wrong. That's why Germans come out with such startling and really silly burst of hatred.
It's the result of never living from their feelings, allways from the feelings they invented in their heads.
And that's why, as a bourgeois crowd they are so monstrously ugly. My God, how ugly they can be! ... And it's because they never live direct from their spontanious feelings; except in the matter of drinking and eating. God help us!
(Aus einem Brief an G. Orioli, Juli 1929, Baden-Baden)

(Die Deutschen sind höchst sonderbar. Die Dinge, die sie lieben, lieben sie aus sentimentalem Grunde. Das Heimatland, der Tannenbaum, das Brünnele, das Bächlein - beim bloßen Wort fällt ein Deutscher in eine Liebes-Trance, die manchmal nicht völlig gekünstelt ist. Ihre Gefühle legen sie sich im Kopf zurecht, während ihre wirklichen Gefühle fehl gehen.
Nur so sind ihre überraschenden und wirklich albernen Hassausbrüche zu erklären. Das kommt daher, dass sie niemals ihren wahren Gefühlen folgen, sondern immer nur den Gefühlen, die sie sich ausdenken. Und deshalb sind sie, im spießbürgerlichen Haufen, so monströs hässlich. Mein Gott, wie hässlich sie sein können! ... Und das, weil sie sich nie ihren spontanen Gefühlen hingeben - ausgenommen beim Essen und Trinken. Gott helfe uns!)

Ich muss zugeben, dass ich diesen "unspontanen" Charakterzug, auch von mir selbst kenne: den Hang, erst abzuprüfen, welche Gefühle "man" zu haben hat, und dann erst Gefühle zu äußern, die tief sitzende Unaufrichtigkeit, die Neigung, zum Lachen in den Keller zu gehen, und die "auf Kommando" Empörung oder Betroffenheit zu äußern - und auch den starken deutschen Hang zum Opportunismus. "Das tut man nicht!" ist in Deutschland immer noch ein starkes "Argument". (Wenn auch zum Glück nicht mehr so stark wie zu Kaisers Zeiten.)
Im (nicht seltenen) Extremfall reagiert "der Deutsche" auf bestimmte Reizworte, wie Lawrence richtig erkannte, wie Pawlows Hunde auf die Klingel: Dressur auf der Ebene des konditionierten Reflexes, unter Umgehung des Großhirns. Besonders gut klappt so was mit angstbesetzten Reizworten ("Terrorismus", "Kinderpornos", "Mafia", "Neonazis") die tatsächlich nicht nur in Boulevardmedien mit trauriger Zuverlässigkeit den "deutschen Beissreflex" auslösen: "Kontrollieren! Verbieten! Hart durchgreifen!" (Womit ich, das muss man in Deutschland leider extra sagen, sehr wohl entschieden gegen Terrorismus, Kinderpornographie, organisierte Kriminalität und Rechtsextremismus bin. Aber ich stelle mir die Frage nach Risiken und Nebenwirkungen der reflexartig vorgeschlagenen drastischen "Kuren".)
In Deutschland ist es meines Erachtens wegen der von D. H. Lawrence skizzierten Mentalität außerdem besonders einfach, Aufrichtigkeit zu heucheln. Oder das Einfordern eines Moralkodexes mit Moral zu verwechselt. Oder Empörung gegen Außenseiter zu generieren. Oder Menschen üble Motive und "niedere Beweggründe" zu unterstellen - weil ja praktisch jeder "irgendwo" Gefühle hat, die er sorgfältig vor der Öffentlichkeit verbirgt. Jeder hat "etwas zu verbergen", aber jeder, der "etwas zu verbergen hat", ist ein Bösewicht, also äußert der brave Deutsche deshalb, er hätte "doch nichts zu verbergen" und verdächtig jeden, der meint, er hätte ein gutes Recht, private Dinge zu verbergen, er würde "Böses" verbergen.

Übrigens sind meiner Ansicht nach auch die Briten "dank" ihrer Unspontanität durch "moralische Appelle" in Richtung Freiheitsverzicht manipulierbar - wenn auch dieser Hang, sich die Gefühle im Kopf zurechtzulegen, sich bei ihnen anders äußert. (Was vielleicht daran liegt, dass Deutsche seltsam anal fixiert sind - bevorzugtes Schimpfwort: "Scheiße", während im "angelsächsischen Raum" eher das Genitale "pfui" ist: "Fuck!" Womit die Briten psychoanalytisch gesehen immerhin "reifer" wären als wir Deutsche.  ;-))
Wir auch immer: George Orwell hat seine Landsleute verdammt gut eingeschätzt, als er "1984" schrieb.

Nachtrag: Missbrauchs-Opfer Gegen Internet-Sperren veranschaulich, welche Augenwischerei mit dem Kabinetsentwurf für Internetsperren verbunden ist.

(Anmerkung: ich habe, da die Übersetzung, die ich ursprünglich zitierte, meines Erachtens den lawrenceschen Sarkasmus nicht richtig wiedergab, das Zitat im Original angeführt und es, so gut ich es konnte, selbst übersetzt.

Nachtrag, 25. April: Jens Scholz erklärt klar und plausibel Warum es um Zensur geht.

Samstag, 18. April 2009

Gut, dann bin ich eben pervers und moralisch verkommen

Achtung, das hier ist keine Satire, sondern stammt vom innenpolitischen Sprecher der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag, Hans-Peter Uhl Abgeordnetenwatch.de - Dr. Hans Peter Uhl:
(...) die Bundesregierung und die CDU/CSU-Fraktion bemühen sich derzeit, ein aktives ´access-blocking´ gegen kinderpornographische Inhalte auf den Weg zu bringen. Es handelt sich bei diesen Inhalten um ein so schweres Verbrechen, dass gegenüber den aktuell diskutierten staatlichen Gegenmaßnahmen jede Rede von ´Zensur´ oder ´Freiheitsbeschränkung´ pervers ist.

Über ein vergleichbares Vorgehen gegenüber anderen verbrecherischen Inhalten - die von Ihnen genannten Probleme sind dem Unrechtsgehalt von Kinderpornographie nicht vergleichbar - möchte ich nicht spekulieren. Klar ist, dass das access-blocking ein schwerer staatlicher Eingriff wäre, dem rechtlich enge Grenzen gesetzt sein müssten und daher keineswegs beliebig ausgeweitet werden dürfte.

Klar ist jedoch auch, dass das Internet zwar ein schrankenloses Medium ist, aber deshalb natürlich keine schrankenlose Freiheit beanspruchen kann. Jede Freiheit findet ihre Grenze in den zu schützenden Rechtsgütern anderer. Die schwierige juristische Frage ist nur, welches Gewicht die unterschiedlichen Rechtsgüter jeweils zueinander erlangen sollen.

Für mich steht jedoch fest, dass z.B. das Freiheitsrecht eines Kindes, nicht sexuell missbraucht und Pädophilen zur Schau gestellt zu werden, um einiges höher zu bewerten ist als eine verabsolutierte "Freiheit des Internets" oder anderes dummes Geschwätz. Die ganze pseudo-bürgerrechtsengagierte Hysterie von Pseudo-Computerexperten, man müsse um jeden Preis ein "unzensiertes Internet" verteidigen etc. - vgl. www.ccc.de -, fällt für mich in die Kategorie: juristisch ohne Sinn und Verstand und moralisch verkommen.
Man kann es auch so zusammenfassen: wer nicht für uns ist, ist gegen uns, wer nicht für Zensur ist, ist für Kinderpornos!
Ich würde vielleicht Herrn Dr. Uhl zustimmen, wenn ich überzeugt wäre, dass "Internetsperren" - also das Durchstreichen von Einträgen im Telefonbuch - tatsächlich geeignet wären, sexualisierte Gewalt gegen Kinder auch nur einzudämmen. Vielleicht gut gemeint, aber wirkungslos.
Dafür wird eine schwarze Liste des BKA angelegt, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sein wird, deren Angemessenheit also nicht kontrolliert werden kann.
CCC: Kunden von Zensurprovidern sollen klagen (heise) - oder doch besser gleich kündigen?
zensursula 01alpha
Vor allem stimmt es mich wütend, dass tatsächlich wirksame Maßnahmen - zur Erinnerung: Internetzensur: CareChild-Versuch blamiert Deutsche Politiker - anscheinend unterbleiben.

Sehr gutes Nachtmagazin-Interview mit Christian Bahls vom Verein der Missbrauchsopfer gegen Internetsperren.

Donnerstag, 26. März 2009

Schnüffel- und Repressionsgesetze - warum das Ganze?

Es gibt eine beunruhigend nahe liegende Erklärung für die Angst der Entscheider in Politik und Wirtschaft vor "dem Volk". Nämlich die, dass viele von ihnen wussten oder zumindest ahnten, dass es irgendwann einmal mit der Wirtschaft steil bergab gehen könnte:
In Deutschland scheint es dabei noch friedlich zuzugehen. Doch für Experten ist es nur eine Frage der Zeit - Angst, Unzufriedenheit und Empörung nehmen mit jeder Schreckensmeldung zu. "Solche Proteste sind ein internationales Phänomen: Die sozialen Verwerfungen nehmen in allen Ländern erheblich zu", sagt Martin Diewald, Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Universität Bielefeld. "Auch in Deutschland wird es zu größeren Ausbrüchen kommen."

Vor "sozialen Konflikten in diesem Land, dass es knallt", warnt auch Michael Sommer, Chef des Deutschen Gewerkschaftsbunds. Selbst Bundespräsident Horst Köhler mahnt: "Wir werden Ohnmacht empfinden und Hilflosigkeit und Zorn."
FTD.de - Agenda: Die Wut erreicht die Straßen.

Nur sind unsere politischen und wirtschaftlichen Entscheider in aller Regel nicht so gestrickt, dass sie auf Rebellion mit Offenheit regieren, sondern mit Repression. Da verbindet sich meiner Ansicht nach das "moderne" Menschenbild eines ideologisierten marktradikalen Kapitalismus (unter dem Irreführenden Schlagwort "Neoliberalismus" bekannt), in dem der Mensch als möglichst reibungslos funktionierender "Leistungsträger" innerhalb einer Gesellschaft lebt, die ihrerseits als perfekt funktionierendes Wertschöpfungssystem gedacht wird, mit dem nicht nur in Deutschland traditionellen autoritären Denken, in dem der "Untertan" gefälligst die Schnauze zu halten hat und jemand, der aufmuckt, als "Querulant" oder "radikaler Außenseiter" ausgegrenzt wird.

Noch schlimmer wird das durch die "Angstbeisser" in unseren Regierungen, die - aus ihrer Sicht ganz folgerichtig - ganze Bevölkerungsgruppen unter Generalverdacht stellen, und für den Fall eines offenbar von ihnen befürchteten Bürgerkrieges gern Kampftruppen der Bundeswehr im Inneren einsetzen würden.

Zusatz: Ich bin nicht der Ansicht, dass Aktionen wie Wir zahlen nicht für Eure Krise ein "Alarmzeichen" für den sozialen Frieden sind. Es alarmiert mich eher, dass schon solche Protestaktionen Angst vor "Unruhen" auslösen können - oder dass solche Ängste herbeigeredet werden.

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