Dienstag, 21. April 2009

Willig über den Tisch gezogen

Heute, am 22. April 2008, bringt das Bundeskabinett den Gesetzesentwurf zur Sperrung kinderpornographischer Webseiten auf den Weg.
Kinderporno-Sperren: "Frontalangriff auf die freie Kommunikation" befürchtet (heise)
Kinderporno-Sperren: Provider sollen Nutzerzugriffe loggen dürfen (heise).
Bundeskabinett beschließt Gesetzesentwurf zu Kinderporno-Sperren (heise).

Wir werden in Sachen Kinderporno-Sperre von unserer Regierung nach Strich und Faden über den Tisch gezogen.
Die Thematik "Kinderpornographie" erschwert sachliche Diskussion, da jeder, der sich gegen das "Stopschild" ausspricht, sich dem Verdacht aussetzt, es billigend hinzunehmen, wenn Kinder sexualisiert misshandelt und Pädophilen zur Schau gestellt werden.
Dabei werden wir mit eindeutig falschen Interpretationen von Statistiken hinters Licht geführt. Ein Beispiel: Zwar registrierte das BKA von 2006 auf 2007 bei der Besitzverschaffung von Kinderpornografie durch das Internet tatsächlich einen Fallzahlenzuwachs von 111 Prozent (von 2936 auf 6206 Fälle). Dabei geht es aber lediglich um die Menge der eingeleiteten Ermittlungsverfahren und nicht etwa - wie dargestellt - um Verurteilungen. In diese registrierte Steigerung ist die Ermittlungsaktion "Operation Himmel" (12000 Verfahren, die meisten mangels begründetem Tatverdacht eingestellt, keine einzige bisher bekanntgewordene Verurteilung) teilweise eingegangen. Die Argumente für Kinderporno-Sperren laufen ins Leere (c't).
Claudie Klinger hat eine sehr informative und umfassende Linkliste zum Thema Internetsperre in Namen der Bekämpfung von Kinderpornographie zusammengestellt: Haben wir noch Demokratie und Rechtsstaat?
Ergänzung: Sehr fundierte Darstellung von Dennis' Internet World wie die freie Wahl von DNS-Servern in der Öffentlichkeit kriminalisiert wird: Verschmähst Du meine Dienste, so machst Du Dich verdächtig!.

Ob (und wenn ja, welche) weitergehenden Absichten hinter diesem (wieder mal) hektisch zusammenschusterten neuen Angriff auf die Bürgerrechte stecken, ist reine Spekulation.
Ergänzung: ich finde es z. B. bemerkenswert, dass die Beschlussvorlage nicht aus dem Innenministerium und auch nicht aus dem Familienministerium, sondern ausgerechnet aus dem Bundesministerium für Wirtschaft (BMWi) stammt. Und dass es noch im Entwurf vom 01.04.2009 hieß, dass es sich um Angebote handeln muss, die Kinderpornografie enthalten und auf der Sperrliste aufgeführt sind. In der aktuellen Beschlussvorlage wurde der erste Teil gestrichen, so dass der Provider sperren muss, sobald ein Angebot auf der Sperrliste aufgeführt ist - egal, ob KiPo oder nicht.
Ich warne davor, sich in paranoiden Verschwörungstheorien zu verheddern. Es ist schlimm genug, wenn viele unserer politischen Entscheider offensichtlich paranoiden Weltbildern anhängen. Und sich deshalb leicht instrumentalisieren lassen.

In einem Punkt sollten wir unsere Politiker aber nicht unterschätzen: Sie kennen die Mentalität ihres Volkes. Zwar ist das früher blinde Vertrauen der Mehrheit der Deutschen in die "Obrigkeit" dank maximal schlechter Erfahrungen etwas abgemildert. Aber es sind genug "Knöpfe" übrig, auf die sie "drücken" können. Es ist kein Zufall, dass praktisch jedes umstrittene Gesetzesvorhaben mit Appellen an die "Moral" durchgedrückt oder zumindest flankiert wird.
Sie setzen meines Erachtens auf eine deutsche Eigenschaft, die zum typischen Charakterbild der "autoritären Persönlichkeit" gehört und die der britische Dichter D. H. Lawrence sarkastisch zugespitzt so beschrieb:
The Germans are most curious. They love things just because they have a sentimental reason for loving them - Das Heimatland, der Tannenbaum, das Brünnele, das Bächlein - the very words send a German into a swoon of love, which is as often as not entirely false. They make up their feelings in their heads while their real feelings go all wrong. That's why Germans come out with such startling and really silly burst of hatred.
It's the result of never living from their feelings, allways from the feelings they invented in their heads.
And that's why, as a bourgeois crowd they are so monstrously ugly. My God, how ugly they can be! ... And it's because they never live direct from their spontanious feelings; except in the matter of drinking and eating. God help us!
(Aus einem Brief an G. Orioli, Juli 1929, Baden-Baden)

(Die Deutschen sind höchst sonderbar. Die Dinge, die sie lieben, lieben sie aus sentimentalem Grunde. Das Heimatland, der Tannenbaum, das Brünnele, das Bächlein - beim bloßen Wort fällt ein Deutscher in eine Liebes-Trance, die manchmal nicht völlig gekünstelt ist. Ihre Gefühle legen sie sich im Kopf zurecht, während ihre wirklichen Gefühle fehl gehen.
Nur so sind ihre überraschenden und wirklich albernen Hassausbrüche zu erklären. Das kommt daher, dass sie niemals ihren wahren Gefühlen folgen, sondern immer nur den Gefühlen, die sie sich ausdenken. Und deshalb sind sie, im spießbürgerlichen Haufen, so monströs hässlich. Mein Gott, wie hässlich sie sein können! ... Und das, weil sie sich nie ihren spontanen Gefühlen hingeben - ausgenommen beim Essen und Trinken. Gott helfe uns!)

Ich muss zugeben, dass ich diesen "unspontanen" Charakterzug, auch von mir selbst kenne: den Hang, erst abzuprüfen, welche Gefühle "man" zu haben hat, und dann erst Gefühle zu äußern, die tief sitzende Unaufrichtigkeit, die Neigung, zum Lachen in den Keller zu gehen, und die "auf Kommando" Empörung oder Betroffenheit zu äußern - und auch den starken deutschen Hang zum Opportunismus. "Das tut man nicht!" ist in Deutschland immer noch ein starkes "Argument". (Wenn auch zum Glück nicht mehr so stark wie zu Kaisers Zeiten.)
Im (nicht seltenen) Extremfall reagiert "der Deutsche" auf bestimmte Reizworte, wie Lawrence richtig erkannte, wie Pawlows Hunde auf die Klingel: Dressur auf der Ebene des konditionierten Reflexes, unter Umgehung des Großhirns. Besonders gut klappt so was mit angstbesetzten Reizworten ("Terrorismus", "Kinderpornos", "Mafia", "Neonazis") die tatsächlich nicht nur in Boulevardmedien mit trauriger Zuverlässigkeit den "deutschen Beissreflex" auslösen: "Kontrollieren! Verbieten! Hart durchgreifen!" (Womit ich, das muss man in Deutschland leider extra sagen, sehr wohl entschieden gegen Terrorismus, Kinderpornographie, organisierte Kriminalität und Rechtsextremismus bin. Aber ich stelle mir die Frage nach Risiken und Nebenwirkungen der reflexartig vorgeschlagenen drastischen "Kuren".)
In Deutschland ist es meines Erachtens wegen der von D. H. Lawrence skizzierten Mentalität außerdem besonders einfach, Aufrichtigkeit zu heucheln. Oder das Einfordern eines Moralkodexes mit Moral zu verwechselt. Oder Empörung gegen Außenseiter zu generieren. Oder Menschen üble Motive und "niedere Beweggründe" zu unterstellen - weil ja praktisch jeder "irgendwo" Gefühle hat, die er sorgfältig vor der Öffentlichkeit verbirgt. Jeder hat "etwas zu verbergen", aber jeder, der "etwas zu verbergen hat", ist ein Bösewicht, also äußert der brave Deutsche deshalb, er hätte "doch nichts zu verbergen" und verdächtig jeden, der meint, er hätte ein gutes Recht, private Dinge zu verbergen, er würde "Böses" verbergen.

Übrigens sind meiner Ansicht nach auch die Briten "dank" ihrer Unspontanität durch "moralische Appelle" in Richtung Freiheitsverzicht manipulierbar - wenn auch dieser Hang, sich die Gefühle im Kopf zurechtzulegen, sich bei ihnen anders äußert. (Was vielleicht daran liegt, dass Deutsche seltsam anal fixiert sind - bevorzugtes Schimpfwort: "Scheiße", während im "angelsächsischen Raum" eher das Genitale "pfui" ist: "Fuck!" Womit die Briten psychoanalytisch gesehen immerhin "reifer" wären als wir Deutsche.  ;-))
Wir auch immer: George Orwell hat seine Landsleute verdammt gut eingeschätzt, als er "1984" schrieb.

Nachtrag: Missbrauchs-Opfer Gegen Internet-Sperren veranschaulich, welche Augenwischerei mit dem Kabinetsentwurf für Internetsperren verbunden ist.

(Anmerkung: ich habe, da die Übersetzung, die ich ursprünglich zitierte, meines Erachtens den lawrenceschen Sarkasmus nicht richtig wiedergab, das Zitat im Original angeführt und es, so gut ich es konnte, selbst übersetzt.

Nachtrag, 25. April: Jens Scholz erklärt klar und plausibel Warum es um Zensur geht.

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