Kulturelles

Montag, 3. März 2008

Giordano-Bruno-Denkmal

Mit mehr Angst verkündet Ihr das Urteil, als ich es entgegennehme.
Giordano Bruno

Am Sonntag, dem 2. März 2008, wurde in Berlin, am Potsdamer Platz, ein Denkmal des am 17. Februar 1600 auf dem Campo de’ Fiori in Rom wegen "Ketzerei und Magie" bei lebendigem Leib verbrannten Philosophen und Dichters Giordano Bruno enthüllt. (Bericht des humanistischen Pressedienstes: Giordano-Bruno-Denkmal enthüllt.)
Die Skulptur des Berliner Bildhauers Alexander Polzin ist absichtlich nicht "schön", im Sinne einer gefälligen Ästhetik, sie soll verstören:
Die sechs Meter große, kopfunter hängende Menschenfigur wurde aus einem einzigen Fichtenstamm herausgeschnitten und dann in Bronze gegossen. Die angedeutete Schraubbewegung zielt auf das Inbild des nackten, geschundenen Menschen mit überstreckten Füßen, Armen und Händen.
Die sechs Finger an einer der beiden Hände bringt den visionären Abweichler, den Theoretiker des Übermenschlichen in’s Spiel. Der Brustansatz verweist auf die undogmatische, arkane, gleichsam feminine Seite Brunos Naturphilosophie.
Das Holz, das dem Entwurf zu Grunde liegt, ein Kohlenstoffmaterial, verwandelt sich mit all seiner Maserung in eine Kupfer-Zinn-Legierung. „Damit haben, was wir brauchen: eine Rhetorik des Feuers, die diesem Mann gerecht wird, eine Ahnung von der Sprache der Alchemie und der Metamorphosen, die ihn als Pantheisten beflügelte. Bruno war gewiß der furchloseste und aufrichtigste aller neuzeitlichen Kosmologen.“
Ein wichtiger Ansatz. Allzu leicht wird Bruno auf die Rolle des "Märtyrers der Wissenschaft", des überzeugten Kopernikaners, reduziert, der von der reaktionären "Heiligen Inqusition" zum Feuertod verurteilt wurde.
Allerdings wurde Bruno nicht deswegen verurteilt, weil er die kopernikanische Lehre vertrat. Laut "wikipedia" postulierte Bruno die Unendlichkeit des Weltraums und die ewige Dauer des Universums. Damit stellte er sich der herrschenden Meinung einer in Sphären untergliederten geozentrischen Welt entgegen. Viel schwerer wog damals, dass seine pantheistischen Thesen von einer unendlichen materiellen Welt keinen Raum für ein Jenseits ließen, die zeitliche Anfangslosigkeit des Universums eine Schöpfung und dessen ewiger Bestand ein Jüngstes Gericht ausschlossen. Entgegen der Darstellung der "Wikipedia" ist dieser Schluss aus einem pantheistischen Weltbild keineswegs zwingend, und mir ist nicht bekannt, dass Giordano so gedacht hätte. Wer aber so dachte - und oft bis heute so denkt - sind christliche Theologen. Bruno meinte zudem, dass Jesus nicht der Sohn Gottes sei. Das ist in der Tat ein Grund, Bruno als "Ketzer" zu sehen. Ob es - ohne weitere Vorwürfe - als Begründung des Todesurteils ausgereicht hätte, darf bezweifelt werden.

Ich begrüße es, dass die Skulptur auf einen gern übersehenen Aspekt der Persönlichkeit Brunos hinweißt: er war auch Alchimist und Magier. Magier nicht nur im Sinne seine abergläubischen Zeitgenossen, die etwa seine Gedächtniskunst für "Zauberei" hielten, sondern im Sinne der "natürlichen Magie" der frühen Neuzeit. Seine Hinrichtung muss vor dem Hintergrund der Hexenverfolgung der frühen Neuzeit gesehen werden, die Ende des 16. Jahrhunderts einen traurigen Höhepunkt erreichte. Wenn man so will, war Giordano Bruno eine "männliche Hexe" - jedenfalls für seine Richter.

Dass Giordano Bruno nicht nur ein "Vordenker der modernen Wissenschaft" war, der "leider noch nicht den Schritt zur mathematisierten Physik gemacht hatte", wird oft verdrängt. So, wie verdrängt wird, dass Galileo Galilei bei seinem mathematischen Ansatz an die Zahlenmystik der Pythagoräer anknüpfte, Johannis Kepler ebenfalls Zahlenmystiker" und (trotz Bedenken) erfolgreicher Astrologe war, oder Isaac Newton sich sein Leben lang intensiv mit Alchimie beschäftigte. Tatsächlich könnte es sein, dass Newton, hätte er nicht "magisch" sondern im Sinne Descartes "rational" gedacht, seine mit Fernwirkungen arbeitende Gravitationstheorie nie hätte entwickelt können.

Website zum Denkmal: Giordano-Bruno-Denkmal

Samstag, 23. Februar 2008

Festivalsterben. Merkt das eigentlich wer?

Fragte Karan auf Twitter.

Abgesehen davon, dass es sicherlich ein "gefühltes" Festivalsterben (bezogen auf Musikfestivals) gibt, etwa in dem Sinne, dass "früher immer mehr los" war, offenbart schon eine kurze Internetsuche nach bekannten Festivals, dass es mehrere von ihnen schlicht nicht mehr gibt, während andere mit diversen Schwierigkeiten zu kämpfen haben.

Eine dieser Schwierigkeiten ist die "Kostenfalle": man glaubt dem Publikum einen gewissen "professionellen Standard" schuldig zu sein. Dieser "professionelle Standard" kostet aber Geld, was sich auf die Eintrittspreise niederschlägt oder bzw. und die Abhängigkeit von Sponsoren (sprich: Werbung) erhöht. Beides führt in unschöner Regelmäßigkeit zu sinkenden Zuschauerzahlen.

Eine andere Schwierigkeit ist, dass kommunale Räumlichkeiten, wie Bürgerhäuser, Sporthallen usw. nicht mehr zur Verfügung stehen oder die selben Mieten nehmen, die kommerzielle Veranstalter zu zahlen bereit sind.

Eine ganz erhebliche Schwierigkeit trägt den Namen "Sicherheit". Ohne regulären "professionellen" Ordnungsdienst geht oft nichts mehr - auch wenn ein paar freiwillige Ordner locker reichen würden. Der Grund sind Auflagen der Kommunen und der Versicherungen. Die Angst, dass "etwas passieren könnte", steigert sich mittlerweile zur ausgewachsenen Phobie. Nicht immer ganz grundlos: zwar gibt es auch nicht mehr "Krawalle" als früher, aber mittlerweile weiß man in jedem Rathaus, dass a) "die Medien" gierig auf den kleinsten "Krawall" lauern und b) ein "Krawall", der in die Zeitung, ins Radio oder ins Fernsehn kommt, Gift für das Image der Stadt und tödliches Gift für die Karriere eines verantwortlichen Kommunalpolitikers ist.

Immerhin bin ich ganz froh, dass wenigstens das Wutzrock-Festival "umsonst & draußen" bei mir "um die Ecke" dieses Jahr wieder stattfinden wird ...

Sonntag, 3. Februar 2008

Manipulative Kinderbücher?

Über das "Ferkelbuch" habe ich ja schon einige Worte verloren "Bangemachen gilt nicht!" - oder: Kinderbibel für Skeptiker , aber es gibt einen interessanten Nebenaspekt, der z. B. in der SZ angesprochen wird. Alex Rühle beginnt seinen Artikel nämlich so:
Es gibt viele schlechte Kinderbücher; am schlechtesten aber sind die indoktrinierenden. In ihrem Bemühen, den Kindern nur ja die richtige Botschaft einzuhämmern, verzichten die Autoren auf alle Originalität, auf jedes erzählerische Detail, das einfach nur da sein darf, absichtslos, interessant und schön. Die Illustratoren malen dazu keine eigenständigen Bilder, sondern pinseln farbige Thesen.
(aus: Indizierungsverfahren gegen Kinderbuch - Der hässliche Rabbi.)

Ähnlich argumentiert auch Alan Posener:
Ein Fall für den Index? Kinderbücher, die zu unterhalten vorgeben, in Wirklichkeit aber erziehen wollen, sind ohnehin eine Pest. Eigentlich gehörten sie alle verboten. Aber Kinder sind weniger doof, als die meisten Eltern und Zensoren glauben. Wenn sie die Gelegenheit haben, greifen sie instinktsicher zu moralfreien Geschichten wie „Pu der Bär“. Der wird ein Klassiker bleiben, wenn dieses traurige Dokument der Borniertheit längst vergessen ist. Es zu verbieten wäre zu viel der Ehre.
Wie antisemitisch kann ein Kinderbuch sein?

Nicht ganz nebensächlich ist in diesem konkreten Fall, dass der Vorwurf der "Öde", den Alex Rühle macht, meines Erachtens nicht zutrifft. "Wo bitte geht es zu Gott?" ist ein freches Kinderbuch, das den (pädagogischen) Holzhammer in der Werkzeugkiste lässt.
Was aber stimmt: es hat eine Agenda. Da diese Botschaft sich gegen Autoritäten wendet, dürfte sie bei den Kindern ankommen. Mit den "bösen Buben" Max und Moritz identifizierten sich in jeder Generation auf Neue deutlich mehr junge Leser, als mit ihren Opfern. Auch in der Bildschirmwelt der Cartoons und Animes haben freche Figuren mehr Fans als "brave".
Eher nebensächlich ist, dass "Pu der Bär" alles andere als "moralfrei" ist. Jedenfalls ist er nicht annähernd so frei von "mahnenden Lektionen" wie die allseits beliebte Junganarchistin "Pippi Langstrumpf". Pu gerät z. B. durch seine Verfressenheit so oft in die Klemme, dass die erzieherische Botschaft "nasche nicht so viel" unübersehbar ist.

Zum Vergleich mit dem umstrittenen Buch habe ich mir einige Kinderbibeln angesehen. Da gibt es solche und solche. Solche, die sich optisch und textlich nicht sonderlich von Märchenbüchern oder Sagen-Nacherzählungen unterscheiden. (Mal ehrlich: was sind nacherzählte biblische Mythen den anderes als Märchen und Sagen?) Also harmlos. Und solche, die bewusst "mehr" sein sollen, als "nur" eine Art Märchenbuch. In denen infolgedessen die christliche Moral (oder das, was die Verfasser dafür halten) daumendick aufgespachtelt wird. Angstmache, anti-wissenschaftlicher Schöpfungsglaube und ab und an eine Prise Antisemitismus inklusive. Komisch nur, dass sich kein Leitartikler in der "Welt" oder der "Süddeutschen" über solche Kinderbibeln aufregt.

Aber so ganz unrecht haben Posener und Rühle nicht. Kinder- und Jugendbücher mit manipulativer Botschaft sind tatsächlich eine Plage.
Michael Ende schrieb in "Die unendliche Geschichte" über den Lesegeschmack seines "Helden" Bastian:
Er mochte keine Bücher, in denen ihm auf eine schlechtgelaunte und miesepetrige Art die ganz alltäglichen Begebenheiten aus dem ganz alltäglichen Leben irgendwelcher ganz alltäglicher Leute erzählt wurden. Davon hatte er ja schon in Wirklichkeit genug, wozu sollte er auch noch davon lesen? Außerdem hasste er es, wenn er merkte, daß man ihn zu etwas kriegen wollte. Und in dieser Art von Büchern sollte man, mehr oder weniger deutlich, zu was gekriegt werden.
Das heißt nicht, dass Endes Bücher keine Botschaft hätten, oder keine Moral vermitteln würden. Im Gegenteil: es gibt kaum "erzieherischere" Kinderbücher als "Jim Knopf", "Momo" oder "Die unendliche Geschichte". Der Unterschied zwischen Endes Büchern und den gut gemeinten "pädagogisch wertvollen" Langweilern liegt in zwei Punkten: Sie sind nicht langweilig, sondern spannend, exotisch, abenteuerlich, und ihre erzieherische Botschaft befreit die Leser von Zwängen, regt sie zum selber Denken an, anstatt Zwänge zu verstärken oder Tabus zu errichten.
Schmidt-Salomon hat nicht annähernd das Talent eines Michael Endes oder z. B. eines Max Kruses (oder einer Joanne K. Rowling). Sein Buch ist vergleichsweise plump. Aber langweilig oder unoriginell ist es wirklich nicht.

In all der Aufregung um Ursula von der Leyens Indizierungsantrag gegen "Wo bitte geht es zu Gott?" wird allzu leicht übersehen, dass die hinter dem Versuch der Ministerin stehende Geisteshaltung seit einiger Zeit Aufwind hat. Man denke nur an den "Fall" des kirchenkritischen Karikaturisten und Bilderbuchzeichners Janosch. In dankenswerter Deutlichkeit sprach der damalige bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber im Juni letzten Jahres aus, worum es dabei geht: Stoiber bezeichnete Janosch als "falschen Propheten". Man dürfe nicht zulassen, dass Janosch mit seinen antireligiösen Zeichnungen und Kommentaren "Zugang zu unseren Kinderzimmern erlange". Stattdessen müssten Kirche, Gesellschaft und Politik "an einem Strang ziehen" und den Kindern "Orientierung, Werte und Religion" vermitteln. Stoiber attackiert Janosch. (Die Pointe dabei ist, dass Janosch' Kinderbücher gar nicht religionskritisch sind.)

Wir wundern uns, wenn christliche Fundamentalisten in den USA Harry Potter-Bücher und -Filme verboten sehen wollen - oder sogar öffentlich verbrennen. Ihr Motiv ist Angst - vorgeblich Angst davor, dass ihre Kinder "okkulte" Praktiken lernen könnten, tatsächlich aber die Angst, dass die jungen Menschen ihre starren moralischen Maßstäbe in Frage stellen könnten.
Die Ängste von Politikern wie Stoiber und von der Leyen gehen offensichtlich in eine ähnliche Richtung.

Dienstag, 8. Januar 2008

Sei wachsam!

In den Kommentaren von Udos law blog fand ich ein kulturelles Kleinod aus dem Jahre 1997, das tatsächlich so aktuell wie nie ist:
Reinhard Mey: Sei wachsam (live).

Um Reinhard Mey, der in den 70er, 80er und frühen 90ern als deutschsprachiger Chansonnier (das trifft es besser als "Liedermacher" oder "Schlagersänger") sehr beliebt war, ist es leider anscheinend etwas still geworden. Obwohl nur wenige seiner Titel so "politisch" wie "Sei wachsam" sind, sind seine durchweg intelligenten Texte selten wirklich "unpolitisch". Das ist noch nicht einmal sein bekanntestes Lied "Über den Wolken", das ursprünglich die B-Seite einer Single war, auf deren A-Seite der satirische und deutlich zeitkritische "Mann aus Alemania" zu hören ist. (Es war eine meiner ersten Platten. Kopfhörer)

(Und wehe es mosert hier einer: "Mey ist doch spießige Mainstream-Kacke für Ommas!") warrior

Freitag, 28. Dezember 2007

Tatort "Tatort"

Nebenbei gesagt enthält die Serie “Tatort” mehr Gesellschafts-und Sozialkritik als die ganze deutsche Popliteratur. Che2001, Polit-Blogger

Anlass für diesen Artikel ist der Strafantrag wegen Volksverhetzung, der von der Alevitische Gemeinde Deutschland gegen den NDR gestellt wurde. welt.de: Strafanzeige wegen Tatort-Folge gestellt, telepolis: Wem keine Ehre gebührt

Die umstrittene Tatort-Folge lief am 23.12., heißt "Wem Ehre gebührt" und thematisierte unter anderem Inzest in einer sich deutlich vom sunnitischen Islam unterscheidenden Religionsgemeinschaft, den Aleviten. Das eigentliche Problem bei diesem Film war, dass der Film - unbeabsichtigt - ein in der Türkei offensichtlich noch weit verbreiteten diffamierenden Vorwurf gegen die alevitische Minderheit - nämlich die des (rituellen) Inzests unter Aleviten. Dieser Vorwurf ist vergleichbar mit dem des Ritualmords an christlichen Kindern, der den Juden über Jahrhunderte in Europa zum Vorwurf gemacht wurde, um sie zu diskreditieren.
So weit, so schlecht. Allerdings gehören anti-alevitische Vorurteile zu jenen Dingen, über die in Deutschland lebende sunnitische Türken nicht mit Außenstehenden reden. Ich wäre mir dieses Konfliktes nie bewusst geworden, wenn ich nicht zufällig einen türkischen Arbeitskollegen alevitischen Glaubens gehabt hätte, und er nicht zufällig mal unter Kollegen seinen Frust über dieses "innertürkische" (und "uns" deshalb angeblich "nichts angehendes") Problem von der Seele geredet hätte.

Egal, ob dieser Fauxpas nun auf Unkenntnis bzw. mangelhafte Recherche der Drehbuchautorin Angelina Maccarone oder auf die tendenziöse Beratung durch sunnitische Türken zurückzuführen ist - über den aktuellen Anlass hinaus wird am Fall "Wem Ehre gebührt" deutlich, wieso so viele Autoren vor sozialkritischen Themen zurückscheuen. Burkhard Schröder, Verfasser des telepolis-Artikels, bringt es auf den Punkt:
Juden, Einwanderer oder nationale Minderheiten im deutschen Fernsehen - das ist immer noch der Gang durch ein Minenfeld, auf dem die Sprengsätze der Political correctness häufig die treffen, die die es besonders gut meinen.
Der "sicherste" Weg, diesen "Sprengsätzen" aus dem Weg zu gehen, ist es, sich einfach nicht mit diesen Themen zu befassen. Oder gleich alle "heißen Eisen" in der "Unterhaltungskultur" zu meiden - es sei denn, es gibt eine solide verankerte "Konsensmeinung" zu solchen Themen, z. B. die, dass Neo-Nazis böse sind.

Entsprechend sieht dann die deutschen Pop-Literatur aus, entsprechend auch die deutsche Krimi-Normalware. Der übliche Polt eines deutschen Fernseh-Krimis lässt sich in etwa so beschreiben: Eine rätselhafte Tat - fast immer ist es Mord - geschieht unvermittelt in einem anscheinend intakten, meistens klein- bis gut-bürgerlichen, Milieu. Es wird viel geredet und am Ende wird einer von mehreren Verdächtigen möglichst überraschend als Täter identifiziert.
Daneben gibt es Plots, die die Strickmuster amerikanischer und britischer Krimiserien möglichst genau kopieren - um den Reiz der Originale meistens weit zu verfehlen.
Krimis nach dem "Rede- und Ratekrimi"-Schema gibt es fast nur im öffentlich-rechtlichen, solche nach dem Schema "Action ist alles, Realismus und Logik nichts" tendenziell häufiger im privaten Fernsehen.

Die Frage ist also, wieso beim "Tatort" außer etlichen "Standardkrimis" relativ oft sozialkritische und realistische Stoffe zu sehen gibt.

Meiner Ansicht nach geht das auf eine deutsche Tradition des realistischen, kritischen Kriminal-Fernsehfilms zurück. Eine Tradition, die in den 1960er und 70er Jahren begründet wurde, und die nicht nur für mich vor allem mit dem Gespann "Regie: Jürgen Roland, Buch: Wolfgang Menge" verbunden ist.

Der dieses Jahr verstorbene Regisseur Jürgen Roland kam vom Journalismus. Bekannt wurde er in den 50er Jahren mit seiner ersten Fernsehserie "Der Polizeibericht meldet ..." Roland recherchierte echte Kriminalfälle nach und stellte sie für das Fernsehen authentisch und millieugetreu dar. Sein Durchbruch gelang ihm mit der nach dem Vorbild der US-Serie "Dragnet" ab 1958 produzierten Krimiserie "Stahlnetz", für die er eng mit dem Drehbuchautor Wolfgang Menge zusammenarbeitete. Wie "Der Polizeibericht meldet ..." und "Dragnet" beruhte "Stahlnetz" auf realen Fällen, allerdings neigte "Dragnet" dazu, die Polizeiarbeit zu glorifizieren und eine Sichtweise der Kriminanalität streng im Sinne der Öffentlichkeitsarbeit des Los Angeles Police Department (L.A.P.D) zu kultivieren. (Deshalb, und wegen der klischeehaften Darstellung, wurde "Dragnet" auch eine beliebte Zielscheibe von Parodien.) Schon dadurch, dass "Stahlnetz" auf wiederkehrende Charaktere und Schauplätze verzichtete, wirkte Rolands Serie realistischer als das Vorbild. Die meisten "Stahlnetz"-Folgen hatten, obwohl sie oft die Polizeiarbeit in einer für heutige Sehgewohnheiten langatmig anmutenden Akribie nacherzählten, deutlich mehr kritische Distanz und weniger Kriminellen-Klischees als "Dragnet".
"Stahlnetz" sorgte damals für Rekord-Einschaltquoten.
Die "Stahlnetz"-Folge Das Haus an der Stör aus dem Jahr 1963 schrieb nicht nur wegen der auch nach heutigen Maßstäben spannenden Dramaturgie Fernsehgeschichte, sondern weil sie ein damals oft verdrängtes, weil unbequemes Thema aufgriff: Kriminalfälle, die in den Wirren der Nachkriegszeit "liegengeblieben" waren, bzw. Taten, die allzu leicht durch die "Zeitumstände" entschuldigt wurden. (Für das noch brisantere Thema "vertuschte Verbrechen aus der Nazizeit" war die Zeit wohl noch nicht reif.)

Eine weitere genreprägende Roland/Menge Koproduktion war der Kinofilm Polizeirevier Davidwache mit seinem harten Realismus, seinem ambivalenten Helden, Hauptwachtmeister Glantz (ambivalent, weil der Verdacht, dass Glanz den gerade aus langer Haft entlassenen Bruno Kapp einen Drogenschmuggel "angehängt" hatte, nicht aufgelöst wird) und wegen des fehlenden "Happy Ends" - Glantz stirb.

"Tatort", ausdrücklich als "Stahlnetz"-Nachfolger mit mehr gestalterischen Möglichkeiten konzipiert, folgte sehr oft der realistischen Roland/Menge Tradition, obwohl Roland und Menge nur an vergleichsweise wenigen "Tatorten" direkt beteiligt waren. Außerdem bot "Tatort" von Anfang an Raum für Experimente und Tabubrüche: schon in der erste Folge "Taxi nach Leipzig" (1970) wag sich Hauptkommisar Trimmel (vorschriftswidrig) für Ermittlungen in die DDR, wo er einen befreundeten Kollegen hat.

Ein weiterer Einfluss, der in vielen neueren "Tatort"-Folgen zu spüren ist, ist der des sozialkritischen "Schwedenkrimis": Filme nach den Kriminalromanen von Maj Sjöwall / Per Wahlöö, Håkan Nesser oder Henning Mankell erfreuen sich im deutschen Fernsehen großer Beliebtheit - und wurden zum Vorbild ähnlicher "Tatort"-Folgen, in denen es darum geht, das Ermittler, die selbst unter Problemen leiden, Motive "sozial ausleuchten". Dass das manchmal ins Klischeehafte abgleitet - geschenkt, schließlich kann bei einer schon 37 Jahre laufenden Serie nicht jede Folge ein Meisterwerk sein.

Um auf den Krimi "Wem Ehre gebührt" zurückzukommen: auch wenn der Vorwurf der Aleviten sich nicht ganz vom Tisch wischen lässt, ist die Geschichte ist fiktiv - und auch in anderem Kontext denkbar. Trotz Fauxpas: die Pressefreiheit geht vor.

Donnerstag, 27. Dezember 2007

"Ich bin ein Monster!"

Genauer gesagt bzw. gesungen: "Ich bin ein Monstääär, tief unten im Meer, und keine Sonne scheint zu mir her!"
Womit klar sein dürfte, dass es jetzt nicht um einen Online-Stellenmarkt geht, sondern um ein Lied. Ein Lied aus einer sehr hörenswerten neuen CD, die den schlichten und dabei so wahren, programmatischen und bedeutungsschwangeren Titel "drei" trägt.
drei cover

Wie ich schon mal erwähnte, profitierten die "Singvøgel" live sehr von der Erweiterung zum Trio durch Sven als Drummer und Percussionist. Sie klingen mit Sven dichter, voller, dynamischer und oft deutlich rockiger.

Auch wenn die Singvøgel auch als Duo wegen ihrer enormen instrumentellen Bandbreite nie das Klischee der "Liedermacher mit Klampfe" erfüllten, unterscheidet sich "drei" in der musikalischen Ausführung deutlich von den beiden Vorgängern Hart am Rande und Lieder sind. Wenn es im Promotion-Text heißt:
Zwei Männer und eine Frau – aber mehr Instrumente als eine 6-köpfige Rockband
so ist das kaum übertrieben. Die nüchterne Information
Karan – Gesang, Gitarren, E-Bass, Querflöte, Orgel, Klavier
Duke Meyer – Gesang, E-Bass, Syn-Bass, Gitarren
Sven Scholz – Schlagzeug, Percussion
gibt längst nicht alles wieder, was auf "drei" zu hören ist.
An dieser Stelle ist ein Lob an Andy Stadelmann angebracht, der nicht nur E-Bass und Viola spielte, sondern zusammen mit Duke die Abmischung und Produktion der CD übernahm. Auch wenn man es angesichts der auf hohem professionellen Niveau stehenden Produktion kaum glaubt: Dukes "Technoschamanenhöhle" alias "Echsenflug Studio" ist weit von den Möglichkeiten eines modernen kommerziellen Aufnahmestudios entfernt!

Die stilistische Bandbreite der "Singvøgel mit dem schrägen ø " ist ebenfalls weit gespannt. Nach eigenen Angaben ist ihr musikalischer Nenner ist Unberechenbarkeit: Folk, Rock, Pop, ein Hauch von Punk. Allerdings neigt sich die stilistische Waage auf "drei" deutlich in Richtung "Rock und Pop". Manche Fans mögen bedauern, dass "die Singvøgel" damit näher am "Mainstream" und "irgendwie kommerzieller" geworden sind - ich setze dagegen, dass die Band damit voll hallen- und festivaltauglich geworden ist. Nach meinem Dafürhalten sogar voll radio- und fernsehtauglich - "die Singvøgel" haben enormes Potenzial (und das meine ich erst).
In ihren jeweiligen Kompositionsstilen blieben sich Duke und Karan treu. Auch wenn sich längst nicht mehr, wie noch auf "Hart am Rande", deutlich zwischen "Karans Liedern" und "Dukes Liedern" unterscheiden lässt.

Inhaltlich sind die Texte lebensnah - und hoch sprituell. Wer bei "spiritueller Rock- und Popmusik" einerseits an Gospels und Soulmusik mit religiösen Texten, andererseits an sphärische "New Age"-Musik dachte, muss bei den "Singvøgel" dazulernen. Fast alle Titel sind von einer heidnisch-mystischen Weltsicht durchdrungen, einige haben einen deutlichen Bezug zum "heidnisch-germanischen", genauer gesagt zu Ásatrú. Was wenig mit nostalgischem Germanenkult oder Wikinger-Reanactment, überhaupt nichts mit "völkischen" bis rassistischen Machtphantasien von der "Überlegenheit der Germanen" und sehr viel mit einer mitten im Leben stehenden gelebten Spiritualität, mit einer pragmatischen Romantik, mit gut in der Moderne verwurzelter Naturmystik zu tun hat. So mischen sich in den Versen der "Singvøgel" Sehnsucht und Wut, Mythos und Alltag - meistens romantisch, manchmal provozierend.

Zu den Titeln:
"Drei Worte" - beschreibe ich - völlig subjektiv - als Mischung aus eingängigem Popsong und tiefsinnigem Liebes-Chanson. Es geht übrigens um Freyja, in ihrer Funktion als Liebesgöttin. Aber das ist zum Verständnis nicht unbedingt nötig.
"Weiter Horizont" - obwohl sehr "poppig" arrangiert, liegt dieses von Karan getextete und gesungene Lied sehr viel näher am inhaltsreichen, intelligenten Chanson als am Schlager. Vergleiche mit "Rosenstolz" drängen sich mir auf.
"Zentaurentraum" - ist mein Lieblingstitel auf "drei". Dukes neuromantisches (neuro-mantisches - neu-romantisches?) Lied, irgendwo in der Galaxis zwischen E.T.A. Hoffmann, R. M. Rilke und William Gibson angesiedelt, ist schon älter. Das neue Arrangement, mit Querflöte, Bass und Schlagzeug bringt Dukes manchmal surrealen Verse zum Strahlen.
"In dir drin" Ein ruhiges, nachdenkliches Duett Karans und Dukes, mit einem pathetischen, aber nicht übertrieben kitschigem, Arrangement - meiner Ansicht nach ein heißer Kandidat für einen "Feuerzeug-Schwenk"-Song.
"Haut an Haut" - ein ebenfalls ruhiger, aber eher "jazziger" Chanson, der Karans beachtliche gesangliche Qualitäten zeigt.
"Totengott-Ballade". Dukes Ballade auf Wotan - oder Odin - ist ein zorniger Abgesang auf Germanentümelei, Nazi-"Germanenkult" und den Missbrauch germanischer Mythologie für rassistische, nationalistische und gewalttätige Politik. (Und eine deutliche Warnung an alle "Odin statt Jesus"-"T-Hemd"-Träger: ein wütender Totengott lässt sich nicht instrumentalisieren. Schon gar nicht in "Religionskämpfen" mit antisemitischen Untertönen. Wer Wotan säht, wird Sturm ernten!)
"Irgendwann" ist auch ein politisches Lied, ein flotter, tanzbarer Boogie-Woogie von Karan - mit konkreten Hinweisen, was man im Alltag anders machen kann, damit sich was ändert.
"Hou, hou, hou" - von Text und Melodie deutlich "folkiger". Ein "Mutmacher"-Duett: "Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum".
"Worte voller Licht" Ein melancholisches Lied Karans, mit einem überraschend un-melancholischem Abschluss.
"Monster" Karan kann auch anders - zum Beispiel fast im Nina Hagen-Stil loskreischen "Ich bin ein Monstäär!". Ein Titel mit Punk-Anklängen und gnarzig verzerrter Gitarre. Der Text ist eine kluge Allegorie, die mindestens 5000 m tief sein dürfte.
"Großer Donner". Der Anfang erinnert mich ein wenig an die Titelmelodie eines Karl-May-Films - aber es geht nicht um einen Indianerhäuptling, sondern um den Donnergott, Gott der Fruchtbarkeit und Beschützer der Menschen vor den Naturgewalten, Thor.
"Immer schon dort" - Eine beinahe klassische romantische Ballade. Der Refrain "Und wird auch Geschichte geschrieben / mit Kriegen, Intrigen und Mord / überdauern dies doch, die sich lieben: / Immer schon waren sie dort" kann als Kommentar zur "üblichen" Geschichts-Vermittlung zwischen dröger Geschichtsstunde und aufgebrezeltem Guido-Knopp-TV gesehen werden.
"Im Flammen" - Das einzige Stück, von dem ich etwas enttäuscht bin, trotz des hervorragenden Textes und der eingängigen und stimmungsvollen Melodie. Mein Problem resultiert daraus, dass ich zu dem kraftvollen, rebellische, ekstatischen Text (" Wir sind in Flammen / setzen die Nacht in Brand / und das geschriebene Wort / wird Gesang. Aus unsern Trommeln / donnert die wilde Jagd / und galoppiert bis der Morgen erwacht") keine so langsame und melancholische Melodie erwarte. Ich kann mir denken, weshalb sich Karan für genau diese Melodie entschied, ich hätte mich anders entschieden.
"Reich mir die Hand" - Der letzte Titel erfüllt endlich die Vorstellungen all jener, die bei einer Ásatrú-Band automatisch an Wikinger-Songs denken. "Reich mir die Hand" handelt - jedenfalls vordergründig - von Gefährten, die auf Wiking gehen, wobei einiges nicht so gut verläuft, weshalb sie ums Überleben kämpfen müssen. Im übertragenenen Sinne auf jede Gemeinschaft, die gegen (scheinbar) übermächtige Gegner und (scheinbar) unüberwindliche Gefahren angeht. Wobei es auf jeden Einzelnen ankommt und jder für jeden da ist: "Wer jetzt noch dabei ist / weiß nur, dass er frei ist / und eins ist gewiss: es gibt kein' Ersatzmann!"
Ein Lied, dass neben dem "Sonnenrad-Song" und "Freundchen!" ihren Platz unter den "Kampfgesängen" der "Nornirs Ætt" findet. (Der Selbstbeschreibungs-Rap: "Wir sind die Nornirs Ætt" geht ja in eine ganz andere Richtung .)

Auch ja: bestellen kann man "drei" hier. Schon mal anhören kann man "drei" hier. Und die Termine der nächsten Live-Auftritte der "Singvøgel" erfährt man hier.

Kursiver Text wurde nachträglich ergänzt.

Freitag, 30. November 2007

Neues von den Singvøgeln

Die neue CD der "Singvøgel" ist fertig! Das Werk trägt den (mehrdeutigen) Titel "3" und soll deutlich "rockiger" sein als die beiden Vorgänger-Silberscheiben.

Die Release-Party mit Lifekonzert findet am Sonntag, dem 16.12. in Wien auf dem Yule-Markt des WurzelWerks statt:
Präsentation des neuen Singvøgel-Albums.

Info via: Andreas Stadelmann.

Samstag, 27. Oktober 2007

" ... das braucht doch keiner!"

Ich habe es im Ohr, das Wehklagen über Mangel an qualifizierten Nachwuchs, darüber, dass sich so wenige Studenten für ein Ingenieurstudium / ein naturwissenschaftliches Studium / ein geisteswissenschaftliches Studium interessieren, über Abiturienten mit Wissenslücken im Grand-Canyon-Format und über Auszubildende, die nicht einmal die Grundrechenarten beherrschen. Ich hüte mich wohlweislich, das Fass "PISA und die Folgen" aufzumachen. Obwohl die nach dem "PISA-Schock" getroffenen Maßnahmen (z. B. das Abitur nach der 12. Klasse) wahrscheinlich im Sinne der oben genannten Missstände eher kontraproduktiv sein dürften.

Auf einen Forum für Astronomie und Raumfahrt entdeckte ich einen Thread, der ein Schlaglicht auf offenbar tief eingeschliffene Mängel des deutschen (und österreichischen) Schulwesen wirft: Raumfahrt & Astronomie an Schulen. (Wobei statt "Raumfahrt & Astronomie" auch "praktische Naturkunde", "Archäologie", "Philosophie" oder ähnliches "für das Berufsleben überflüssiges Zeugs" stehen könnte.)

Eine Wiener Realgymnasiastin der 10. Jahrgangsstufe schrieb dort u. a.:
Dieses Jahr haben wir einen neuen Lehrer in diesem Fach. Er kommt in die Klasse, begrüßt uns und bespricht kurz die organisatorischen Dinge. Dann beginnt er, über Physik zu sprechen. Der Anfang lautete etwa so: "Physik ist nicht so, wie es in den Medien oft dargestellt wird. Die ganzen Sachen mit Weltall und so könnt ihr vergessen, das braucht ohnehin keiner."
Im Rückblick gratuliere ich mir dazu, dass keiner meiner Physiklehrer "so drauf" war. Es ist zwar in der Tat so, dass nur sehr wenige der Schüler irgendwann einmal Astronomen, Astrophysiker oder Raumfahrtingenieure werden. Aber gerade die Astronomie ist für viele Schüler ein hervorragender Anreiz, um sich freiwillig mit physikalischen Gleichungen (und der für ihr Verständnis notwendigen Mathematik) auseinanderzusetzen. Ein anderer Forumsteilnehmer nannte ein gutes Beispiel:
Übrigens ist es in Deutschland so, dass man sich in der 11./12. Klasse gemäß Lehrplan mit dem Gravitationsgesetz beschäftigen muss. Wir haben da zum Beispiel die Umlaufzeit und Geschwindigkeit der ISS ausgerechnet und solche Sachen.
Kaum jemand "braucht" wirklich die Fähigkeit, die Umlaufbahn eine Raumstation zu berechnen. Mit den Gravitationsgesetzen sieht es anders aus.
Anderes Fach, andere Zeit: ich erinnere mich gut an einen Biologie- und Erdkundelehrer, der gerne mal Dias und Filme von seiner Reisen in die Sahara, den tropischen Regenwald, den Himalaya usw. zeigte. Es gab Eltern, die sich über die "verschwendete Unterrichtszeit" aufregten. Nur war auffällig, dass seine Schüler in Bio und Erdkunde sehr viel besser waren und den "Lehrstoff" schneller "durch" hatten als die der Parallelklassen. Der Mann machte durch sein persönliches Engagement die "drögen Paukfächer" interessant. (Er war im übrigen ein ziemlich strenger Lehrer, der dennoch bei uns Schülern beliebt war.)
Nun, das ist lange her, und die auch im Thread beklagte vorherrschende "Gleichungsphobie" (Abneigung gegen Mathematik und Fächer / Berufe, in denen es auf mathematische Kenntnisse ankommt) hat meines Erachtens seit damals erheblich zugenommen. Was nichts mit einer gern behaupteten "Technikfeindlichkeit" zu tun hat.

Aber der wahre Hammer (Realitätsschock?) des Thread ist das:
Manche Lehrer sind schon der Hit. Mein Freund und ich betreiben eine Jugendgruppe [für Astronomie, M.M.] und haben zu Werbezwecken in Schulen Plakate aufgehängt. An einer Hauptschule meinte der Rektor so viel wie: "Wozu, die sind doch sowieso zu blöd dafür!"
Bei solchen "Einschätzungen" wundert es mich nicht, dass so viele Hauptschüler jedes Interesse an der Schule verlieren (was dann wieder die Vorurteile solcher Lehrpersonen wie dieses Rektor bestätigt): "Wir sind hier die Restschule, uns will eh keiner, lernen ist reine Zeitverschwendung!"
Selbst wenn sämtliche Schüler dieser Hauptschule tatsächlich "zu blöd" sein sollten, um die für astronomische Berechnungen nötige Mathe zu kapieren (was ich nicht glaube), heißt das nicht, dass sie alle - bei entsprechendem Interesse - "zu blöd" für eine Astronomie-Jugendgruppe sind. Vielleicht ist unter den als "blöd" abgestempelten Hauptschüler ein "Bastelgenie", jemand, der wenn er die Chance dazu bekommt, ein Könner in einem handwerklichen Beruf werden könnte, der das Arbeitsamt in seinem Berufsleben niemals von innen kennen lernen muss? Und der seine Chance nur deshalb bekommt, weil er bei der Lehrstellensuche z. B. sagen kann: "Ja, stimmt, ich habe nur Hauptschule. Aber ich habe mit eigenen Händen ein Spiegelteleskop gebaut!"
(Dass ich unsere Schulsystem mit seiner sehr frühen "Auslese" für ungerecht, für bildungsfeindlich und für ein schweres Hindernis für soziale Mobilität halte, sei nur am Rande erwähnt.)

Aber es ist vielleicht ungerecht, auf das veraltete Schulsystem oder über unfähige Lehrer zu schimpfen.
Das Problem liegt tiefer. Und es liegt nicht bei den von konservativer Seite so sehr gescholtene "´68ern" und auch nicht bei den "bildungspolitischen Experimenten" der 70er Jahre.

Das Problem liegt bei einem (selten eingestandenen, aber wirksamen) Leitbild für das, was Schule, Hochschule Aus- und Weiterbildung leisten sollen: den für die Erfordernisse des Berufslebens (des "Arbeitsmarktes", der "Wirtschaft") zurichteten Menschen: mit den "richtigen" Fähigkeiten und dem "richtigen" Grundwissen ausgestattet und mit der "richtigen" Einstellung zu Beruf und zum Leben, d. H. bereit, seine persönlichen Interessen den beruflichen Erfordernissen jederzeit unterzuordnen. Bei den "dämlichen" Hauptschülern wird es besonders deutlich: bei ihnen steht offensichtlich eine gewisse Resignation auf dem "heimlichen Lehrplan".
Wenn heute öffentlich z. B. über "Ingenieursmangel" geklagt wird, dann nicht selten in der Weise, dass die Schulen zu wenige an Ingenieursberufen interessierte und geeignete Absolventen "geliefert" hätte. Auch die Klagen manchen Ausbilder über ungeeignete Auszubildende klingen wie Reklamationen an Lieferanten: die Schule möge doch bitte Absolventen "produzieren", die nicht nur gut in Deutsch und Mathe, sondern auch fleißig und diszipliniert sind. Wobei ich diese Klagen in der Sache oft für berechtigt halte. Was mich stört, ist die Mentalität, in der nicht von Menschen und Bildung die Rede ist, sondern von "Humankapital" und "Schlüsselqualifikationen" (und entsprechend gedacht und gehandelt wird).

Ich bin der Ansicht, dass unsere Schulen und Hochschulen, gerade weil sie auf das "Zurichten" aufs "Nützlichkeitsdenken" und auf "Produktivität" ausgerichtet sind, genau jene motivierten und gebildeten Absolventen nicht hervorbringen können, die heute vermehrt "nachgefragt" werden.

Samstag, 8. September 2007

Summer of Love VIII - Psychedelic Music

In lockerer Folge schreibe ich im Laufe der Sommermonate über den "Sommer of Love" 1967, der in Wirklichkeit ein politisch, gesellschaftlich und kulturell "heißer" Sommer war, schreiben. Bisher gab es schon einen kleinen ironischen Text zum "Sommer of Love", einen Artikel zum "heißen Frühsommer" im West-Berlin des Jahres 1967 und einen kleinen Aufsatz, in dem ich zu zeigen versuchte, dass die Hippies mehr als nur "Blumenkinder" waren. Das Ende des chemischen Pfingstens schließt sich inhaltlich an die Beitrag LSD - die "Wunderdroge" und den nicht zur "Serie" gehörenden Text 70 Jahre Marihuana-Verbot an. Der sechste Teil der Serie widmet sich der Unvollständigen Sexuellen Revolution, der siebte dem Hippie-Pop und Hippie-Kommerz.

Das Wort "psychedelisch" ist eine Neubildung aus den altgriechischen Worten für "Geist, Seele, Bewusstsein" ψυχή (psyché) und "Offenbarung" δήλος (délos). also etwa: "bewußtseinsoffenbahrend" oder "bewußtseinszeigend".
Der Begriff wurde 1957 vom Psychiater Humphry Osmond geprägt, als zutreffendere Bezeichnung für die bis dahin "Halluzinogene" genannten Drogen im Kontext ihrer psychotherapeutischen Anwendung. In der Psychiatrie setzte sich die Bezeichnung nicht durch, im Journalismus und dem populären Sprachgebrauch wurde um 1965 "psychedelic" und wenig später auch im deutschen Sprachraum "psychedelisch" zum Modewort. Alles und jedes, was irgendwie sinnverwirrend, surreal, meditativ, verträumt, exotisch wirkte, war "psychedelisch" - von der Lava-Lampe über Tapetenmuster im Op-Art-Stil über Yoga-Übungen bis zur schreiend bunt gemusterten Hemden. Da konnte es nicht ausbleiben, dass auch Musik "psychedelisch" genannt wurde.

"Psychedelic music" war folglich auch ein eher unscharfer Sammelbegriff, schärfere Konturen hatte lediglich der "Psychedelic Rock". Zum "Psychedelic Rock" später mehr.
Was "psychedelische Musik" zur einer solche macht, lässt sich schwer sagen, da von Folk bis Jazz höchst unterschiedliche Musikstücke als "psychedelisch" bezeichnet wurden. Einfacher sind bestimmte musikalische Stereotypen bzw. Klischees zu beschreiben, die "typisch psychedelisch" wirken. Als "typisch Psychedelic" galten spezialeffekt-betonte Produktionen (was vom simplen Wah-Wah-Effektpedal und dem sehr beliebten ebenso simplen Tape-Delay bis zum ungehemmten Herumspielen mit allen damals neuen Möglichkeiten der Studio-Technik ging), "exotische" Instrumente (vor allem Sitar, aber auch elektronische Instrumente wie das Mellotron, das Trautonium, das Electro-Theremin oder der frisch erfundene Synthesizer), und surrealistische Texte - allerdings fand sich das alles auch bei Musikern, die sich mit Händen und Füssen dagegen wehrten, das immer auch nach Haschpfeife und Räucherstäbchen riechende Etikett "psychedelic" aufgeklebt zu bekommen.

Als Beginn des"Psychedelic Pop" gilt allgemein das Album "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" von den "Beatles", was insofern stimmt, da damit diese Art Musik, die es schon früher gab, wirklich populär wurde. Schon in den 50ern experimentierten Musiker sowohl mit "psychedelischen Drogen" wie mit dadurch inspirierten neuen musikalischen Ausdrucksformen.

Es gibt psychedelische Stücke, die versuchen, die akustischen Eindrücke eines Drogentrips nachzuempfinden (das frühe Pink-Floyd Stück "Interstellar Overdrive" ist ein bekanntes Beispiel), andere beschreiben die Erlebnisse eines Trips ("Lucy in Sky with Diamonds" egal, was John Lennon und Paul McCartney behaupteten), wieder andere versuchen eine trip-ähnliche Trance zu erzeugen (bekanntestes Beispiel: "In-A-Gadda-Da-Vida" von Iron Butterfly). Das in allen Beispielen von "Trips" die Rede ist, ist unzufällig, den LSD spielte als Inspirationsdroge eine herausragende Rolle. Die "härteren" Spielarten der "Psychedelic Music" wurden dann auch, nach dem Slangausdruck "Acid" für LSD, "Acid Music" genannt; ein Begriff, der sich anders als das einst allgegenwärtige "Psychedelic" bis in die Gegenwart hielt (Acid-Jazz, Acid-Rock, Acid-House usw.).

In der experimentierfreudigen "Psychedelic Era" wurden erstmals "leichte" Unterhaltungsmusik und "ernster" Musik, vor allem "zeitgenössischer E-Musik", miteinander verschmolzen, was etwas anderes ist als die in 70er Jahren Mode gewesene "verpoppten Klassik", aber auch als Popmusik, die "klassisch" interpretiert wird. Diese inhaltliche Verschmelzung beschränkte sich nicht auf Anregungen durch auch für elektronische Musikinstrumente schreibenden Komponisten wie Paul Hindemith und Karl-Heinz Stockhausen. Ein zeitgenössischer "E-Komponist" mit starken Einfluss auf die psychedelische Musik war György Ligeti mit seinen "Klangflächen-Kompositionen" - bekannte Beispiele: "Atmosphères" und das Vokalstück "Lux Aeterna". Auch Elemente "klassischer Musik" fanden dank der Experimentierfreude der "Psychedelic Music" Eingang in populäre Stücke, erwähnt seien nur die Bachtrompeten und Cellos auf "Sgt. Peppers'" oder "A Whiter Shade of Pale" von Procum Harum, ein leicht psychedelisches und sehr stark von Johann Sebastian Bach beeinflusstes Stück.

Wie schon erwähnt, hat eigentlich nur der "Psychedelic Rock" als Subgenre so deutliche Konturen, dass Rockmusik-Hörer sich einigermaßen einig werden könnten, ob ein Stück dazugehört oder nicht. Typisch für den "psychedelischen" Rock-Stil der 60er waren die gegenüber damaligen Standard-Rockstücken längeren Songs, wie auch der Trend zur langen Instrumental-Solos in der Psychedelic-Ecke begann. Während "normale" Rockmusiker allenfalls Verzerrer, vielleicht auch mal Wah-Wahs einsetzten, verwendeten die "Psychedelic Rocker" zahlreiche elektronische und akustische Effekte, die oft abenteuerlich improvisiert waren. Typisch ist auch der Einsatz von Orgeln, elektronische Musikinstrumenten und "exotischen" Instrumenten - "so was" war bei "straighten" Rockern eher verpönt.
Besonderheiten gibt es auch im Rhythmus: In der Rockmusik werden die Achtelnoten normalerweise "gerade" gespielt, im Beat die erste Viertelnote (der erste Beat) betont, im Rock ’n’ Roll gibt es noch eine leichte Verschiebung zwischen den Viertelnoten nach hinten (den "Shuffle"), gelegentlich werden auch Offbeats eingesetzt - aber im großen und ganzen ist Rock rhythmisch gesehen eher simpel. Was dann auch in der 50er und 60er Jahren ein Standardvorwurf der "Jazzer" gegenüber den "Rockern" war und, jedenfalls vor der Ära der langen Drum-Solos, in Witzen über die beschränkten Fähigkeiten von Rock-Schlagzeugern Ausdruck fand, etwa: "Eine typische Rockband besteht aus drei Musikern und einem Drummer." Im "Psychedelic Rock" gibt dagegen zahlreiche Abweichungen von diesem einfachen Schema. Die "Schmanentrommel" hielt Einzug - oder zumindest Rhythmen, die der Folklore afrikanischer, alt-amerikanischer und innerasiatischer Stammesgesellschaften entlehnt wurden. Relativ oft wird der 4/4-Takt für Zwischenspiele in anderen Taktarten unterbrochen, und einige Psychedelic-Rocksongs sind sogar polyrhythmisch. Polyrhythmik ist die Überlagerung mehrerer verschiedener Rhythmen in einem mehrstimmigen Stück, die vor Jimi Hendrix und Charlos Santana (der aber nicht dem "Psychedelic Rock" im engeren Sinne zugeschlagen werden sollte) eine Domäne des Jazz war - und die dann typisches Merkmal des aus dem "Psychedelic Rock" entwickelnden, neben ihm bestehenden und sich mit diesem überschneidenden "Progressive Rock" wurde.
Reine "Studio-Bands" unter den Psychedelic-Rockbands gab und gibt es erstaunlich wenige, die meisten machten und machen auch live psychedelische Musik.

Der "Psychedelic Rock" begann im "Underground", genauer gesagt, bei mehr oder weniger dem Hippie-Lifestyle verpflichteten Garagenbands, vor allem in den USA. Das widerlegt auch die oft geäußerte Behauptung, "psychedelische Musik" hätte immer etwas mit aufwendiger Studiotechnik zu tun. Die Jungs (und ein paar Mädels) waren froh, wenn sie sich einen halbwegs "rückkopplungsfesten" Gitarrenverstärker, ein paar Effektgeräte und ein gebrauchtes 2-Spur-Tonbandgerät leisten konnten.
Die texanische Band "13th Floor Elevators" wird oft als erste "psychedelische" Rockband bezeichnet - zumindest war sie die erste, die ab 1965 mit dieser Art Musik einen gewissen kommerziellen Erfolg hatten. Bands, die noch früher solche Musik machten, wie "The Magic Mushrooms", "The Human Expression" oder "The Charlatans" sind eigentlich nur ausgesprochenen 60er-Jahre-Rock-Fans bekannt.
Zu den bekanntesten psychedelischen Rockbands der "Sechziger" gehörten "The Doors", "The Deep", "The Blues Magoos", "The Seeds", "Count Five", "Jefferson Airplane", "Soft Machine" (in der Zeit mit Kevin Ayers), "The Jimi Hendrix Experience", "Big Brother and the Holding Company", "Country Joe And The Fish", natürlich "Grateful Dead", und auch mehr oder weniger (abhängig vom Stück) die frühen "Pink Floyd".
Allerdings gingen auch andere Bands auf den "psychedelic rock trip": Die "Beatles" habe ich bereits erwähnt, andere Bands, die "Psychedelic Rock" im Repertoire hatten, waren "The Yardbirds", "The Byrds", "Love", "Iron Butterfly", "The Velvet Underground", aber auch die "Rolling Stones" ("2000 Light Years From Home"). Sogar die "Beach Boys" gaben sich psychedelisch-rockig ("Good Vibration").
Ein bleibendes Vermächtnis des "Psychedelic Rock" an die Populärkultur ist die den Auftritt begleitende Lightshow, angeblich erstmals 1966 von Pink Floyd bei einem Konzert in Essex eingesetzt.

Um 1970 ging der "Psychedelic Rock" teilweise in andere Stile auf ("Progressive Rock", "Artrock", "Glamrock". Auch der "symphonische" Hard Rock ("Hawkwind", "Deep Purple", "Black Sabbath") griff auf psychedelische Elemente zurück. Andererseit ebbte einfach nur das Interesse an der "psychedelischen" Stilrichtung ab. Etwa ab 1974 war die Ära des "Psychedelic Rock" zuende, während andere Formen "pychedelischer Musik" sich in ihren "Nischen" halten konnten - die meditative "New Age"-Musik war so eine Nische.

Aber schon gegen Ende der 1970er Jahre kam es im Zuge der Punk-Bewegung zu einem Revival, das als "Neo-Psychedelic" oder "Neo-Psychedelia" bezeichnet wurde. Auslöser des Revivals waren die Wiederveröffentlichung alter "Garagenrock"-Aufnahmen aus den 1960er Jahren auf Compilations wie z.B. der Nuggets-Compilation von Lenny Kaye oder der Pebbles-Serie und das damit einhergehende "Garagenrock-Revival" - mit dem "Garagenrock" wurde auch der frühe "Psychedelic Rock" wiederentdeckt.
Trotz dieses Revivals existiert "Neo-Psychedelic" seitdem vor allem im "Untergrund", in Form zahlreicher Amateur-Bands, unbeachtet von der "großen Rockwelt". Halbwegs bekannt wurden z. B. "Plan 9", "Three O'Clock", "The Fuzztones", "Nova Express".
Deutlich erfolgreicher waren "My Bloody Valentine" Ende der 80er.

Wichtiger als alle "Revivals" ist allemal, dass Hard Rock, Metal und sogar der Britpop stark bis sehr stark vom "Psychedelic Rock" beeinflusst wurden. "Voivod", "Alice In Chains" und "Monster Magnet" nahmen "Psychedelic Rock"-Stücke auf. "Tuxedomoon", "Psychic TV", " XTC", "Siouxsie and The Banshees", "The Cure", "Cocteau Twins" sind oft deutlich psychedelisch. Britpop-Band wie "Oasis" oder "Blur" bezogen sich direkt auf den Psychedelic Rock, ebenso "Supergrass" oder "Radiohead". "Wolfmother" und "Queens of the Stone Age" könnte man, mit einigem guten Willen, auch zum "Psychedelic Rock" rechnen.
Aber da verweise ich doch lieber auf die (englischsprachige) "Wikipedia": List of psychedelic rock artists und Neo-psychedelia.

Samstag, 1. September 2007

"Summer of Love VII" - Hippie-Pop und Hippie-Kommerz

In lockerer Folge schreibe ich im Laufe der Sommermonate über den "Sommer of Love" 1967, der in Wirklichkeit ein politisch, gesellschaftlich und kulturell "heißer" Sommer war, schreiben. Bisher gab es schon einen kleinen ironischen Text zum "Sommer of Love", einen Artikel zum "heißen Frühsommer" im West-Berlin des Jahres 1967 und einen kleinen Aufsatz, in dem ich zu zeigen versuchte, dass die Hippies mehr als nur "Blumenkinder" waren. Das Ende des chemischen Pfingstens schließt sich inhaltlich an die Beitrag LSD - die "Wunderdroge" und den nicht zur "Serie" gehörenden Text 70 Jahre Marihuana-Verbot an. Der sechste Teil der Serie widmet sich der Unvollständigen Sexuellen Revolution.

Im Rückblick erscheinen die späten 60er und frühen 70er Jahre als die Ära der grellbunten Pop-Farben. Wobei im Einzelnen nicht zu klären ist ist, ob die grellen, plakativen Farben der Pop-Art das Design oder das grellbunte Design die Pop-Art inspirierte. Eines ist jedenfalls klar: das kommerzielle Design und die Mode dieser Zeit machte viele Anleihen bei der Hippie-Kultur.

Eine Legende kann ich leicht widerlegen: die Einführung des Farbfernsehens 1967 hatte nichts mit der Farbenfreude der Zeit zwischen 1966 und 1974 zu tun. Schon deswegen, weil es 1967 / 1968 nur wenige Fernsehsendungen in Farbe gab (Anfangs nur vier Stunden pro Woche) und Farbfernseher etwa vier mal so teuer wie Schwarzweiß-Fernseher waren und entsprechend wenige Leute einen Farbfernseher hatten. Erst ab Mitte der 70er Jahre kann man davon ausgehen, dass Farbfernsehen "nichts Besonderes" mehr war. Das Farbfernsehen erforderte am Anfang eine sehr helle Beleuchtung, weshalb grelle Farben und strahlendes Weiß gar nicht gingen - weiße Hemden wurde, damit sie trotz greller Reflexion "natürlich" wirkten, mit kaltem Tee "gegilbt", ansonsten wurden Pastelltöne bei der Kleidung bevorzugt. Das gilt allerdings nur für Fernsehproduktionen, wenn auf Farbfilm produziert wurde, konnte man es schon "bunt" treiben. Am Rande vermerkt sei, dass es trotzdem einen Einfluss des Farbfernsehens auf die Mode gab: vor 1967 waren Kleider und Anzüge mit Pepita-Muster und kleinkarierte Hemden modern. Im analogen Farbfernsehen rufen kleinkarierte Muster allerdings lästige Moiré-Effekte hervor, weshalb sie für Auftritte vor der Fernsehkamera (bis heute) absolut tabu sind. Weil das, was z. B. von Fernsehmoderatoren getragen wird, starken Einfluss auf die Alltagsmode hat, verschwanden Pepita und andere Kleinkaros fast völlig aus dem Sortiment der Textilindustrie. (Leider sind kleinkarierte Weltbilder im Fernsehen problemlos übertragbar.)

Aber zurück zum Hippie-Kommerz. An sich eigneten sich die bescheiden lebenden, sich bewusst dem "Konsumterror" entgegenstellenden, Hippies nicht als Zielgruppe - außer vielleicht für Schallplatten.
Es gab auch Künstler - wieder vor allem Musiker - die aus der Hippie-Kultur hervorgingen, und aus diesen Wurzeln Kapital schlugen. Von denen ist hier aber nicht die Rede. Es geht auch nicht um Musiker, Künstler, Schreiber, die sich wie z. B. die Beatles von den Hippies inspirieren ließen. Selbst das Musical "Hair" zähle ich, trotz seines enormen kommerziellen Erfolgs, nicht wirklich zum "Hippie-Kommerz". Auch wenn viele Alt-Hippies das anders sehen dürften.
Es geht darum, dass die "exotische" Subkultur der Hippies sich sehr gut vermarkten ließ. Für so ziemlich alles.
Versatzstücke der Hippie-Kultur wurden in die sich nun entstehende Pop-Kultur integriert - wobei die Pop-Kultur anfangs durchaus nicht gleichbedeutend mit "Mainstream" war, in den 60er Jahre wurde sie noch als Jugendkultur betrachtet; eine der beliebtesten Rock- und Popsendungen des NDR-Rundfunks hieß schlicht "Musik für junge Leute" und galt als Teenagerprogramm. Jedenfalls so lange, bis die Hörerbriefe von über 20- und sogar über 30-jährigen nicht mehr zu übersehen waren.
Hippie-beeinflusster Pop - das waren Rock, Folk, Blues, und sogar psychedelische Musik (dazu im nächsten Teil mehr), allerdings gefällig arrangiert und "radiotauglich" gemacht.
Obwohl die Hippies von konservativen Menschen als Gammler, Chaoten und Langhaarige diffamiert wurden, war die "sanfte Rebellion" doch für den "Mainstream" akzeptabler, als z. B. die politisierenden "68er" (die eigentlich "67er" heißen müssten) - oder die martialisch wirkenden "Rocker", die bald das pauschale Image weg hatten, gewalttätig und kriminell zu sein. Hippie - das hatte etwas romantisches, abenteuerliches - und als Pazifisten sie taten niemandem absichtlich weh.
Nicht jeder konnte oder wollte Hippie sein. Aber ein wenig "auf Hippie" machen, das war ab 1967 "in". 1968 bezeichneten sich, wenn man der Wikipedia glaubt, immerhin 0,2 Prozent der U.S.-Bevölkerung als "Hippies" - die "Sympathisanten" und "Nachahmer"-Szene dürfte weitaus größer gewesen sein.

Ein Zweig des "Hippie-Kommerzes" benutzte das "Prinzip Steinbruch". Dabei ist der Übergang zu jenen Künstlern, Designern, Modeschöpfern, die sich inspirieren ließen, natürlich fließend. Die Hippies verwendeten und entwickelten "alternative" Kunstformen; entdeckten das Straßentheater neu, belebten die Folk-Music. Kulturelle und modische Einflüsse aus Indien erreichten Europa und Nordamerika damals indirekt, über trampende Hippies, die die kulturellen Vorurteile vieler "reicher" westlicher Indienreisender nicht teilten.
Typisch für den originalen Hippie-Stil war, dass sich die Geschlechter optisch anglichen. Sowohl Männer wie Frauen trugen Jeans und langes Haar. Immerhin konnte man Hippiemänner oft am Vollbart identifizieren. Es dauerte nur wenige Jahre, bis diese Merkmale der Hippie-Stils bei den "Stinknormalen" angekommen war.
Hippies bevorzugten bunte Farben und für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Kleidungsstücke: Hosen mit weitem Schlag, bestickte Westen, Batik-gefärbte Kleidung. Sowohl die ultrakurze Variante des Mini-Rocks wie sein genaues Gegenteil, der weite, bodenlange Schlabber-Rock, drangen über die Hippie-Kultur und ihre Nachahmer in die Modewelt ein. Kleidung nach indianischen, indischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Vorbild waren bei den Hippies beliebt - und zogen wenig später den "Folklore-Look" nach sich. Dabei ist die Ironie nicht zu übersehen, dass die Hippies aus
Protest gegen der "Konsumterror" selbstgemachte oder selbst "aufbereitete" gebrauchte Kleidung bevorzugten - und eben jene Textilindustrie, die sie verachteten, von der durch ihr Vorbild geprägte Mode profitierte.

Es gab aber auch eine andere Art der "Hippie-Vermarktung", die für die Art und Weise, wie "exotische" Minderheiten medial "verbraten", in die "Pfanne gehauen", dämonisiert wurden, geradezu archetypisch war. In der damaligen "Berichterstattung" der "Bild" über Hippies findet man Klischees wieder, die noch heute in der "Berichterstattung" der Boulevardmedien über "komische Außenseiter". Grundprinzip: Exotenschau und der Appell: "Was können Sie froh sein, dass Sie nicht so sind wie diese peinlichen Spinner!"
Im "Sommer of love" 1967 reisten schätzungsweise 100.000 Hippies nach San Francisco. Die Medien waren ihnen auf den Fersen, und richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Haight-Ashbury-Distrikt. Nicht alle Medien schlachteten die "Hippiemania" in besagter Weise aus, tatsächlich machten sie die "Hippies" erst weltweit zum Begriff. Liberale und "linke" Medien sympatisierten mit den Idealen der Hippies, "love and peace", obwohl auch von dieser Seite manchmal Kritik am Lebensstil geübt wurde. Anders sah es in den konservativen Medien und vor allem der "unpolitischen" Sensationspresse aus. Sie fokussierte sich auf die "arbeitsscheue", "drogenverherrlichende" und "unsittliche" Seite. Die freie Sexualität der Hippies wurde zum Objekt (buchstäblich) sensationsgeiler Spekulationen, nach dem Prinzip: erst mutmaßen, welchen "Schweinereien" sich die "Gammler" hingeben - und ihnen anschließend jene "sexuellen Perversionen", die man selbst ihnen unterstellt hatte, zum Vorwurf machen.
In den USA führte das zur moralischen Panik unter kulturell konservativen - und die religiöse Rechte predigte Vorwürfen der Dekadenz und Gottesferne bestätigt.
In Europa sah man das etwas gelassener, vermutlich, weil die "Hippies" als "harmlos" galten.
Der Kern der Hippiephilosophie war (und ist) ein kompromisslos freiheitlicher, pazifistischer, sozialer, toleranter Individualismus - wobei es dieser Individualismus ist, der sie von vielen "Alternativlern" der späten 70er und frühen 80er Jahre abhob - aber auch eine Gemeinsamkeit zu anderen Subkulturen, wie den bereits erwähnten "Rockern" (abgesehen von der Gewaltlosigkeit) darstellte. "Spät-" und "Neo"-Hippies neigen oft zu anarchischtischen Denkweisen; sie werden gerne der legendären gesellschaftlichen Gruppe der "kulturell Kreativen" zugerechnet.

Kommerziell besonders folgenschwer war der Hang der Hippies zu teil naturreligiösen, teils esoterischen Vorstellungen. Die aus der Theosophie stammende Vorstellung von bevorstehenden "Wassermannzeitalter" wanderte über die Hippie-Subkultur von obskuren theosophischen Zirkeln in das allgemeine kulturelle Bewusstsein. Man kann sagen: ohne Hippies keine "New Age"-Welle, aber auch keine Kommerz-Esoterik.

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