Anti-Netz-Ideologie

Herfried Münkler, Professor für Politik an der Humboldt-Universität Berlin, in einem Kommentar in der Frankfurter Rundschau:
Es ist eine eigentümliche Schar, die sich unter dem Banner der Netzfreiheit versammelt hat. Einerseits kriminelle Geschäftemacher, die das Internet benutzen, um verbotene Produkte an den Mann zu bringen, und andererseits ein Ensemble von Freiheitskämpfern, die ihre anarchistischen (kein Staat!) oder kommunistischen Ideen (kein Eigentum) in der virtuellen Welt des Internets realisieren wollen.
Netz-Anarchos und trojanische Pferde gefunden über netzpolitik.org.

Es ist überraschend, ausgerechnet bei einem Politologen auf ein so klassisches Beispiel ideologischen Denkens zu stoßen. (Bei Politikern und Journalisten ist man es ja gewohnt.)
Zugegeben, auch viele Aktivisten der Netzfreiheit neigen dazu, ideologisch zu denken. Etwa dazu, den ungehinderten Informationsaustausch im Internet für die Lösung aller Probleme der Menschheit zu halten. Oder dazu, jenen, die eine unbeschränkte Netzfreiheit, aus welchen Gründen auch immer, skeptisch sehen oder gar ablehnen, stets egoistische und böswillige Motive zu unterstellen.

Blankes, unverholenes ideologisches Denken finde ich zur Zeit allerdings eher auf Seiten jener, die für mehr staatliche Eingriffe und Beschränkungen "im Internet" eintreten. Ganz extrem findet man es im Umfeld der "Stoppschild"-Befürworter, die Zugangsbeschränkungen für ein wirksames Mittel im Kampf "gegen Kinderpornographie im Internet" halten.

Zur Begriffsklärung, was mit "ideologischem Denken" gemeint ist, nun ein längeres Zitat :
Ideologen verschließen sich dem unaufhebbarem Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, indem sie einen Teilaspekt totalisieren. Wir haben es also mit zwei innerlich zusammengehörenden Momenten zu tun: dem der Ausklammerung und dem der Totalisierung. Aus der Verschränkung dieser beiden Momente ergibt sich für den Außenstehenden der Eindruck eines fehlenden Gefühls für Proportionen und Konsequenzen beim Ideologen. Der Betreffende selber hingegen ist von der Gewissheit erfüllt, eine Wahrheit von universeller Gültigkeit zu besitzen, alle Phänomene erklären zu können und ein Heilmittel für alle Leiden der Menschen zu besitzen, und zwar aus einem System, das sich durch Tatsachen nicht mehr widerlegen läßt und auch keines Beweises mehr bedarf, weil es aus sich selbst heraus für sich spricht.
Der Anspruch des Ideologen an sein System ist genau so maßlos wie an seine Umgebung. Dabei ist er persönlich aber weder zu wechselseitiger Anerkennung noch zu wechselseitiger Kritik willens oder fähig. Beides würde den Anspruch des Ideologen, daß die ganze Wirklichkeit in seinem Kalkül aufgehen müsse, gefährden.
Seinen Egoismus kann er jedoch bei sich selber nicht erleben, sondern muß ihn auf die Außenwelt projizieren. So kommt es, daß er jede Kritik an seinem System dadurch entkräftet, daß er sie auf die subjektive Motivation des Kritikers verlagert, dem er seinerseits Egoismus und Böswilligkeit unterstellt.
(aus: Werner Huth, Glaube, Ideologie und Wahn, Frankfurt/M: Ullstein, 1988, S. 233 u. bis S. 234 o. - Hervorhebungen im Original.)

Ein ungemein typisches Merkmal für ideologisches Denken ist das Vereinheitlichen von Feindbildern und das Verschwörungsdenken - unterschiedliche Gegner der Ideologie, die ansonsten völlig unterschiedliche, ja sogar gegensätzliche Interessen haben, stecken "in Wirklichkeit" (also im ideologischen Denken) unter einer Decke.

Prof. Münkler unterstellt nicht, dass (kriminelle) Geschäftemacher, Kommunisten und Anarchisten in Hinblick auf "Kinderporno"-Seiten gemeinsame Interessen hätten. Aber irgendwie raufen sich diese gegensätzlichen Gruppen zusammen, wenn es gegen ein Gesetzesvorhaben der Bundesregierung geht, dass tatsächlich die Interessen dieser drei Gruppen gar nicht berührt - jedenfalls dann nicht, wenn es wirklich auf KiPo-Seiten beschränkt bliebe.
Tatsächlich bringt Prof. Münkler in seinem Aufsatz das Thema "Urheberrecht", das mit der KiPo-Problematik an sich nichts zu schaffen hat, außer, dass das Mittel der Netzsperren von manchen Vertretern der Inhabern von Verwertungsrechten als probates Mittel gegen "Raubkopierer" gesehen wird. Erst wenn der "Kampf gegen Urheberrechtsverletzungen" mit einbezogen wird, geht die ideologische Gleichung (zumindest aus Sicht des Ideologen) auf: erst damit haben nämlich "Geschäftemacher, Kommunisten und Anarchisten" ein gemeinsames Interesse, das ihnen (halbwegs plausibel) unterstellt werden kann.
Aus der Sicht einer ideologischen Gegners der Netzfreiheit ist es "selbstverständlich" klar, dass es sich bei den "Zensursula"-Gegner nur um aus egoistischen oder böswilligen Motiven handelnde Menschen handeln kann.

Nebenbei, aber wichtig: "Kinderpornographische" Websites machen nur einen winzigen Teil des gesellschaftlichen Problems "Kinderpornographie" aus, die wiederum nur ein winziger Teil des schweren gesellschaftlichen Problems "Gewaltverbrechen gegen Kinder" (alias "Kindesmissbrauch" - cetero censeo: dieses Wort unterstellt, es gäbe einen "korrekten Gebrauch" von Kindern) ist.

Nachtrag: Was bin ich - Krimineller, Anarchist oder Kommunist? fragt sich der Wirtschaftsinformatiker Christian Reinboth in seinem Sci-Blog
Gregor Keuschnig - 19. Jun, 09:36

Die Definition des Ideologen kann sehr wohl auf die Unzahl der mit den bekannten Schlagworten agierenden Netzfreiheitskämpfer auch gelten. Man sollte sich nicht wundern, wenn man da irgendwann nicht mehr Ernst genommen wird, wenn mit Begriffen wie "SSchäuble" oder "Zensursula" nur noch so herumgeworfen wird. Schön auch dieses kleine Beispiel hier, wo ein simpler Referrer zum Indiz des Überwachungsstaates wird.

Ich finde die "Netzgemeinde" katapultiert sich mit ihren zum Teil vollkommen überzogenen Formulierungen und Vergleichen immer ein weiter ins abseits. Als Partygags sind Begriffe wie die oben genannten mal ganz nett - als seriöse politische Auseinandersetzung vollkommen kontraproduktiv.

Wirr-Licht - 19. Jun, 11:37

als seriöse politische Auseinandersetzung vollkommen kontraproduktiv.

im gegenteil - im zeitalter der "political correctness" haben ja sogar solche satririsch-karrikierenden wortspielchen einen gewissen knalleffekt, der zumindest ein wenig aufmerksamkeit erregt. die schlagworte "SSchäuble" "Stasi 2.0" oder "ZensUrsula" sind selbstverständlich keine basis für eine diskussion, wohl aber für den konflikt und die auseinandersetzung.

im vergleich zum biederen konfliktvermeidungsvokabular der politik (was ja irgendwie schon fast "doublespeak" ist), auf das eh´ niemand hört, muss doch mal irgendwer das maul aufmachen.

schliesslich wird man als "normalbürger" ja auch schon wie eine unter terrorverdacht stehende person überwacht, gefilmt, einem hinterherspionert, kurz gesagt: einem wird hinterhergeschäublet. und vorher guckt die zensursula, das man auch ja angst hat, im netz zu fischen.

nicht das irgendwer versucht, die scheiss-kinderficker bzw. deren machenschaften zu bestrafen, nein, das wäre ja zu viel verlangt.

da könnte man ja gleich hergehen, und die mafia verhaften, anstatt die kleinen fische zu fangen.
MMarheinecke - 19. Jun, 21:12

Dass auf beiden Seiten Ideologen am Werk sind ...

... erwähnte ich ja schon im Beitrag. Nur ist es so, dass der Ideologieverdacht gegenüber Netzaktivisten schon seit über 10 Jahren im Raum steht (in vielen Fällen: zu recht), während die Feinde des "offenes Netzes", abgesehen von den manchmal in der Tat grotesken Vorwürfen ideologisierter Netzaktivisten, als die - vielleicht manchmal etwas aktionistischen, vielleicht manchmal schlecht informierten, aber doch mehr oder weniger pragmatisch Denkenden dastehen. (Und zwar nicht nur in der "Holzpresse".)

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die heftigen, politisch inkorrekten, Sprüche nützen oder schaden. Im Falle des Namens "Piratenpartei" bin ich der Ansicht, dass er dienlich ist: ein Vorwurf - "ihr seid doch alle Internet-Piraten, euch geht's doch nur im Downloads, ohne zu zahlen" - wird ironisch aufgegriffen. "Stasi 2.0" ist grenzwertig, was den politischen-taktischen Nutzen angeht, ebenso "Zensursula" - allerdings angesichts der heftigen, auch nicht eben rücksichtsvollen Vorwürfe und Verdächtigungen aus dem Munde Schäubles oder von der Leyens als Ausdruck der Wut angebracht. Denn es muss, von unserer Seite aus, kommuniziert werden, wie groß die Wut schon ist.
Wobei ich den Eindruck habe, dass wir erst dann wirklich ernst genommen werden, wenn 160.000 wütende Menschen tatsächlich auf der Straße stehen.

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