Mittwoch, 20. Mai 2009

Umfrage: 90% sind gegen Netz-Sperren

Der Verein Missbrauchsopfer gegen Internetsperren hat über Infratest eine durch Spenden finanzierte Umfrage zur Internet-Sperren gemacht. Mehr als 90 Prozent gegen Sperrungen im Internet (Zeit.de).
Irgendwie weicht das Ergebnis auffällig von den "92 % für Netzsperren" der "Kinderhilfe"-Umfrage ab.

Mir gefällt vor allem, dass der Verein mogis so unaufgeregt und seriös gekontert hat. Vorbildlich für andere Aktionen!

Von Prioritätenlisten und faulen Sündenböcken

Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe hat zum Auftakt des 112. Deutschen Ärztetags den Vorwurf erhoben, dass die Politik die Öffentlichkeit bewusst über den Zustand des Gesundheitswesens täuschen würde. "Die Öffentlichkeit ist lange genug geblendet worden", erklärte er in Mainz. Wer heute "behauptet, die umfassende Gesundheitsversorgung sei sicher, der sagt schlicht und einfach nicht die Wahrheit". Ärztepräsident wirft Politik Lügen vor. Ärztepräsident Hoppe fordert eine Prioritätenliste. Was meiner Ansicht nichts an den strukturellen Konstruktionsfehlern des deutschen Gesundheitssystems ändern würde und die Tatsachen eher vernebelt. Es gibt einen Verteilungskampf innerhalb des Gesundheitssystems, und Hoppe vertritt in diesem Verteilungskampf eben die Interesse "seiner" Ärzte. Ein Vertreter z. B. der Pharmaindustrie würde anders reden.
Aber ich bin schließlich kein Gesundheitsökonom.

Gesundheitsökonom ist hingegen Professor Günter Neubauer, Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomik (IfG) in München, der von tagesschau.de interviewt wurde: "Künstliche Hüfte erst bei Normalgewicht". Ein Interview, das meines Erachtens einen unangenehmen propagandistischen Drall hat.
tagesschau.de: Was treibt die Kosten im Gesundheitssystem in die Höhe?

Neubauer: Zu den Hauptfaktoren gehören die medizinischen Innovationen, die für eine älter werdende Bevölkerung von hoher Bedeutung sind. Und natürlich die Demokratie, die sagt: Von den Innovationen soll möglichst keiner ausgeschlossen werden - zumindest keine wichtige Wählergruppe.
Eine, wie ich finde, unbefriedigende Antwort. Zwar sind medizinische Neuerungen und die demographische Entwicklung Faktoren bei der Kostensteigerung im Gesundheitswesen - wobei meiner Ansicht nach von einer "Kostenexplosion" keine Rede sein kann.
Einige weitere, spezifische deutsche, Gründe für ein teures Gesundheitswesen sind z. B. die in Deutschland überdurchschnittlich hohen Arzneimittelpreise, und die Tatsache, dass hierzulande z. B. erheblich mehr geröngt wird, mehr Katheteruntersuchungen gemacht werden, überhaupt ein Patient häufiger untersucht wird, als in unseren Nachbarländern. Im Falle z. B. des Röntgens durchaus auch zum gesundheitlichen Nachteil des Patienten.
Über Deutschland hinaus gibt es weitere Faktoren, die die Gesundheitskosten in die Höhe treiben. Da wären z. B. die erfundenen Krankheiten, vom "Sissi-Syndrom" bis zu utopisch niedrigen Cholesterin-Grenzwerten. Wie überhaupt die wirtschaftlichen Interessen der Arznei- und Hilfsmittelhersteller oft "über Bande" durchgesetzt werden. Es wird für meinen Geschmack auch zu wenig darüber diskutiert, dass die Pharmaindustrie mehr Geld für Public Relation als für Forschung ausgibt. Interessant ist auch die Tatsache, dass Privatpatienten, obwohl sie diagnostisch gesehen im Schnitt "gesünder" sind als Kassenpatienten, z. B. im Schnitt häufiger operiert werden als Kassenpatienten.
Der Anteil der Kosten für das Gesundheitswesen am Bruttoinlandsprodukt liegt übrigens seit Jahrzehnten ziemlich konstant bei 10 Prozent. Die finanziellen Probleme der Sozialsysteme sind nicht wegen einer "Kostenexplosion" eskaliert, sondern hauptsächlich wegen der Einnahmeeinbrüche durch die hohe Arbeitslosigkeit und unzureichende Lohnerhöhungen - denn Sozialbeiträge sind an die Löhne gekoppelt.

Zurück zum Interview. Neubauers Antworten haben einen "Spin", den man z. B. auch aus dem Harz-IV / ALG II -Diskurs kennt: "Wem es dreckig geht, der ist halt selber schuld".
Bei der Prioritätensetzung kommt ein Aspekt dazu, den auch Herr Hoppe meint: Es ist die Frage der Verursachung durch veränderbare Verhaltensweisen. Das heißt: Ein übergewichtiger Mensch sollte seine Hüfte erst erhalten, wenn er auf Normalgewicht kommt, weil dann diese Hüfte länger hält und er sich in dieser Form indirekt beteiligt. Zugleich ist dies eine Warnung an andere Übergewichtige, nicht erst alles in sich hineinzufuttern und die negativen Folgen von anderen finanzieren zu lassen.
Dass Neubauer dabei tatsächlich auch an Langzeitarbeitslose denkt, wird aus folgender Antwort klar:
Die Übergewichtigen würden in einer privaten Versicherung höhere Beiträge zu zahlen haben. Denn sie belasten durch ihr Übergewicht die Versichertengemeinschaft stärker. In der Solidargemeinschaft zahlen die Übergewichtigen aber in der Regel niedrigere Beiträge, weil meist auch ihr Einkommen niedriger ist. Von daher ist das Gefühl der Gerechtigkeit auch von der anderen Seite zu sehen: Der Beitragszahler, der jeden Morgen aufsteht und joggt, um sein Gewicht zu halten, wird es als äußerst ungerecht empfinden, dass neben ihm jemand erst um 8 Uhr aufsteht, bis 10 Uhr futtert, Übergewicht hat und dann eine Hüfte braucht, für die er mitzahlen muss.
Erst um "8 aufstehen und bis 10 Uhr futtern" kann regelmäßig eigentlich niemand, der Arbeit hat. Es ist meiner Ansicht nach bezeichnend, dass Neubauer den Faktor "Faulheit" hervorhebt, und nicht etwa den, dass z. B. Niedrigverdienern oft nichts anderes übrig bleibt, als sich "billig" und damit oft ungesund zu ernähren.
(Übrigens ist gerade Joggen nicht der ideale Sport für Menschen mit beginnender Arthrose. Aber Neubauer ist schließlich Gesundheitsökonom, kein Arzt.)

Der Ansatz, der von Neubauer vertreten wird, folgt der weit verbreiteten Tendenz, unreflektierte "Stammtischargumente" mit der kühlen instrumentellen Vernunft der Ökonomie zu verbinden.
Ein - mutmaßlich gut verdienender - privat Versicherter soll ruhig sein Übergewicht haben, denn er zahlt dafür. Ein gesetzlich Versicherter ist hingegen verpflichtet, der Gemeinschaft nicht "zu Last zu fallen", und hat gefälligst so gesund wie möglich zu Leben. Ganz besonders gilt das für die unproduktiven Langzeitarbeitslosen.

Fast erinnert Neubauers Antwort an den berühmt-berüchtigten ehemaligen Berliner Ex-Finanzsenator Sarrazin. Sein Speiseplan für Hartz IV-Empfänger, mit dem er beweisen wollte, dass man sich auch mit dem Regelsatz gesund und ausreichend ernähren könnte, war auf einen unrealistisch niedrigen Tagesbedarf von 1.550 kcal ausgelegt. Sarrazin "rechtfertigte" seine Hungerdiät mit dem zynischen Ausspruch: "Wenn man sich das anschaut, ist das kleinste Problem von Hartz-IV-Empfängern das Untergewicht".

Der Mensch im ökonomistischen Weltbild ist ein Kostenfaktor, Abweichungen von der Norm erzeugen Verluste, folglich muss der Mensch für das System zugerichtet werden. Juli Zeh stellt in ihrem dystopischen Roman "Corpus Delicti" die logische Konsequenz des Kosten-Nutzen-Denkens im Gesundheitswesen dar: eine Gesundheitsdiktatur, in der "Abweichler" zu Gunsten des vermeindlichen Gemeinwohls "beseitigt" werden. Juli Zeh über Gesundheitsdiktatur (Zeit.de).

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