Kulturelles

Samstag, 1. September 2007

Romanlektüre - zum 1. September

Zitat aus dem Roman "Der Feigling" von Jost Nolte:
"Was du gern tun würdest oder nicht", sagte Leutnant Daisy Silberstein, "interessiert hier niemanden. Mich zuallerletzt. Ihr habt Tante Rebekka umgebracht. Tante Rebekka und ein paar Millionen anderer wehrloser Juden. Jetzt sitzt Rebekkas Silbersteins Nichte hier seit sieben Wochen in dieser deutschen Kasernenstube, und ein ehemaliger Herrenmensch nach dem anderen tritt ein, und sagt aus, dass er keine Verbrechen begangen habe. Wenn ihn aber doch ein Verbrechen nachgewiesen wird, behaupte er, man habe ihn gezwungen, es zu begehen. So läuft es hier Tag für Tag. Fast ausnahmslos. Die Ausnahmen sind ehemalige Hitlerjungen, für die die Welt zusammengebrochen ist. Enttäuschte und gekränkte Halbstarke, die sich für die eigentlichen Leidtragenden der Weltgeschichte halten. (..)"
Der Roman erzählt die Lebensgeschichte des Juristen Jon Schierling, der sich in der Nachkriegszeit einen Namen als linksliberaler Publizist Ansgar Rosmer macht. Niemand weiß, dass er aus Feigheit sich zuerst an der Vergewaltigung der Justiz durch die Nazis und später dann an der Ausbeutung und Ermordung der galizischen Juden beteiligte. So, wie er aus Feigheit zum Demokraten "geläutert" wird, und sich auch aus Feigheit nicht den gut funktionierenden Seilschaften ehemaliger Nazis, die u. A. die FDP unterwandern, beteiligt.
Erst 1989, als es im Grunde zu spät ist, kommt die Vergangenheit des "mutigen Streiters für die Demokratie" ans Licht.

Manchmal trägt die romanhafte Form dazu bei, bestimmte Vorgänge besser nachempfinden zu können. Der Roman lehnt sich eng an bekannte Vorgänge einer derartigen Karriere an. Nolte nennt ausdrücklich den Fall des Germanisten Hans Ernst Schneider, einem Karrieristen im SS-"Ahnenerbe", der nach dem Krieg unter dem falschen Namen Hans Schwerte als liberaler Wissenschaftler zu beachtlichem Erfolg brachte.
Die Fiktion ermöglicht die Spekulation, die sich in realen Fällen verbietet.
Eine interessantes und sehr plausibles Detail, dass Nolte schon im Prolog erwähnt und auf dass er am Ende des Romans zurückkommt, ist, dass "Rosmer" nach dem Krieg in Vorträgen und Aufsätzen die ganze deutsche Geschichte als Misere darstellt. Durch die ganze deutsche Geschichte, angefangen von Hermann dem Cherusker über Luther, Friedrich den Großen, Bismark bis zu Hitler zieht sich bei "Rosmer" ein blutigroter Faden der Unterdrückung, Aggression, Intoleranz. Das ist nicht nur "Tarnung", Schierling glaubt das wirklich - und er legt diese deutsche Misere zu seinem Gunsten aus: Wenn Arminius bis Hitler eine gerade Linie führt, und wenn das ein "zwangsläufiger" Geschichtsverlauf war (wovon Schierling offensichtlich ausgeht) dann war Hitler und waren alle seine Mittäter, einschließlich Schierling, wenigstens halbwegs entlastet.

Weshalb ich gerade die Stelle, die ich oben zitierte, auswählte? Weil sie mich auf einen beunruhigend Gedanken brachte: Solange noch die leugnenden, verdrängenden, verfälschenden "ehemaligen Herrenmenschen" Macht und Einfluss hatten, bestimmten sie den öffentlichen Diskurs in ihrem Sinne mit. Erst nachdem sie buchstäblich weggestorben oder doch wenigstens in Rente waren, endete in der Nachkriegs-BRD die Epoche der öffentlichen Verdrängung der NS-Verbrechen. Aber die folgende Generation, die der ehemaligen Hitlerjungen, war nicht viel besser: sie erlebte sich als "eigentlichen Leidtragenden der Weltgeschichte", stilisierten sich , aus ihrer subjektiven Erleben, zu "Opfern", obwohl sie tatsächlich Täter waren (Selbstvikimisierung). Wobei man den Gedanken an "Schuld", der zu nichts führt, außer zu Entschuldigungen und Schuldprojektionen, beiseite lassen sollte. Es geht es um Mitverantwortung.
Nun stirbt auch die "Flakhelfergeneration" mit ihren Lebenlügen und ihrer Wirklichkeitsverzerrung aus. Welche Generation folgt? Ganz klar, die der Kinder des "Wirtschaftswunders". Die mit dem Mythos von Glück des Tüchtigen aufwuchs. Und die früh erfahren hat: "Frechheit siegt!" Die oft nie gelernt hat, was "Solidarität" und was "Mitleid" wirklich bedeuten. Es ist die Generation, die heute in Deutschland noch den Ton angibt, wobei der Einfluss Handvoll "Alt-68er" unter ihnen groteskt überschätzt wird. Und dann?
Wohl ist mir nicht, wenn ich an Deutschlands Zukunft denke. Auch wenn ich keinen neuen "1. September", den Beginn eines Vernichtungskrieges, befürchte.

Sonntag, 26. August 2007

"Summer of Love VI" - die unvollständige sexuelle Revolution

In lockerer Folge schreibe ich im Laufe der Sommermonate über den "Sommer of Love" 1967, der in Wirklichkeit ein politisch, gesellschaftlich und kulturell "heißer" Sommer war, schreiben. Bisher gab es schon einen kleinen ironischen Text zum "Sommer of Love", einen Artikel zum "heißen Frühsommer" im West-Berlin des Jahres 1967 und einen kleinen Aufsatz, in dem ich zu zeigen versuchte, dass die Hippies mehr als nur "Blumenkinder" waren. Das Ende des chemischen Pfingstens schließt sich inhaltlich an die Beitrag LSD - die "Wunderdroge" und den nicht zur "Serie" gehörenden Text 70 Jahre Marihuana-Verbot an.
Was wäre der "Summer of Love" ohne Freiluft-Sex? Und was wäre die "wilden 60er" ohne "Sexuelle Revolution"?

Die Theoretiker
Der Begriff "Sexuelle Revolution" geht auf den Psychoanalytiker Wilhelm Reich zurück. Er schrieb sein berühmtes Buch, das ursprünglich den Titel "Die Sexualität in Kulturkampf" trug, bereits 1936. Nach seiner Emigration in die USA schrieb er eine eine erweiterte englischsprachige Fassung "The Sexual Revolution", die 1945 erschien.
Nach Reichs Auffassung bringen Doppelmoral und Unterdrückung der vitalen sexuellen Triebe Persönlichkeitsdeformationen mit sich und führen so zu Aggression und Frustration, welche verdrängt würden und sich oft in Lust an Herrschaft und Hierarchie ein Ventil schaffen müssten.
Reich war der Ansicht, dass eine Befreiung der Sexualität eine friedliche Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen mit sich bringen würde, eine gewaltfreie Revolution. Menschen, die in befriedigenden sexuellen Zusammenhängen leben, lassen sich nicht so bereitwillig wie sexuell Frustrierte in Herrschaftsstrukturen einbinden oder zu Gewalttaten mobilisieren. (Wer hier den Ursprung des bekannten Hippiespruches "Make Love, not War" sucht, liegt richtig!) Eine unterdrückte Sexualität lähmt die kreativen Potenziale eines Menschen (in dieser Hinsicht vertrat er einen anderen Ansatz als Freud) - und können deshalb der Unterdrückung durch das kapitalistische System nicht viel entgegensetzen. Reich war Kommunist - allerdings einer, der schon 1936 die UdSSR als staatskapitalistisch und strukturell faschistisch entlarvte.

Der wesentliche "Vordenker" der "68er-Bewegung" war der "Freudomarxist" Herbert Marcuse, der sich ebenfalls Gedanken um eine "sexuelle Revolution" machte und dabei in seinem Werk "Triebstruktur und Gesellschaft" einen etwas Ansatz als Reich vertrat: Marcuse zentraler Begriff dabei war der "Eros", den er als (heute verdrängtes) Lustprinzip begriff und der weit mehr umfasste als "Sexualität". Er war der Ansicht, dass es ein "befreiter Eros" nicht zum Untergang der Kultur führen würde (was Freund befürchtete), sonders dass es zu einer Selbst-Sublimierung der Sexualität käme. Dank des "befreiten Eros" und des überwundenen Realitätsprinzips (das ich ganz grob mit "Sachzwang-Denken" umreißen möchte, und dessen herrschende Ausprägung das allgegenwärtige Leistungsprinzio ist) wäre "kultiviertere" Beziehungen der Individuen untereinander möglichen. Marcuse geht von einer dem Eros innewohnenden "libidinösen Moral" aus, die nach der Abschaffung der "zusätzlichen Unterdrückung" ( und der damit verbundenen Herrschaftsformen zur Ausprägung einer befreiten Gesellschaft führen könnte. Marcuse hielt eine Überwindung der patriarchaler und institutionalisierter Kleinfamilie für möglich und nötig.

Die Liberalisierung des Sexualstrafrechts
Die "Sexuelle Revolution" der 1960er und 1970er war, gemessen an dem, was sich Reich vorstellte, allenfalls ein revolutionäres Geplänkel. Trotzdem veränderte sie die Gesellschaft grundliegend, und zwar nicht nur im "Westen".
In gewisser Hinsicht war die "sexuelle Revolution" z.B. in der DDR erfolgreicher als in der BRD. In der DDR gab es nur eine Gegenkraft, den Staat, der in Sachen sexuellen Freiheiten oft bereitwillig nachgab (bei andere Freiheiten dagegen umso weniger) und die Emanzipation der Frau schon aus Arbeitskräftemangel förderte. Im "Westen" hatten es die "sexuellen Revolutionäre" mit mehreren Gegnern zu tun, wobei die entschiedensten Gegner betont katholische Politiker, Publizisten und "Medienzaren" waren.
Was sich in der west-deutschen Gesellschaft seit den 1950 Jahren in Sachen sexuelle Selbstbestimmung alles veränderte, kann man deutlich an den Gesetzen erkennen: Bis zu den großen Strafrechtsreformen 1969 und 1973 waren außereheliche Sexualität, Homosexualität und Pornografie generell strafbar. Schutzgut war nicht die Sexuelle Selbstbestimmung, sondern die Sittlichkeit und öffentliche Moral. Neben dem § 175 StGB, nach dem jeder Schwule und jede Lesbe sozusagen mit einem Bein im Knast stand, war der "Kuppeleiparagraph" § 180 StGB besonders heikel, der die Förderung oder Tolerierung von vorehelichem Geschlechtsverkehr ("Unzucht") unter Strafe stellte. Es z. B. war unter Strafandrohung verboten, einem unverheirateten Paar ein gemeinsames Hotelzimmer zu vermieten.
Die Anhänger der "Sexuellen Revolution" waren für eine Abschaffung völlige Abschaffung des Sexualstrafrechts. Da dies auch die Streichung der Paragraphen 174 bis 176 des StGB, die den sexuellen Missbrauch von Gefangenen und Kranken sowie Abhängigen, homosexuelle Handlungen an Jugendlichen sowie den sexuellen Missbrauch von Kindern unter Strafe stellen, bedeuten würde, war diese Forderung selbst in linken und alternativen Kreisen nicht mehrheitsfähig. Als die GRÜNEN diese Forderung Anfang der 1980er Jahre noch einmal erhoben, wurde das von breiten Teilen der Presse und Öffentlichkeit als Beleg für eine pädophilenfreundliche Haltung innerhalb der GRÜNEN gesehen und von politischen Gegnern begierig aufgegriffen, was im Landtagswahlkampf 1985 zum "Kindersexskandal" führte. Tatsächlich gab es bei den GRÜNEN eine aktive pro-pädophile Gruppe, die die breite innerparteiliche Strömung für mehr sexuelle Freiheit instrumentalisierte.

Die "Pille" - und die Folgen
Es gab eine chemische Substanz, die vor allem jungen Menschen in den "wilden 60ern" mehr in Aufruhr versetzte, als Rockmusik und alle Drogen zusammen: Die "Pille".
An und für sich waren Medikamente zur Empfängnisverhütung "nur" weitere Verhütungsmittel. Aber der bloße Umstand, dass es Medikamente waren, und keine mechanischen Vorrichtungen wie Kondome oder die "Spirale" - die "Pille" verhieß die totale Emanzipation des Menschen von seiner Biologie. Was von kirchlicher, vor allem katholischer Seite gleich zum Vorwurf führte, dass die "Pille" Gottes Willen in die Hände pfuschen würde. Damit geriet die "Pille" von Anfang an in eine heftige Diskussion, die eine heftige Debatte der Sexualität, die Wiederum eine heftige Debatte über sexuelle Tabus, Familienstruktur, Patriarchat und Unterdrückung der Frau zu Folge hatte. Schließlich wurden, dank "Pille", endlich auch abseits der Fachkreise Sexualität und Vermehrung unabhängig voneinander diskutiert. Vorher hatte mehr oder weniger das Leitbild vorgeherrscht, dass der Spaß am Sex nur ein "Ausgleich der Natur" (oder Gottes) für die "Mühen von Schwangerschaft und Kinderaufzucht" seien, Sex "nur des Vergnügens wegen" also etwas "widernatürliches" sei.
Man kann sagen, dass ohne die "Pille" der "Summer of Love" nicht denkbar gewesen wäre.

Im Alltag führte das zuverlässige und diskrete Verhütungsmittel in Tabletten- oder Drageeform zu einem entspannteren Sexualleben, sowohl innerhalb wie außerhalb der Ehen. Was dann zu einer entspannteren Diskussion sexueller Fragen führte.
Davon profitierten auch andere Verhütungsmittel: Die fortschreitende sexuelle Befreiung ließ sich, zumindest in westdeutschen Großstädten, an den Kondom-Automaten ablesen. Um 1955 gab es sie noch nicht, Kondome gab es nur in der Apotheke, "unterm Ladentisch" bei Friseuren und in einigen Drogerien, und im diskreten Versandhandel (das war lange das Hauptgeschäft des Beate-Use-Versands). Um 1960 tauchten die ersten Automaten zunächst in Männerklos auf. Schließlich, Ende der 60er, gab es sie auch im "öffentlichen Raum". Es dauerte aber noch bis zum "AIDS-Zeitalter" Anfang der 80er bis die "Gummis" auch in allen Supermärkten mit "Vollsortiment" zu finden waren.

Die Praxis der "sexuellen Revolutionäre" in Westdeutschland
"Pille", Popkultur und allgemeine Ausbruchstimmung hatte schon längst einen Wandel der Sexualmoral eingeleitet, und die offen sexualfreundliche Hippie-Subkultur stand längst in voller Blüte, als die nachmals "68er" genannte, breite "linke" Strömung, die Forderung nach sexuellen Freiheiten aufgriff. Einig taten das nicht nur verbal ("Kommune 1" usw.).

Einerseits wollte man sich - wie andere, unpolitische junge und weniger junge Menschen auch - von der bigotten Prüderie der 1950er-Jahre befreien, andererseits war die Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung groß - und Marcuse und Reich zeigten, wie wichtig eine befreite Sexualität für eine befreite Gesellschaft wäre. Durch die Unterdrückung von vitalen Trieben sahen viele 68er den Menschen in seiner Persönlichkeit deformiert; die Gedanken Reichs ("Die Massenpsychologie des Faschismus") legten nahe, in der sexuellen Unterdrückung die Ursache für die Bereitschaft, anderen Menschen so Entsetzliches anzutun, wie es die Nazis taten, zu sehen.

Wichtig für das Interesse vieler "68er" an der Sexuellen Revolution war die Tatsachen, dass die "neuen sexuellen Freiheiten" - die sich die Menschen einfach nahmen, die Strafrechtsreform folgte später - vehement von kirchlich/konservativen Kreisen bekämpft wurden. Sie hatten damit einen Gegner gefunden, der auch der Gegner gesellschaftlich liberal denkender Menschen aus anderen politischen Lagern war, was zu Folge hatte, dass die auf sexuelle Befreiung gerichteten Forderungen der "68er" sehr viel stärkere gesellschaftliche Veränderungen hervorriefen, als andere Ziele. Die "68er" politisierten die "stille Sexuelle Revolution", nutzten sie für ihre Zwecke - während umgekehrt die politisierte "Sexuelle Revolution" der "unpolitischen" sexuellen Emanzipation half. Zumindest meistens.
Aus der "68er-Bewegung" rekrutierten sich auch die ersten Vertreter der "zweiten deutschen Schwulenbewegung". Allerdings taten sich selbst viele "Linke" und "Emanzipierte" damals noch mit der Schwulenemanzipation schwer. Anspruch und Wirklichkeit klafften weit auseinander.
Das war ein zentrales Problem der "Sexuellen Revolution" war. Die theoretisierenden Studenten und Junggelehrte waren in der Praxis eher sexuell verklemmt als "sexuell befreit" - was allerdings, berücksichtigt man in welchen gesellschaftlichen Klima sie aufgewachsen waren, nicht überraschen mag.
Daneben gab es auch Unverklemmte, die einfach "loslegten", vor allem unter Einfluss der Hippie-Subkultur (wobei es auch verklemmte Hippies gab). Die Schnittmenge zwischen Theoretikern und Praktikern dürfte sehr klein gewesen sein. Ein weiteres Problem waren die "Übereifrigen" und Sektierer, die einzelne Aussagen Reichs und Marcuses quasi zu Dogmen erhoben, und z. B. die Kleinfamilie mit einem Eifer attackierten, der die Position der Gegner einer befreiten Sexualität eher stärkte.
Es lag, allen Übertreibungen, Missverständnissen, Ideologisierungsversuchen usw. zum Trotzt bestimmt nicht an den "68ern", dass die "sexuelle Revolution" unvollständig blieb.

Die "Sexwelle"
Die sexuellen Revolution, die auf die Befreiung der sexuellen Bedürfnisse und letzten Endes auf grundlegende Veränderung der Gesellschaft abzielte, blieb unvollständig: sie kam über trotz allem wichtig Ansätze nicht hinaus. Es gab eine Liberalisierung des Sexualstrafrechts, erste Erfolge der Schwulen- und Lesbenemanzipation, die (teilweise) sexuell liberale Hippiekultur. Vor allem aber gab es die "Sexwelle". Die liberaleren Gesetze und das allgemein "sexfreundlicher" gesellschaftliche Klima ermöglichten ab Mitte der 60er Jahre eine bisher nicht dagewesene Vermarktung der Sexualität - wobei die besonders gewinnträchtige Pornographie in der Bundesrepublik Deutschland erst 1971 legalisiert wurde. Auf Verlauf und bizarre Auswüchse der "Sexwelle" gehe ich hier nicht näher ein, es sollte aber erwähnt werden, dass die Anhänger der Sexuellen Revolution von dieser Entwicklung nicht gerade begeistert waren. Besonders kritisiert wurde, dass fast nur die überkommenen sexuellen Normen und Verhaltensweisen, also die "unbefreite" Sexualität, dargestellt und propagiert wurde, und dass das "Gefühl" gegenüber der "Orgasmus-Mechanik" ins Hintertreffen geriet. Das Frauenbild der "Sexwelle" war - vorsichtig ausdrückt - meistens arg emanzipationsfeindlich, es wurden fast nur "Männerphantasien" bedient. Sex wurde lediglich vermarktet und das ursprüngliche Ziel der Sexuellen Revolution in Sinne Reichs, die "charakterliche Selbststeuerung des Menschen" - nicht einmal angestrebt. Im Rückblick lässt sich aber sagen, dass die viel geschmähte Sexwelle doch einiges zur sexuellen Emanzipation beitrug, einfach, weil sie zur Auseinandersetzung mit Sexualität förmlich zwang. Eine Verdrängung der Sexualität hinter verschlossen Schlafzimmertüren, wie noch in den 50er Jahren, war in einer Gesellschaft, in der die Kioske voller "Softpornos" hängen, einfach nicht mehr möglich.

Der vorzeitige Abbruch der "Sexuellen Revolution"
Nicht nur gemessen an den tendenziell utopischen Maßstäben Reichs und ganz bestimmt utopischen Marcuses, sondern auch an den pragmatischen einer echten "sexuellen Selbstbestimmung", einer "befreiten Sexualität", ist die "Sexuelle Revolution" ein Torso geblieben. Schlimmer noch: spätestens seit den 80er Jahren ist auf vielen Gebieten eine "sexuelle Gegenrevolution" zu spüren, die heute, im Zuge des Rückgriffs auf "christlich-abendländische" Werte, auch gesetzgeberische Errungenschaften der "sexuellen Revolution" angreift - ich denke da z. B. an den Gesetzentwurf für den neuen §184b StGB und den neuen §182 StGB, die möglichen Konsequenzen dieser Sexualstraftrechtsreform hat "Twister" auf telepolis beschrieben: Starker Anstieg der Kinderpornographie im Netz erwartet. Wieso?
Der Begriff Kinderpornographie wird durch das Gesetz verändert, durch Kinder- und Jugendpornographie ersetzt. Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass das in Diskussionen oft verwandte "Bild des penetrierten Säuglings" mit dem Bild eines fast 18-Jährigen gleichgesetzt wird, welcher sich nackt zeigt.
Eine Beschreibung des "Rollbacks" und seiner Ursachen sprengt den Rahmen dieses Artikels; ich werde mich aber des Themas wider annehmen.

Einer der Gründe dafür, dass die "Sexuelle Revoltion" ein Torso blieb, war die Macht der Gegenkräfte, von den Kirchen bis zu den überwiegend kulturell konservativen Medien. Die (die Doppelmoral lässt grüßen!) dennoch in vielen Fällen gern von der "Sexwelle" profitierten. Ein besonders drastisches Beispiel dieser Doppelmoral ist bis heute die BILD.

Ein weitere liegt schlicht in der "Macht des Gewohnten". Was man immer auch über lebenslange Einehe, Kleinfamilie mit Hausvorstand und das Rollenmodell "treusorgende Hausfrau und Mutter" denkt - solche Ideale bieten Halt, so wenig die Realität den damit verbundenen "Heile Welt"-Vorstellungen entspricht. Auch der rigide Moralkodex der Kirchen bietet Halt und Orientierung - und der der katholischen Kirche sogar den Service der Gewissens-Erleichterung durch Beichte. Dem gläubigen Protestant steht diese Möglichkeit nicht offen - und wenn besagte Protestant dann noch einer Richtung mit besonders rigidem Moralkodex anhängt, dürfte das schlechte Gewissen zum alles beherrschenden Lebensgefühl werden. Ein schlechtes Gewissen, das (so meine Hypothese) sich im moralischen Aktionismus Luft macht.
Oft wird behauptet, ein Fehler der "68er" sei es gewesen, den "Sex politisiert" zu haben. Das sehe ich nicht ganz so. Problematisch war aber bestimmt die enge Verknüpfung linker politischer Utopien mit der Idee der sexuellen Befreiung. Dadurch konnte bei einem großen Teil der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen / erweckt werden, dass jeder, der sich für mehr sexuelle Freiheit einsetzt, ein "Linksradikaler" und ein "Feind der Familie" sei. Womit dann konservative (und reaktionäre) Medien und Parteien bis heute hausieren gehen.

Einen wesentlichen Grund für den Abbruch der "Sexuellen Revolution" sehe ich darin, dass die "Sexuellen Befreier" und große Teile die Frauenbewegung seit Anfang der 70er Jahre unnötigerweise gegeneinander arbeiteten. Tatsächlich muss man Feministinnen vom Schlage Alice Schwarzers de facto zu den "Gegnerinnen der Sexuellen Revolution" zählen, obwohl auch ihr Ideal das der sexuellen Befreiung ist. Leider waren viele Vertreter der Idee der "sexuellen Revolution" noch tief in alten patriarchalischen Vorstellungen gefangen - was in der Praxis zu "Macho-Verhalten" führte, dass von den Feministinnen natürlich nicht geduldet wurde. Noch schwerer wirkte es sich aus, dass die "Sexwelle" eine Flut frauen-verachtender Klischees produzierte, gegen die die Feministinnen sich zurecht wehrten. (Der entblößte Frauen-Po auf dem "Stern"-Titelblatt, gegen den Alice Schwarzer prozessierte, war allerdings ein vergleichsweise harmloses "Macho-Klischee".)
Wahrscheinlich waren es sogar Auseinandersetzung innerhalb der Frauenbewegung, die berüchtigten "Feminist Sex Wars", die zu dieser verhärteten Position führte: der "sexuellen Revolution" einschließlich der Toleranz gegenüber Pornographie, sadomasochistischer Praktiken und freiwilliger Prostitution ohne Zuhälter gegenüber wohlwollende (oft lesbische) Feministinnen gegen Feministinnen, die sich in erster Linie durch Männergewalt bedroht sahen, in der Angst- und Gewaltfreiheit das Ziel der sexuellen Befreiung sahen, und deshalb Pornographie, freiwillige Prostitution und BDSM in jeder Form wegen der Verknüfung von Gewalt und Sex ablehnten.
Als dann um 1978 die "Sexismus-Kampagne" begann, die Mitte der 80er in die "PorNo!"-Kampagne zum Verbot der Pornographie mündete, war der Bruch zwischen "sexuellen Befreiern" und dem "Mainstream" der Frauenbewegung längst vollzogen.
Die Idee, dass der Hauptzweck jeder Pornografie nicht die sexuelle Erregung des Betrachters, sondern die Unterdrückung der Frau sei, stammt ironischerweise aus den patriachatskritischen Diskursen der 60er-Jahre, die bei anderen Teilnehmern zur Forderung nach Freigabe der Pornographie mündeten. Interessant ist, dass schwule und lesbische Pornografie und lesbische BDSM bei der Diskussion lange Zeit weitgehend ausgeblendet blieben. Feministische Kritik an Pornografie im Sinne der PorNO-Kampagne gleicht der traditionellen Sexualmoral: jegliche Toleranz gegenüber von der "Norm" (die weiter gefasst ist als die tradionelle "Norm" -- gleichgeschlechtlicher Kuschelsex geht immerhin Ordnung) abweichenden Sexualitätsformen zu katastrophalen gesellschaftlichen Wirkungen. Also genau das Gegenteil der Positionen der "Sexuellen Revolution".

Ein weiterer, oft genannter Grund für den "Abbruch" der Sexuellen Revolution ist der "AIDS"-Schock der 80er Jahre. Ich bin allerdings der Ansicht, dass dieser Schock ohne flankierende, oft bewusst zugunsten der "traditionellen Sexualmoral" geschürte "AIDS-Panik" nicht annähernd die tatsächlich beobachteten Auswirkungen auf die sexuelle Selbstbestimmung gehabt hätte. Auf einmal gab es ein "medizinisches Argument" gegen Schwule und gegen außerehelichen Sex. Die traditionelle Sexualmoral wurden von da an nicht nur als "gesund" im moralischen, sondern auch im medizinischen Sinne propagiert.

Eine ganz andere Frage ist die nach dem Missbrauch der Ideale der "Sexuellen Revolution", z. B. durch von den Medien so genannte "Sex-Gurus" wie Otto Mühl. Aber auch das sprengt den Rahmen dieses Beitrags - aber ich werde darüber schreiben.

Dienstag, 21. August 2007

Summer of Love V - das Ende des chemischen Pfingstens

In lockerer Folge schreibe ich im Laufe der Sommermonate über den "Sommer of Love" 1967, der in Wirklichkeit ein politisch, gesellschaftlich und kulturell "heißer" Sommer war, schreiben. Bisher gab es schon einen kleinen ironischen Text zum "Sommer of Love", einen Artikel zum "heißen Frühsommer" im West-Berlin des Jahres 1967 und einen kleinen Aufsatz, in dem ich zu zeigen versuchte, dass die Hippies mehr als nur "Blumenkinder" waren.
Dieser Artikel schließt sich inhaltlich an die Beitrag Summer of Love IV - LSD - die "Wunderdroge" und den nicht zur "Serie" gehörenden Text 70 Jahre Marihuana-Verbot an.

Mitte der 60er Jahre, noch bevor die "psychedelische Subkultur" ihren Höhepunkt erlebte, waren das von "Drogengurus" wie Timothy Leary beschworen "chemischen Pfingsten" so gut wie erledigt. Das "LSD-Problem" war entdeckt. Nicht, dass LSD-Gebrauch keine Probleme mit sich bringen könnte, aber an den einzelnen Drogen-User dachte jene, die LSD zur allgemeinen Bedrohung hochstilisierten, am wenigsten.
Die Krankheit schlägt zu in Beatnikschuppen am Küstenstreifen und in den Schlafsälen von College-Vorbereitungsschulen; an der University of California, Los Angeles und auf dem University-of-California-Campus in Berkeley wird sie nachgerade zu einen Besorgnis erregenden Problem. Und überall ist die Diagnose dieselbe: psychotische Erkrankung infolge unerlaubten nicht-medizinischen Gebrauchs der Droge LSD-25.
Time, Marz 1966

Bleiben wir bei den Fakten: obwohl damals viele, die auf den Acid- Trip gingen, äußerst naiv waren, blieb die Zahl der LSD-induzierten Psychosen doch äußerst überschaubar. Tatsächlich erwies sich LSD in dieser Hinsicht sogar als "erstaunlich sicher". Es ist auch kein Zufall, dass die Time das Problem an den kalifornischen Universitäten verortete: nicht nur in Europa, sondern auch in den USA wurden die Studenten "unruhig", und am "unruhigsten" war es an den Westküsten-Unis. Gesucht wurde eine "einfache" Erklärung für das "unvernünftige Verhalten" der jungen Menschen, mit anderen Worten, ein Sündenbock. "Junge Amerikaner aus soliden Mittelschichtverhältnissen protestieren gegen aufrechte in Vietnam gegen die rote Gefahr kämpfende amerikanische Soldaten und schwärmen sogar für kommunistische Führer wie Ho Chi-Min? Die müssen doch was genommen haben!" Der von mir skizzierte Gedankengang ist noch vergleichsweise rational:
Spätestens im Herbst 1966 deuteten dann Gegner an, dass LSD wahrscheinlich langfristige Schädigungen des Gehirns hervorrufe. Ihre Beweisgundlage? Die Tatsache, dass so viele Jugendliche, nach LSD-Erfahrung, wenig Verlangen zeigten, sich dem koropativ-provinziellen Lebensstil anzupassen, den ihre Eltern sich zu Eigen gemacht hatten.
aus: Jay Stevens: Storming Heaven - zitiert nach: Daniel Pinchbeck: Den Kopf aufbrechen (Breaking Open the Head)

Gefördert wurde die "LSD-Panik", gewollt oder ungewollt, durch die Massenmedien: ist ein Thema erst einmal "in den Schlagzeilen", wird es so lange wie möglich "am Kochen gehalten". Im Falle LSD wurde jetzt jeder Nervenzusammenbruch, jede Notaufnahme und jeder Suizidversuch, der sich mit LSD in Verbindung bringen ließ, zur Nachricht. Wie in ähnlichen Fällen üblich, versäumten die Medien, diese einzelnen "Schreckensmeldungen" in den Kontext von ähnlichen. aber weitaus häufigeren Zwischenfällen z. B. bei Alkoholmissbrauch oder den damals noch häufigen tödlichen "Unfällen" bei Barbituratmissbrauch zu stellen.

Warum waren "die 60er" aber wirklich so "unruhig"? Ein Grund lag bestimmt darin, dass durch den Übergang zwischen einer noch durch Kolonialherrschaft, Goldstandarts und Schutzzollpolitik geprägten "alten" Weltwirtschaft und jenem Freihandels-System, dass wir heute "globalisierte Weltwirtschaft" nennen, eine Lücke der ökonomischen Unbestimmtheit klaffte - salopp gesagt: Wirtschaftspolitiker und "Wirtschaftsführer" konnten kaum noch sagen wo es längs geht. Hinzu kamen technische Neuerungen - von der Satellitentechnik über Düsenflugzeuge bis zu den ersten Computern in Verwaltung und Produktion - die damals einerseits mit übersteigert optimistischen Erwartungen, anderseits aber auch mit einer heute kaum noch nachvollziehbaren Verunsicherung kommentiert wurden. Dann spielte das vielleicht wichtigste Ereignis der jüngeren Menschheitsgeschichte, ein Nicht-Ereignis, eine große Rolle: der Atomkrieg fand nicht statt. Auch wenn die breite Öffentlichkeit noch über viele haarsträubende Details der Kubakrise des Jahres 1962 in Unklaren gelassen wurde: Es wurde vielen Menschen klar, dass es verdammt knapp gewesen war - und dass entgegen der Zivilschutz-Propaganda keiner "davongekommen" wäre. Das Risiko "Atomkrieg", die Möglichkeit des Endes der Menschheit, ließ sich nicht mehr verdrängen oder, wie noch wenige Jahre zuvor, verniedlichen. Hinzu kam der Generationenkonflikt, der vor allem in Europa, und hier vor allem in Deutschland weit über die üblichen Reibereien zwischen Eltern und heranwachsenden Kindern hinausging: die "Nachkriegsgeneration" wurde erwachsen. Und sie stellte Fragen, die die Kriegsgeneration ihnen nicht beantworten konnte oder wollte. In Deutschland die Frage nach den Verbrechen der Nazizeit - damals wurde der später missverstanden Slogan geprägt: "Trau keinem über 30". Im Deutschland des Jahres 1967 bedeutete das konkret: Jeder, der älter als Jahrgang 1937 war, konnte, in der einen oder anderen Weise, "NS-belastet" oder wenigstens, durch Schule und HJ, "NS-indoktriniert" sein. All das - und noch einiges mehr - hatte zur Folge, dass "die Zukunft" nicht mehr als "Verlängerung der Vergangenheit" denkbar war.

Aber das war als Erklärungsmodell dafür, dass die "Jugend" teils rebellierte, teils "ausstieg", vermutlich zu kompliziert und, für die Konservativen, zu unbequem.

Diese Zeit der Unsicherheit, der auf einmal nicht mehr "planbaren" Zukunft, wurde von vielen, vor allem jüngeren Menschen als Signal für einen kulturellen Aufbruch gesehen. (Sogar im "Ostblock" war davon immerhin so viel zu spüren, dass z. B. die DDR-Führung hektisch versuchte gegenzusteuern.) Alles schien auf einmal möglich zu sein, manche merkten, das Mystik und Magie auf ihre Weise "real" waren - ein geistiger Aufbruch, der leider in die "New Age Esoterik" mündete, die dann oft in purer Konsum-Esoterik versandete. Diese zeitweise Wiederkehr des mystisch-intuitiven Denkens verstärkte die Neugier auf Halluzinogene, die wiederum das mystisch-intuitive Denken förderten. In nüchterner Psychologen-Sprache wirkt LSD (und wirken viele - nicht alle - halluzinogene Drogen) als unspezifischer Verstärker psychischer und sozialer Prozesse. Set und Setting - Umgebung und seelische Befindlichkeit - sind deshalb von entscheidender Bedeutung. Grob geschätzt würde ein verträumter, mystisch denkender Hippie durch Trip-Erfahrung noch verträumter und mystischer, während LSD bei in militärischen Bahnen denkenden Menschen anstatt mystischer Offenbarungen eher bizarre Attentats- und Kriegsszenarios hervorruft. Eine Faustregel: wovon ein Mensch nachts träumt, dass erlebt er auf LSD-Trip. Vielleicht hat LSD "revolutionäre Utopien" angestoßen, wenn auch auf andere Weise, als es die LSD-Gegner an die Wand malten.
In den 60er Jahren blieb das Streben nach "schamanischem Wissen", nach anhaltender Bewusstseinserweiterung, nach der Erforschung des "inner space" letztlich erfolglos und bis auf die New Age-Welle weitgehend folgenlos. Das ist außer auf die Kriminalisierung der "bewusstseinserweiternden" Drogen vom Marihuana aufwärts meiner Ansicht nach auch auf den zu unernsten (im Sinne der "Partydrogen") und zu naiven, zu oberflächlichen und vor allem zu wenig sachkundigen Umgang mit Halluzinogenen zurückzuführen. Vielleicht hätte das "chemische Pfingsten" auch ohne staatliche Verbote nach wenigen Jahren geendet.

In erster Linie wurde LSD "Opfer" einer angst-gesteuerten Politik. Es war vor allem die Angst vor Kontrollverlust über "die Jugend", aber auch das unter Politikern beliebte "Pappdrachentöten", das zuerst zur Dämonisierung und dann zum Verbot führte. (Ein "Pappdrache" ist eine selbst heraufbeschworene Bedrohung, die dann "mutig" bekämpft wird - also eine Kreuzung aus "Papiertiger" und "Strohmann".) Ein Hauptargument für ein LSD-Verbot, nämlich das, dass die Substanz keinen therapeutischen Nutzen hätte, kam ausgerechnet von den Psychiatern, aus deren Reihen einige der größten LSD-Enthusiasten der vorangegangenen Jahre stammten.
Der Grund lag vermutlich darin, dass auch die Psychiatrie in ihrer breiten Mehrheit zu einen Paradigmenwechsel nicht bereit war; einem Paradigmenwechsel infolge der beim therapeutischen und experimentellen Gebrauch gewonnen Erfahrungen, die die gängigen Modelle des menschlichen Geistes infrage stellten. Vereinfacht gesagt, zog sich die Psychiatrie in die "sichere" Richtung, Richtung Neurologie, zurück, wobei die Neurologie interessanterweise sehr von den Drogenexperimenten (und den Experimenten an damals neuen Psychopharmaka aus der Klasse der Neuroleptika und Antidepressiva) profitierte. Heute noch neigen sehr viele Psychiater zu rein biologischen Erklärungsmodellen für psychische Störungen, wobei leider oft soziale und psychologische Ursachen unter den Tisch fallen. Der oft beklagte "Graben" zwischen Ärzten (Psychiatern) und Nicht-Medizinern (Psychologen) wird dadurch nicht eben kleiner.
Um es kurz zu machen: der "Zeitgeist" in der Psychiatrie wandte sich innerhalb weniger Jahre von "LSD ist ein wertvolles Therapeutikum" zu "LSD ist therapeutisch ohne erkennbaren Nutzen".

1966 wurde LSD in den USA verboten. 1968 wurde durch die Food and Drug Administration auch jede weitere Forschungsarbeit untersagt.

1967 wurde LSD in der Bundesrepublik Deutschland den Vorschriften des Opiumgesetzes, dem Vorläufer des heutigen Betäubungsmittelgesetzes, unterstellt. Eine Nutzung ist seitdem nur mit besonderer Erlaubnis möglich. Bis weit in die 90er Jahre wurden diese Sondererlaubnisse durch die "Bundesopiumstelle" äußerst restriktiv gehandhabt.

LSD fällt seit 1971 außerdem unter das Verbot der UN-Konventionen über psychotrope Substanzen ("Convention on Psychotropic Substances"). Die Konferenz, die die internationale Ächtung der halluzinogenen Drogen nach sich zog, war von einen ökonomisch begründete Zwist zwischen zwei Gruppen gekennzeichnet. Auf der einen Seite standen vor allem Nationen mit einer leistungsfähigen pharmazeutischen Industrie, die einen kontrollierten Gebrauch von Halluzinogenen befürworteten, während sich die Gegengruppe um Ländern formierte, in denen pflanzliche Drogen wie Cannabis, Coca oder Schlafmohn (Opium) angebaut wurden. Die drogenanbauenden Länder litten sehr unter der restriktiven Anti-Drogen-Konvention von 1961 und forderten, sozusagen als Vergeltung, harte Gesetze gegen synthetische Drogen. Am Ende führte der zu einem Streit zwischen Industrienationen und "Entwicklungsländern" hochstilisierte Konflikt zu einem "faulen Kompromiss": die verabschiedete Konvention war zugunsten der pharmazeutischen Industrie deutlich "weicher" als die bestehende Anti-Drogen-Konvention gegen "Drogen vom Acker", und zwar in etwa nach dem Schema, dass Drogen, die ohnehin "suspekt" waren, wie LSD, aber auch das pflanzliche (aber wirtschaftlich bedeutungslose) Mescalin, völlig geächtet wurden, während Psychopharmaka und selbst die umstrittenen Amphetamine weitgehend legal blieben.

Siehe auch Gedanken über die gefühlte Gefährlichkeit von Drogen

Dienstag, 7. August 2007

"Die Entdeckung der Langsamkeit" im Slapstick

Heute überlegte ich mir, ob ich über den 140. Geburtstag Emil Noldes oder den 50. Todestag Oliver Hardys bloggen sollte. Obwohl Todestage normalerweise nicht fröhlich stimmen, entschied ich mich für "den Dicken". An Noldes Leben und Schaffen hängen so viele düstere Aspekte, die einfach nicht verschwiegen oder verharmlost werden dürfen, dass jeder Artikel über den dank Hitlers spießigem Kunstverständnis verhinderten Nazi-Künstler in geistige Schmutzarbeit ausartet.

Die Filme des Komiker-Duos Laurel & Hardy erinnern mich dagegen daran, dass man das Leben nicht zu ernst nehmen sollte. Damit war die Wahl klar.
Oliver "Babe" Hardy starb am Morgen des 7.August 1957 im Alter von 65 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls. Er wurde in der Freimaurer-Sektion eines Friedhofs mit dem ansprechenden Namen "Valhalla Memorial Park" in Hollywood begraben. (Auch wenn für Hardy ein "Folkvang Memorial Park"vielleicht angemessener wäre.)
Einen sehr schöner Artikel über Hardys Leben und Schaffen steht in der "Welt online": Ein Dickerchen namens Babe.
Das "Gehirn" des Komiker-Duos Laurel & Hardy, Stan & Ollie, "Dick & Doof", war Stan Laurel, genialer Gag-Erfinder und gelegentlicher Regisseur. Hardy war aber der größere Schauspieler, der aus kleinsten Anregungen vollkommene Szenen improvisieren konnte.

Ich bin sicher nicht der Einzige, der vermutetet, dass es Hardys Talent, aus alltäglichen Begebenheiten witzig-absurde Szenen zu machen, entscheidend waren für das "Markenzeichen" und Qualitätsmerkmal des legendären Duo "Stan & Ollie": den "slow burn", den Gag mit Zeitzünder, den langsam und genüsslich gespielten Witz.
Fast alle Slapstick-Komiker setzen auf Geschwindigkeit. Ganz extrem war das bei den hektischen Stummfilmkommödien der 20. Jahre, die nicht nur so wirken, als seien sie im Zeitraffer gedreht, sondern es oft tatsächlich waren. Rasantere Schnittfolgen gab es erst im Video-Zeitalter. Tempo und infantile Lust an der Zerstörung halfen über die oft einfallslose Situationskomik hinweg. Nicht zu Unrecht nannte man diese Schnellfeuer-Slapstick-Kurzfilme "Mad Movies".
Nur wenige Filmkomiker setzten sich über dieses simple Erfolgsrezept hinweg. Charlie Chaplin und Buster Keaton versuchten es erfolgreich mit inhaltlich niveauvolleren Gags. Laurel und Hardy blieben dagegen dem Slapstick treu - und "zivilisierten" ihn mit gekonntem Timing und glänzender Schauspielkunst. In ihren "Rachefeldzügen", Raufereien und Rivalitäten bleiben sie, allen Zerstörungsorgien zum Trotz, irgendwo immer Gentlemen, die nie wirklich Böses wollen. Anders als andere Komiker, deren Karriere in der Stummfilmzeit begannen, konnten sie ihren Erfolg im Tonfilm sogar noch steigern - zum Slapstick kam der grotesk-witzige Dialog. Sie drehten noch Filmkommödien als die "Mad Movies" längst Filmgeschichte waren. Auf die Dauer langweilen Chaos und Hektik mit wenig Substanz nur. Die "Mad Movies" waren Filme zum einmaligen Ansehen, während man über "Dick und Doof" noch beim 10. Mal lachen kann.

In den 20er Jahren gab es Begriffe wie "Entschleunigung" noch nicht, und das allgemeine Wehklage über Stress lag noch fast ein halbes Jahrhundert in der Zukunft. Hektik und Tempo waren modern. Erst die Weltwirtschaftskrise und die "große Depression" bremsten für eine Weile die Illusion, dass "immer schneller" und "immer mehr" auch "immer besser" heißen müssen. In der Musik dieser Zeit spürt man das Faible für Geschwindigkeit, nicht nur im Schlager und Jazz, sogar in der "ernsten" Musik (z. B. Arthur Honeggers Pacific 231, inspiriert von der Fahrt einer schweren Schnellzug-Dampflok). Es war die Zeit der Stromlinen-Loks und der ersten Stromlinien-Autos, der Turbinen-Schnelldampfer, der ersten Raketenautos, -Schlitten, -Flugzeuge, der ersten Transatlantik-Flüge, der dynamisch wirkenden expressionistischen Kunst, der Zeitungen, die drei oder vier Ausgaben am Tag hatten. Da war die Entdeckung des Regisseurs Leo McCarey, dass es auch im Slapstick ein Andante gibt, schon fast revolutionär. Und Laurel und Hardy waren für die langsame Komik die ideale Besetzung.

Noch ein Wort zum von mir verwendeten, zum geflügelten Wort gewordenen Romantitel "Die Entdeckung der Langsamkeit". Kenner des (teilweise) biographischen Romans von Sten Nadolny über den Seeoffizier und Polarforscher Sir John Franklin wissen natürlich, dass Franklin nicht "die Langsamkeit" für sich entdeckte, sondern aus der "Not" (er war - allerdings nur im Roman - ein körperlich langsam reagierender Mensch) eine "Tugend" machte (er war - auch in der Realität - besonders gründlich und beharrlich).
Das Komiker-Duo Laurel und Hardy entspricht eher dem historischen Franklin, der sich aus freier Entscheidung für langsames Vorgehen entschied, als dem "von Natur aus" langsamen Franklin Nadolnys.

Montag, 16. Juli 2007

Hallo Open-Air-Musikfreunde, vor allem im Großraum Hamburg!

Zwecks möglichst breiter Streuung der Nachricht gebe ich ausnahmsweise einfach mal eine Pressemeldung unbearbeitet wieder:
band
Hi,
es ist mal wieder so weit.
DAS 29´ste Wutzrock Festival steht vor der Tür und wird vom 24.08-26.08.07 wieder am Eichbaumsee in Allermöhe abgehen. Und wir würden uns freuen wenn du dabei bist.

Das ganze ist natürlich wieder umsonst und draussen und auch die zweite Bühne haben wir wieder dabei.
Da wir das ganze aus eigener Tasche und auf eigenes Risiko finanzieren (mehrere zehntausend Euro) sind wir darauf angewiesen, Getränke zu verkaufen um so das Geld wieder 'reinzubekommen.
Aus diesem Grund solltest du deine Getränke zu Hause lassen und die ehrenamtlichen Organisatoren und Helfer unterstützen und deine Getränke bei uns kaufen.

Aber genug der Reden…
Hier ist ein Überblick über das Programm 2007 was wir für dich zusammengestellt haben.

Freitag 24.08.2007
Große Bühne
18:00 Petri meets Pauli (Rock´n Roll)
19:00 Mr. Brown (Rock-Pop)
20:30 One fine day (Emo, Punk, Metal)
22:00 Mark Foggo (Ska)
00:00 Rantanplan (Ska-Punk)

Kleine Bühne
18:45 Incomplete
20:00 Subsquad (Punk und Rap)
21:30 Mandala (Stonerrock)
23:00 Caleidoscope

Samstag 25.08.2007
Große Bühne
14:00 LetdownLetdown (Rock, Emo, Indi)
15:15 Second Monday (Emo, Rock)
16:30 Rupert’s Kitchen Orchestra (Blues-Funk-Groove)
18:00 Aussenborder (Bratpop)
19:30 Lichter (Indie-Pop)
21:00 Anajo (Indie-Pop)
22:30 Fotos (Indie-Pop)
00:00 Wolfkin

Kleine Bühne
14:30 Gimmick
15:45 Ebermann & Trampert (Realsatire)
17:30 Sixxxten (Rockmusik internationaler natur)
19:00 Neue Katastrophen (Punk)
20:30 Mazai (Grunge)
22:00 Exits to Freeways (Rock)
23:30 Stellar Nova (Melodiöser Pop)

Sonntag 26.08.2007
Große Bühne
14:00 Redschox (Rock)
15:30 Tequila & The Sunrisegang Gang (Ska,Punk,Reggae)
17:00 The Skatoons (Ska)

Kleine Bühne
14:30 Poetry-Slam (…)
16:30 Kampfstern Gartenstrasse (Liedermacher, Groovig)

Wenn du weiter Informationen über die Bands, das Festival, die Anfahrt, Geschichte, … haben möchtest schau doch einfach noch mal auf unsere Homepage.
www.wutzrock.de
Hier solltest du hoffentlich alle nötigen Infos finden.:-)
Als Rahmenprogramm zum Festival findet auch diese Jahr am 28.07.07 wieder DAS Wutzrock Fußballturnier satt.
Das ganze läuft von 10-18 Uhr auf dem ETSV-Sportplatz Mittlerer Landweg.
Komm doch einfach vorbei. Mitspielen kannst du aber nur nach Anmeldung.
Weiter Infos unter
Rahmenprogramm 2007

Wir sehen uns.
Die Wutzrock-Crew

Sonntag, 15. Juli 2007

Es lebe die Puppen!

Ich war schon lange der Ansicht, dass das Puppentheater zu Unrecht in den medialen Kindergarten verbannt wird. (Und selbst das Puppentheater für Kinder wird noch unterschätzt - die Marionetten-Fassung der Augsburger Puppenkiste" von Michael Endes "Jim Knopf" ist immer noch mit Abstand diejenige, die dem Buch am gerechtesten wird.)
Von der Meldung, dass Herbert W. Frankes "Der Kristallplanet" als Mariottenspiel aufgeführt wird, war ich deshalb sehr angetan. "Der Kristallplanet" ist ein, wie ich finde, überaus gelungener SF-Roman, der Zeitkritik und exotisches Weltraum-Abenteuer ohne Krampf und Brüche vereint; und wurde offensichtlich mit viel Phantasie und noch mehr Mut zum Ungewohnten für die Puppenbühne umgesetzt: Digitales Marionettentheater, analoge Science-Fiction.
Richard Oehmanns Rezension hat allerdings einen Absatz der mich zum energischen Widerspruch reizt:
ist Science-Fiction schon nicht unbedingt das typische Genre für das Figurentheater - den meisten dürfte höchstens noch "Robby, Tobby und das Fliewatüüt" in Erinnerung sein: Die Verbindung aus Marionetten und Computergraphik ist noch etwas ungewöhnlicher.
Nun, schon Gerry Andersons Fernsehproduktionen "Thunderbirds" und "Captain Scarlet and the Mysterions" aus den 60er Jahren verbanden auf Jugendliche und Erwachsene zugeschnittene Action-SciFi (die drastische dramatisierten Unfälle und Kämpfe sind nichts für kleine Kinder) mit Marionetten als "Darstellern" und visuellen Effekten, die zu den Besten der damaligen Zeit gehören. Im "Nachbargenre" Fantasy-Film ist der Einsatz von als solchen erkennbaren Marionetten nichts Ungewöhnliches, es gibt sogar einige reine Fantasy-Puppenfilme, etwa Jim Hansons ''The Dark Crystal, der übrigens sogar schon Computergraphik in Verbindung mit Puppen einsetzte.
Science Fiction als Puppentheater "live" auf hohem inhaltlichen Niveau zu inszenieren ist trotz "filmischer" Vorbilder eine mutige Pionierleistung, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
(Nachtrag: in der Star Gate Episode 200 gibt es eine selbst-parodistische Marionetten-Sequenz.)

Das Puppentheater hat den Vorteil, dass mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln Geschichten erzählt werden können, die mit "realen" Schauspielern überhaupt nicht und im Film nur mit sehr viel Aufwand realisiert werden könnten. Das gilt nicht "nur" für Stoffe aus dem Bereichen Science Fiction oder Fantasy - ich könnte mir gut klassische Dramen auf der Puppenbühne vorstellen. Den "Faust" oder "Hamlet", inszeniert für das Marionettentheater? Warum nicht!

Ich habe vor kurzem eine Handpuppen-Fassung der "Nibelungen" gesehen, die von den parodistischen und komischen Möglichkeiten des Puppentheaters geschickten Gebrauch machte, ohne dass die Inszenierung zu Klamauk-Show verkam, und das mit bescheidensten Mitteln. (Nebenbei war die Puppen-Fassung noch näher am Originalstoff, als alle bisherigen "Nibelungen"-Verfilmungen - und weitaus anspruchsvoller als die extrem aufwändige "Nibelungen"-Fernsehfassung, die vor einiger Zeit auf Pro7 lief.)

Mittwoch, 27. Juni 2007

Warum geben so viele Musiker das Musikmachen wieder auf?

Nicht ganz überraschend sind, wie die Musikwissenschaftlerin Dr.
Anja Herold in ihrer Doktorarbeit herausfand, die hohen Ansprüche an die technische Beherrschung des Instrumentes für viele Musiker der Hauptgrund, über kurz oder lang mit dem Spielen wieder aufzuhören. Wenn die Musik nicht mehr lustvoll "gespielt" wird, wird das notwendige Üben nicht mehr als "Spaß", sondern als "Last" empfunden.

Interessanter finde ich, was Frau Herold über diesen eher trivale, aber bezeichnenderweise kaum untersuchten, Zusammenhang (die Musikwissenschaft beschäftigt sich lieber mit der Erfolgreichen, nicht den Erfolglosen) hinaus herausgefunden hat:
"Das Meistern der instrumentaltechnischen Schwierigkeiten macht zu Anfang einen entscheidenden Reiz aus. Später allerdings stehen technische Probleme gepaart mit Ungeduld und hohen Leistungsansprüchen dem lustvollen Spiel immer mehr im Weg."
Das kenne ich von meinem Gitarrenstunden her: weil ich mit (wie ich fand) große Aufwand des Übens kaum "Erfolge" erzielte, verlor ich bald die Lust. Mein (jüngerer) Bruder klampfte munter drauflos, erzielte irgendwann Ergebnisse, die ihn so faszinierten, dass er fleißig und geradezu besessen übte.
Die Arbeit bestätigt meine Beobachtung: "Besonders deutlich war dies beim Thema "Improvisation": Die Ansicht, dass man erst alle Tonleitern beherrschen müsse und erst dann anfangen dürfe zu improvisieren, ist weit verbreitet. So kommt es oft gar nicht mehr zur Improvisation (...)" - Ich "dürfte" nicht einfach drauflosspielen, was zum Teil dem Gittarenuntericht und seiner Systematik, zum Teil aber auch meinen hohen Ansprüchen an mich selbst, zum größten Teil aber dem Umfeld (Eltern, andere Erwachsene, Lehrern) geschuldet war. Mein Bruder war "noch Kind" als er anfing, auf meiner Gitarre zu klimpern, ich schon "ein großer Junge", der nicht mehr einfach spielerisch "rumklimpern" durfte, sondern brav und sauber seine Lektionen zu lernen hatte.

Ich stimme Frau Dr. Herold deshalb zu, wenn sie den Grund für diese Entwicklung unter anderem in der traditionellen Musikvermittlung mit ihrer Trennung von Körper und Geist, Arbeit und Spiel sieht.
Nicht ganz mag ich ihr darin folgen, wenn sie die Wertmaßstäbe der westlichen Kultur, in der Musiker an hohen Standards gemessen werde und Musizieren einen hohen Lernaufwand verlange, für den "Musikerfrust" verantwortlich macht.
In vielen Fällen ist es wahrscheinlich eher die geringe Wertschätzung der Musik als "Leistungsfach", oder gar als potenzieller Beruf, der musizierenden Schülern zum Problem wird. Das musste z. B. mein Bruder erfahren: irgendwann mal wurde sein Übungsfleiß und sein Ehrgeiz als Musiker unter "Rosinen im Kopf", als unnötige Ablenkung von Schule, Ausbildung und "Brotberuf", eingeordnet. Eine Erfahrung, die ich auch bei anderen jungen Menschen mit anderen Interessen bemerkt habe: wird ein Interesse (Musik, Sport, bildende Kunst, aber auch Interesse an Tieren, an Technik, sogar an Literatur) so groß, dass die Eltern / Lehrer fürchten, es könne mehr als ein "Hobby" werden (und eventuell zulasten des schulischen Erfolgs gehen), dann wird es von "den Erwachsenen" nicht mehr unterstützt. Ausnahme: sehr tolerante Eltern / Lehrer oder solche, die sich eine berufliche Karriere im Interessengebiet des Jugendlichen gut vorstellen können.
Es sind vor allem die Eltern, die die Karrieren ihrer Kinder zu steuern versuchen: Einer meiner Mitschüler - Arztsohn - war z. B. begeisterter Mofa-Schrauber, aber seine Eltern waren von der Vorstellung, ihr Sohn könne einen "technischen Beruf" ergreifen, geradezu schockiert. Selbst als er Jahre später seinen "Dr. Ing." im Fahrzeugbau machte, war sein Vater immer noch angesäuert. Ein "Dr. Ing." ist eben kein richtiger Doktor.
Ich vermute deshalb, dass Frau Dr. Herold Menschen befragte, denen solche Steine auf dem möglichen Weg zum "professionellen Musiker" nicht in den Weg gelegt wurden.

Ein weiterer Grund für die Abbrüche liegt nach Ansicht der Musikwissenschaftlerin in dem Verlust kultureller und sozialer Einbettung der Jazz/Rock/Pop-Musikpraxis, die junge Menschen in ihrer "Szene" genossen, die aber im Erwachsenenleben verloren gingen.
Wenn sie allerdings fordert, die kulturelle Vielfalt zu fördern und für eine erhöhte Durchlässigkeit institutioneller und informeller Räume zu sorgen (z. B. durch die Kooperation von Musikschule und freier Musikszene), dann wirkt das auf mich schon beinahe hilflos.

Donnerstag, 21. Juni 2007

Feiertag - ohne Personenkult.

Heute ist ein wichtiger Feiertag: Mittsommer / Sommer-Sonnenwende. (Astronomisch genau: um 20:06 mitteleuropäischer Sommerzeit.)
Ein heidnisch-germanischer Feiertag. Der vielen Menschen hierzulande schon allein deshalb nicht geheuer ist.

Heute ist auch der Welthumanistentag. Fast alle religiösen Feiertage sind Personenkult. Immer wurden Tage gewählt, an denen Religionsstifter geboren wurden oder gestorben sind, an denen sie bemerkenswerte Eingaben hatten – so genannte Offenbarungen – oder sonst etwas Besonderes taten.
Fast alle weltlichen Feiertage sind ebenfalls Personenkult.

Seit der Aufklärung haben sich überall auf der Welt Emanzipationsbewegungen entwickelt, Selbst-Befreiungsbewegungen gegen die Fesseln religiöser, politischer und ökonomischer Tyrannei; auf der Grundlage einer weltlichen, humanistische Ethik. Denn nur eine weltliche Ethik kann wirklich kultur-übergreifend sein. Eine undogmatische Umgangsweise mit vorhandenen religiösen und philosophischen Ideen wurde zwar stets von einzelnen Personen besonders vorangetrieben, doch entwickelte sich nirgends auf der Welt daraus ein Personenkult. Ich formuliere es noch schärfer: jede Form des Personenkults, einschließlich des Kultes um die eigene Person, verrät autoritäres und ideologisches Denken. Ideologisches Denken und Narzismus sind zwei Erscheinungsformen des gleichen persönlichen Defekts: des Mangels an Empathie. Der Neigung, Menschen wie Dinge zu sehen. Der ideologische (fundamentalistische) Charakter hält "die Sache" für wichtiger als "die Menschen", der Narzisst hält sich für wichtiger als "den Rest der Menschheit". Beides tritt nicht selten zusammen auf. Der autoritäre Charakter macht sich, aus Neigung, von Ideologen und Narzissten abhängig. Wo es autoritäre Charaktere "im Fußvolk" und Ideologen / Narzissten "oben" gibt, gibt es auch Personenkult.

Als 1986 die in Oslo versammelten Humanistenverbände die Ausrufung eines gemeinsamen Feiertages beschlossen, wählten sie aus diesem Grunde keinen auf eine Person zugeschnittenen Tag. Sie einigten sich auf ein Datum, das weltweit verbindet, weil es naturbedingt bereits eine eigene Bedeutung besitzt – den Tag, an dem die Sonne auf der Nordhalbkugel ihren höchsten Stand hat: 21. Juni, Tag der Sommersonnenwende.

Ich vermute, dass die Humanisten sich bei ihrer Entscheidung auch vom in Nordeuropa sehr fröhlich gefeierten Mitsommerfest inspirieren ließen.

Samstag, 9. Juni 2007

Willkommen zurück in auf der Erde, Heiligendamm!

Es ist überstanden: Heiligendamm ist wieder ein normales Ostseebad. Das, was sich dort abspielte, dass hatte schon etwas Irreales, Unwirkliches - die Steigerung der üblichen Inszenierung von "Un-Politik", zur "virtuelle Politik", zur reinen Symbolik - oder noch weniger. Denn zu glauben, dass da wirklich "die acht mächtigsten Menschen der Erde" zusammentrafen und dort wirklich "wichtige Entscheidungen" trafen, das glaubt ernsthaft nur jemand, der nicht allzu viel von Politik versteht - oder verstehen will.

Da liegt es nahe, die G8-Inszenierung als Produktion eines Fantasy-Films zu beschreiben, wie es der "Spiegelfechter" macht: Filmtipp: The Weatherman.

Anders die "andere Seite". Die G8-Kritiker. Nicht die "Globalisierungsgegner", wie sie oft genannt wurden, obwohl sicherlich ein paar Isolationisten oder Protektionisten (also Globalisierungsgegner im strengen Sinne) aus den Anfangstagen von Attac übrig geblieben sind - alle übrigen, die dort demonstrierten, wollten eine "andere Globalisierung", wenn auch nicht alle dieselbe. Weshalb die Kritik an den Kritikern, sie seinen ja selbst sehr stark globalisiert, auch nicht trifft. Und leider gingen (wie geplant?) die meisten durchaus ernst zu nehmenden Fragen, die von G8-Kritikern gestellt wurden, unter - in der Sensations-Berichterstattung über (weitgehend virtuelle) Krawalle - 2 statt 40 oder "hunderten" Schwerverletzten, ein ausgebranntes Auto statt "zahlreicher brennender Autos". Sie gingen leider aber auch unter in der Show-Inszenierung und in den allzu plakativen, also vereinfachenden Thesen und Forderungen. Willkommen in der Welt der Un-Politik!

Vor fast einem Monat, nach den Razzien gegen (mutmaßliche und bei dieser Gelegenheit gleich in's terroristische Umfeld gerückte) linke G8-Gegner, machte Anje Schrupp den nahe liegenden Vorschlag, einfach auf die sinnentleerten Prostestrituale gegen ein längst sinnentleertes Politikritual zu verzichten.

Ich halte es nicht für einen Zufall, dass sie sich dabei auf einem Klassiker der Science-Fiction-Literatur, "The Left Hand of Darkness" von Ursula K. LeGuin (dt. "Winterplanet", neuere Ausgaben "Die linke Hand der Dunkelheit") bezog:
Mir fällt ein Abschnitt aus dem schönen SciFi-Roman Winterplanet von Ursula K. Le Guin ein: Gegen etwas opponieren, bedeutet, es zu erhalten. Man sagt hier: "Alle Wege führen nach Mishnory". Doch wenn man Mishnory den Rücken kehrt und es verlässt, ist man ganz eindeutig immer noch auf dem Weg nach Mishnory. Gegen Vulgarität opponieren bedeutet unvermeidlich, selbst vulgär zu sein. Nein, man muss woanders hingehen; man muss sich ein anderes Ziel setzen. Dann beschreitet man einen anderen Weg."
Genau dieser Mechanismus, den LeGuin in diesem sehr vom Taoismus beeinflussten Roman beschreibt, machten den gut gemeinten Protest gegen das gut gemeinte G8-Treffen so sinnlos.

Ich würde nicht so weit gehen, zu behaupten, dass gegen etwas opponieren immer bedeuten würde, es zu stützen. Alle Revolutionen entstanden beispielsweise aus der fundamentalen Opposition zum hergebrachten politischen System. Aber: der von Hegel und nach ihm von Marx behauptete dialektische Mechanismus von "These (altes System) - Antithese (Opposition, die das alte System bekämpft) - Synthese (neues politischen System)" mit einer quasi "automatischen" Weiterentwicklung bei gelungenen Revolution (oder gelungener durchgreifender Reform) - beschreibt die historische Wirklichkeit nur unzureichend. Eben so oft muss die Wirklichkeit im "dialektischen Materialismus" der Theorie angepasst werden - womit sie ihren Ideologiecharakter entlarvt. Bezeichnenderweise herrschte auch im antikommunistischen "Westen" das an ökonomischen Systemfragen ausgerichtete Marx`sche Geschichtsmodell vor - und es ist noch heute das übliche Paradigma in Politik, Wirtschaft, Journalismus und im Schulunterricht. Was zum Teil am vom LeGuin beschriebenen Prinzip der "stützenden Opposition" lag, mehr aber darin, dass marxistischer "Historischer Materialismus"und die modernen "bürgerlichen" Geschichtstheorien grundsätzlich das selbe theoretische Fundament hatten. Außerdem teilen sie beide die Vorstellung eines unaufhaltsamen Fortschrittes in der Menschheitsgeschichte.
Als Vorhersageinstrument - die Vorhersage ist die Nagelprobe jeder Theorie - versagte der "dialektischer Materialismus" kläglich. Ebenso die ihm verwandten "bürgerlichen" Theorien - der weltweite "Sieg" des liberalen Kapitalismus müsste theoretisch den ebenfalls weltweiten Sieg des entsprechenden politischen Systems, dem der liberalen parlamentarischen Demokratie, nach sich ziehen.
Die antreibende Dialektik des geschichtlichen Wandels müsste mit dem de-facto-Ende des Sozialismus nach sowjetischen Modell (bis auf Nord-Korea und, mit Einschränkungen, Kuba) jedenfalls aufgehoben sein - das war es, was manche Theoretiker am Anfang der 1990er Jahre vom "Ende der Geschichte" reden ließ.

Ich vermute: jeden Opposition, die den Gegners direkt bekämpft, und darüber das "Gehen der eigenen Wege" vernachlässigt oder aus taktischen Gründen unterlässt, wird kurz über lang Charakterzüge des Gegners annehmen. Ein anderer Klassiker der (anti-)utopischen Literatur, George Orwell, hat diesen Mechanismus der "dialektischen Angleichung" ideologischer Gegner in "Animal Farm" und, andeutungsweise, in "1984" skizziert.
Wir sehe ja z. B. wie sich liberale, "moderne" Christen "refundamentalisieren", in Abwehr gegen den fundamentalistischen Islam und in Abwehr fundamentalistischer evangelikaner Strömungen im Christentum. Auch ist es nicht zu übersehen, wie sich kämpferische Atheisten der Argumentationsweise christlich-fundamentalistischer Anhänger eines Kreationismus in (kläglicher) wissenschaftlicher Tarnung, genannt "Intelligent Design" annähern, und ihrerseits borniert, arrogant und streitsüchtig werden.
"Eine andere Globalisierung" zu fordern, statt "die Globalisierung" zu verdammen, ist schon mal ein guter Anfang. Ein weiterer, guter Schritt, könnte es sein, auf Polit-Inszenierungen nicht mit eigenen Polit-Inszenierung zu reagieren.
Das ist z. B. der entscheidende Unterschied zu den Großdemos der 80er Jahre, die die äußere Vorlage für "Rostock" lieferten: weder die Raketenstationierungen noch der geplante Bau der Atommüllwiederaufbereitungs-Anlage in Wackersdorf, noch - Sprung in die Gegenwart - Castor-Transporte sind Inszenierungen. Da passiert wirklich etwas. Auf dem G8-Gipfel passiert nichts, was nicht auch ohne diese Gipfeltreffen passieren würde.

Montag, 28. Mai 2007

Das Original

Heute starb, nach langer, quälender Krankheit, der Maler Jörg Immendorff. Immendorff litt seit Jahren an der unheilbaren Nervenkrankheit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), einer alptraumhaften Krankheit. ALS ist eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems, die im Verlauf weniger Jahre zu einer fortschreitenden Lähmung des gesamten Körpers führt. Der eigene Körper wird zum Gefängnis.
Sein Tod war, so pathetisch das klingt, Erlösung. Es heißt, er sei an Herzversagen gestorben. Sein Erbe geht an eine von ihm gegründete Stiftung mit Forschungsstipendium an der Berliner Charité zur Erforschung von Ursache und Therapie der ALS.

Immendorf war einer der prominentesten Künstler Deutschlands. Sogar die Rundfunk-Nachrichten würdigten ihn.

Ich fürchte aber, dass Immendorf seine Prominenz in erster Linie nicht seinem künstlerischen Schaffen verdankt, sondern den sogenannten Skandalen. So heißt es in der "Netzeitung":
Durch einen Sex- und Rauschgiftskandal im Jahr 2003, den er mit einer Bewährungs- und hoher Geldstrafe büßen musste, war der frühere Beuys-Schüler auch außerhalb der Kunstszene bekannt geworden.
Eine Sorte Prominenz, auf die Immendorf sicher gern verzichtet hätte. Zumal der "Skandal" bei Lichte gesehen vergleichsweise ein "Skandälchen" war, und der Drogenkonsum auch im Zusammenhang mit seiner schweren Krankheit gesehen werden muss.

Wobei der zeitweilig den "Jungen Wilden" nahe stehende Beuys-Schüler sicher nicht der Typ war, der sich gerne anpasste oder ständig um sein "gutes Image" und "gute Presse" bemüht war. Aber ein "Skandalkünstler" war er nicht. Er war solide in seinem Werk, glaubwürdig in seinen sozialen und politischen Engagement und wenn er provozierte, dann bestimmt nicht der Provokation willen. Auch wenn es sich manchmal geschickt in Szene zu setzen verstand.

Das erste Immendorf-Werk, das ich im Original sah, war ausgerechnet eine Plastik von Hans Albers.
Hans-Albers-Statue von Jörg Immendorf
"Hans Albers" - Statue von Jörg Immendorf auf dem Hans-Albers-Platz, Hamburg-St.Pauli.
Sie stand in der La-Paloma-Bar auf St. Pauli. Immendorf hatte diese Bar gegründet und für einige Zeit lang geleitet. Als ich erfuhr, dass die Albers-Plastik von dem Immendorf ist, und der Immendorf in den frühen 80ern mal eine Kneipe (den etwas anderes ist das "La-Paloma" nie gewesen) auf St. Pauli hatte, da wusste ich: nicht nur die Plastik, sondern auch ihr Schöpfer ist ein Original.

Ein Original in einer Welt voller gestylter Kopien. Voller geklonter Feen, wie ein anderes (zum Glück nicht totkrankes) Original rappt.

Ich hebe mein Horn auf Jörg Immendorf!

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