Sonntag, 21. März 2010

Kaffespezialitäten, die ich nicht brauche

(Man beachte das fehlende zweite "e"!)
Ich gebe es offen zu: ich gehöre zu jenen schwer Koffeinabhängigen, die morgens erst nach dem ersten Becher Kaffee ansprechbar sind. Fallweise auch schwarzer Tee, womit ich richtig zubereiteten Tee und nicht das in Deutschland (mit Ausnahme Ostfrieslands) üblicherweise servierte Tee-Erinnerungswasser meine.

Obwohl ich Coffeeholic bin, gibt es einige Kaffespezialitäten, die ich nach Möglichkeit weiträumig umgehe - um nicht in Gefahr zu geraten, jenen, die mir diese Kaffeebohnenmisshandlungen zumuten, ihre Plörre ganz spontan ins Gesicht zu kippen.

Das wären zum Beispiel:
Latte macchiato castrato
Kaffee Latte, koffeinfrei, mit fettarmer- und laktosefreier Milch und Süßstoff. "In"-Getränk bei verschämten Hedonisten, die insgeheim gerne Asketen wären, was allerdings "out" wäre.

Mahnkaffe
Kaffe, der mich offensichtlich mahnen soll, dass auch ich eines Tages alt und schwach sein werde.

Automatenkaffe
Pad-Maschinen vom Billigheimer, mit ebenso billigen (aber an sich viel zu teuren) Pads erlauben es nun auch daheim oder im Büro das unvergleichliche Aroma einer echten Kaffeautomaten-Plörre zu genießen. Stilecht im Pappbecher servieren!

Instant-Ekel-Kaffe
Naturgemäß ist löslicher Kaffee eine Notlösung - die aber, die richtige Sorte vorausgesetzt, durchaus passabel schmecken kann. Leider gibt es Zeitgenossen, die selbst zum Instant-Kaffeekochen zu dämlich sind. Merke: mit sprudelnd kochendem Wasser wird das Zeugs bitter, mit lauwarmem Wasser reicht es nicht mal zum Kaffe, sondern bestenfalls zum Ka ... .

Mikroaroma-Kaffe
Erkalteter Kaffee, der in der Mikrowelle aufgewärmt wurde und dadurch das typische Mikroaroma erhielt. Dieser Kaffe wird allerdings vom Marathon-Kaffe locker übertroffen.

Marathon-Kaffe
Stand mindestens für die Dauer, die ein recht guter, aber nicht zur Weltspitze gehörender Langstreckenläufer für die 42 Kilometer braucht, also etwa drei Stunden, auf der Warmhalteplatte. Erinnert geschmacklich an vergossenen Schweiß, verursacht zwar keine wunden Füße oder wunde Oberschenkelinnenseiten, dafür aber wunde Magenschleimhäute.

Bodensehkaffe
(Fälschlich "Bodenseekaffe" genannt - aber so ekelhaft ist das Wasser im Bodensee gar nicht.) Die in deutschen Kantinen, Autobahnraststätten und Fernzügen übliche Form der Kaffezubereitung: so dünn, dass der Boden der Tasse deutlich zu sehen ist. Kann rein optisch leicht mit Tee verwechselt werden - es sei denn, der "Tee" ist das nicht nur in deutschen Kantinen, Autobahnraststätten und Fernzügen übliche Tee-Erinnerungswasser, das sich farblich nur geringfügig von Leitungswasser aus einer korrodierten Leitung abhebt. (Meistens auch geschmacklich.)

Donnerstag, 18. März 2010

ELENA ist kein nettes Mädchen.

(Geklaut aus ryuus Hort - weil es wichtig und dringend ist!)

ELENA ist kein nettes Mädchen.
Sondern eine Datenkrake par excellence. Sie sammelt z.B.
  • Bruttoentgelt und Steuerklasse
  • Kinderfreibetrag
  • Angaben zur Tätigkeit, wöchentliche Arbeitszeit
  • Renten-, Sozialversicherungs-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherungabzüge
  • Lohnsteuer, Solidaritätszuschlag, Kirchensteuer
  • Name und Anschrift, Geburtsort, -datum und –name
  • Angaben zu Arbeitgeber und Betrieb
  • Anzahl, Beginn und Ende sowie „Arten“ von Fehlzeiten (z.B. Krankheit, Mutterschutz, Pflegezeit, Elternzeit, Wehrdienst/Zivildienst, usw.)
  • Höhe und Art sonstiger steuerpfl. Bezüge (Weihnachts- u. Urlaubsgeld, zusätzl. Monatsgehälter, Gratifikationen,Tantiemen, Urlaubsabgeltungen, Abfindungen …)
  • Höhe und Art von steuerfreien Bezügen (z.B. Pensionskasse-Zuwendungen durch den Arbeitgeber, Kurzarbeitergeld, steuerfreie Fahrtkostenzuschüsse, Zuschüsse bei Mutterschaft usw.)
  • Zeitpunkt des Beginns sowie voraussichtliches und tatsächliches Ende einer Ausbildung
  • Arbeitgeber-Zuschuss zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung
  • Grund von Arbeitszeitänderungen
  • Arbeitsstunden – aufgeschlüsselt in Arbeitsstunden jeder einzelnen Kalenderwoche des Monats
  • Urlaubsanspruch und tatsächlich genommene Urlaubstage, Urlaubsentgelt
  • Angaben zu befristeten Arbeitsverhältnissen
  • Angaben zu Entlassungen und Kündigungen
  • Auskunft über bereits erfolgte Abmahnungen im Vorfeld von Kündigungen
  • Schilderung von „vertragswidrigen Verhalten“ des Angestellten/Arbeiters
  • Vorruhestandsleistungen und -gelder, Abfindungen
(Quelle: https://petition.foebud.org/FoeBuD/informationen-zu-elena

und führt mit dieser zentralisierten Erhebung von Daten letzten Endes zum gläsernen Arbeitnehmer.

Aber: der FoeBuD organisiert eine Verfassungsbeschwerde dagegen. Beteiligung ist kostenlos, $mensch muß allerdings betroffen sein. Das sind
  • Angestellte (auch Minijobber!)
  • "arbeitnehmerähnliche Selbständige", die Rentenversicherungsbeiträge zahlen
  • Beamte
  • Richter_innen
  • Berufssoldat_innen
Und es muß diesmal schnell gehen: nur Vollmachten, die bis zum 25.3. eingegangen sind, können verwendet werden.

Nachtrag - WICHTIG! ELENA-Verfassungsbeschwerdefrist verlängert!
Bis zum 29. März eintreffende Vollmachten können
noch verwendet werden. Also besser gleich mitmachen!
https://petition.foebud.org/ELENA

Was wäre, wenn - Hartz IV wirklich auf 5 Jahre begrenzt würde?

Über den Vorschlag - oder Tiefschlag - des emeritierten Sozialpädagogik-Professors, Vertreters zuweilen ziemlich bizarrer Außenseiter-Hypothesen und beliebten "Öchsperten" (als "Experte" dargestellter Stichwortgeber für Kampagnen) Gunnar Heinsohn in der "FAZ" („Sozialhilfe auf fünf Jahre begrenzen“) ist schon viel geschreiben worden. (Ich empfehle den Artikel "Das unwerte Hartz IV-Leben" auf TP, den kommentierten Hinweis auf den "Nachdenkseiten" und, weil er eine ganz konträre Ansicht auf intelligente Art vertritt, Zitat des Tages: "Unter den Demographen kaum noch Hoffnung für Deutschland" Gunnar Heinsohn erbarmungslose Analyse bei Zettel.

Auch ohne Heinsohn eine Nähe zur Naziideologie zu unterstellen, würde eine zeitliche Begrenzung (und erst recht eine Abschaffung) von ALG II oder auch Sozialgeld meiner Ansicht nach das Entstehen eines autoritären Diktaturstaates begünstigen. Es wäre übrigens auch der Marktwirtschaft nicht zuträglich.

Was würde passieren, wenn Sozialhilfe auf fünf Jahre begrenzt wird? Ich versuche eine Antwort auf rein pragmatischer Ebene, der der instrumentellen ökonomischen und poltischen Vernunft, ohne jedes "Humanitätsgedöns" und ohne Rücksicht auf die Menschen- und Bürgerrechte, die auch einem Armen nun einmal zustehen.

Die Idee, die Sozialhilfe auf fünf Jahre zu begrenzen, hört sich aus (wirtschafts-)liberaler Sicht grundsätzlich nicht einmal verkehrt an - das dürfte auch ein Grund dafür sein, dass Heinsohn so viel Zustimmung bekommt. Es spart Sozialausgaben und motiviert die Leute, wirklich alles zu machen, um sich durchs Leben zu schlagen. Wie Heinsohn vermutlich zurecht vermutet, werden Langzeitarbeitslose es sich unter diesen Umständen zehnmal überlegen, ob sie wirklich Kinder haben wollen. (Dass unter den von Heinsohn vorgesehenen Rahmenbedingungen das zu illegalen Abtreibungen und Kindesaussetzungen / Kindsmord führen würde, steht auf einem anderen Blatt - aber wir wollen ja nicht sentimental werden.)
Der Haken: Jene, die von Sozialleistungen leben, betrachten die nämlich als ihr gutes Recht. (In den meisten Fällen zurecht, aber Radikalkapitalisten werden das anders sehen.) Mag sein, dass die die "Hartzer" sich bisher sehr viel gefallen ließen, ohne aufzumucken. Ein wesentlicher Grund für diese "Ruhe" liegt daran, dass selbst ein Langzeitarbeitsloser noch etwas zu verlieren hat - nur deshalb funktionieren ja die Sanktionen bei Fehlverhalten. Wenn es gar nichts mehr gibt, und sie nichts zu verlieren haben, werden sie sich mit Gewalt nehmen, was ihnen ihrer Ansicht nach zusteht.
In den USA führte das nach der zeitlichen Begrenzung der Sozialhilfe zu einem Anstieg der Kriminalität, die Gefängnisse sind überfüllt - auch auf Kosten der Allgemeinheit. Wer nichts zu beißen hat und im Winter in Gefahr läuft, zu erfrieren, den schreckt der Knast, wo es immerhin satt zu essen, ein Bett im Trockenen und eine Heizung gibt, nicht mehr ab.
Schlimmer noch: auch die Gefahr eines gewaltsames Aufstandes nimmt zu. Üblicherweise reagieren Regierungen auf Aufmüpfige mit Repression, mit Überwachen, hart durchgreifen und hart strafen. Wenn auf diese Weise der "Mob" unten gehalten wird, bedeutet das erst einmal, dass die Gefängnisse noch voller würden. Also läge es schon aus Kostengründen nahe, in irgend einer Form die Zwangsarbeit einführen. (Ansätze dazu gibt es, in den USA, aber auch bei uns.) Also z. B. ein Bundesarbeitsdienst, eventuell mit Massenunterkünften (spart Wohnkosten!) für die folgsamen Langzeitarbeitslosen, "Gulags" (um mal keinen Nazivergleich zu machen) für die, die "Aufmucken".

Sklavenarbeit hat, wie z. B. ein Blick nach China zeigt, unter marktwirtschaftlichen Bedingungen aber den Nachteil, dass sie konkurrenzlos günstig ist. Freie Arbeiter in der gleichen Branche verlieren dadurch ihren Job oder ihre Löhne werden so weit gedrückt, dass sie damit nicht mehr auskommen. Auf die Dauer wird das dazu führen, dass ein marktwirtschaftliches System sich nicht länger halten kann. Außerdem wird ein ausgebautes Gulag-System für "Aufmuckende", auch wenn es ursprünglich "nur" für "aufmuckenden Arbeitsscheue" gedacht ist, unweigerlich dazu führen, dass auch andere "Unbequeme" im Arbeitslager landen. Die Option "Zwangsarbeit" ist also eine Gefahr für Demokratie und Marktwirtschaft. (Nicht für kapitalistische Eigentumsverhältnisse. Die waren z. B. bei den Nazis trotz gelenkter Wirtschaft intakt.)

Andere Möglichkeit, auch teilweise in den USA praktiziert, aber in Reinform in Ländern ohne "soziales Netz" zu besichtigen: man überlässt die Armen einfach sich selbst. Hunger, Seuchen, Kriminalität? Alles egal, solange die Armen die Wohngebiete der Mittelschicht nicht plündernd heimsuchen und um die der Reichen einen weiten Bogen machen.

Heinsohns "einfache Lösung" wird die Probleme absehbar verschärfen. Dafür sein kann eigentlich nur jemand, dem die Freiheit als Wert ziemlich schnuppe ist. Auch in letzter Konsequenz die eigene ...

Montag, 15. März 2010

"Deutsche Sporthelden"

Ich schließe mich gern der Ansicht an, dass ein Selbstbewusstsein, das sich aus dem Abgrenzen gegen andere speist, gar kein Selbstbewusstsein ist. So gesehen könnte es Patrioten, die so gerne darauf behaupten, sie seien stolz und selbstbewusst und national und die Anderen könnten uns mal, deutlich an Selbstbewusstsein mangeln. Die Erkenntnis, dass Nationalisten, die Andere nieder machen und Feindbilder pflegen, ein gestörtes Selbstbewusstsein haben, ist fast Allgemeingut. Und darüber, wie es um das Selbstbewusstsein von jemandem steht, der sein "geliebtes Vaterland" stets von bösen Feinden bedroht sieht und ständig nur von Niedergang, Zersetzung, Unterwanderung, Dekadenz usw. redet, braucht man, denke ich, gar nicht lange spekulieren.

(Und wer gar fragt: "Warum sollen wir als einziges Volk auf der Welt nicht stolz auf unsere jahrtausende alte Geschichte sein?", der braucht meiner Ansicht nach gar nicht mehr zu erzählen, wie es um sein "patriotisches Selbstbewusstsein" bestellt ist. Das ist Minderwertigkeitsgefühl in Reinform.)

Leider spricht aus der Sportberichtererstattung in den meisten mir bekannten deutschen Medien, und zwar nicht nur in der in dieser Hinsicht unübertrefflichen BLÖD - genau dieses nationale Selbstbewusstsein, das keines ist. Das übrigens keine deutsche Spezialität ist, schon gar nicht im Sport - man denke nur an bestimmte englische und niederländische Fußballfans. Oder an die Sportseiten der "Daily Mail" (die der "Sun" sollen noch schlimmer sein).
Aber diese spezielle Häme, die auf "nationale Sporthelden" niedergeht, die irgendwie die Erwartungen nicht erfüllten, die oft von genau den selben Sportredakteuren hochgeschrieben wurden, die sie nach dem "Versagen" öffentlich Niedermachen, die kommt mir schon sehr "deutsch" vor. Nicht im Sinne eines Nationalcharakters (was sollte das sein?) oder auch nur einer allgemein verbreiteten Mentalität. Sondern im Sinne einer unschönen deutschen Tradition, die sich mühelos auf nazideutsche Propaganda und wilhelminischen Hurra-Patriotismus zurückführen lässt.

Wer wird in Deutschland medialer Sportheld und wer nicht?

Ich bin ja, wie Stammleser meines Senfblogges sicher festgestellt haben werden, ein Fahrtensegel-Enthusiast. Auch wenn ich schon seit Jahren (seufz) nicht mehr selbst auf Törn war. Dabei registriere ich auch, wie herausragende Fahrtensegler in ihren jeweiligen Heimatländern behandelt werden.

Leicht - aber nur leicht - überspitzt formuliert:
Einen Weltumsegler fragt man nach der Rückkehr nach Deutschland. ob er einen Sportbootführerschein hätte. (Etwa in der Art ist tatsächlich schon passiert.) Und er oder sie schafft es mit Glück in die Fach- und Lokalpresse.
Im sport- und segelbegeisterten Britannien bekommt man dagegen einen Adelstitel. (Den echte Ritterschlag eher selten, die öffentliche Anerkennung aber schon regelmäßig.)

Ich will damit sagen, dass es in der deutschen Öffentlichkeit einen starken Hang gibt, Sportler zu instrumentalisieren. Nur wenn ein Sportler seine ausländischen Konkurrenten deklassieren kann, und so das Minderwertigkeitsgefühl zumindest der Sporjournalisten und Sportfunktionäre kompensieren darf, ist er - oder sie - ein "Held". Dem dann auch alles verziehen wird. Ansonsten herrscht das ganz kleine Karo vor.

Nachtrag: ja, Michael Schumacher ist der Anlass. Ich bin alles andere als ein Motorsportfan, und mag ihn auch nicht besonders - aber eine unfaire Presse mag ich noch viel weniger.

(Dank an Ringfahndung für die Anregung.)

Sonntag, 14. März 2010

Tattúínárdœla saga: die altisländische Saga vom Krieg der Sterne

Vor langer Zeit, in einem fernem Nordatlantik ...

Jackson Crawford hatte vor kurzem eine erhellende Diskussion mit seinem Kollegen Ben Frey über die komplizierten Textüberlieferungen, die hinter Georges Lucas "Star Wars" liegen, von dem nur wenige außerhalb der gelehrten Gemeinschaft wissen, dass er eine moderne Wiedergabe einer alten germanischen Legende über einen tödlichen Konflikt zwischen einem Vater und seinen verräterischen Sohn ist. Crawford macht einige Anmerkungen zur altisländischen Version der Legende, mit einige kurzen vergleichenden Randbemerkungen über die verwandten Überlieferungen in anderen alten germanischen Sprachen.

Die Geschichte, wie sie in George Lucas Filmen dargestellt wird, steht nur für eine der handschriftlichen Überlieferungen, und zwar einer ziemlich späten und verdorbenen - das mittelhochdeutsche Epos namens Himelgengærelied (Lied des Himmelsgehers). Den Gelehrten ist auch ein althochdeutsches Palimpsest bekannt, das später mit einem lateinische Choral überschrieben wurde, und von uns heute nur teilweise gelesen werde kann, das Fragmente einer Version enthält, in der "Veritare" bis ins hohe Alter überlebt, nachdem er "Lûc" aus Loyalität zum Imperator erschlug, aber dem für diese Bluttat immer noch die Rache des Sohns seiner Tochter Leia droht.

Mehr von über die sensationelle Entdeckung des altnordischen Originals der Saga vom Krieg des Sterne: Tattúínárdœla saga: If Star Wars Were an Icelandic Saga. Yes, this is Star Wars in Old Norse!
(Englischkenntnisse erforderlich, Altnordischkenntnisse - mh, wären vielleicht ganz nützlich ...)

Wichtig und richtig: "Jetzt bloß keine Hexenjagd"

Der Schriftsteller Josef Haslinger fiel als Klosterschüler mehrmals pädosexuellen Übergriffen von Priestern zum Opfer. Dass er als Kind auf diesem Gebiet Erfahrungen sammelte und darüber schrieb, macht ihn, wie er selbst sagt, nicht zum Experten in Fragen der Pädophilie und der Pädosexualität. Ich finde es übrigens gut, dass er das ausdrücklich schreibt. Denn es ist leider üblich, Opfern oder ihren Angehörigen einen automatischen Expertenstatus zu verleihen.

Dennoch hat er einiges zu diesem Thema zu sagen. Sein Aufsatz "Jetzt bloß keine Hexenjagd" ist wichtig und richtig.

Wichtig ist, dass sexuelle Übergriffe auf Schutzbefohlene nicht isoliert davon gesehen werden können, wie vor gar nicht langer Zeit auf katholischen Klosterschulen erzogen wurde:
Heute denke ich, es war vor allem das ständige Erniedrigtwerden bis hin zur allgegenwärtigen körperlichen Züchtigung, das im Nachhinein meine Hassgefühle hat wachsen lassen. In den Jahren, in denen außerhalb der Klostermauern über antiautoritäre Erziehung gesprochen wurde, wurden wir von den Protagonisten der Religion der Liebe, auf arabische Art, könnte man sagen, mit dem Stock geschlagen.
Was er dann schreibt, hat mich beim ersten Lesen erschreckt:
Die Pädophilen waren in dieser Sphäre von klösterlicher Gewalt eine Oase der Zärtlichkeit. Das Kloster war ein Exzess in dieser und jener Richtung.
Erschreckt weniger, weil da ein Opfer seine Peiniger bis zu einem gewissen Gerade in Schutz nimmt, sondern weil es vielleicht einen scheinbar rätselhaften Aspekt beim Skandal über Pädophile Priester / Lehrer und den "sexuellen Missbrauch" von Schülern zumindest teilweise erklären könnte: Warum hatten die "Knabenschäder" so leichtes Spiel? Die mögliche Antwort: Weil in einer lieblosen und von brutaler Disziplin und harten Strafen geprägten Umgebung den Kindern und Jugendlichen jede Form von "Zärtlichkeit", egal, aus welchen (üblen) Motiven heraus, willkommen ist. Jedenfalls so lange der Pädophile nicht gegen seine Opfer offen aggressiv wird.

Haslinger stellt klar, dass der öffentliche Diskurs über "Kinderschänder" in eine gefährliche Richtung läuft:
Passen wir bloß auf, dass wir jetzt keine Hexenjagd inszenieren. Die Kinder sind zu schützen, keine Frage. Und die Opfer haben ein Recht, gehört zu werden. Aber was machen wir mit den Tätern? Es hat einen guten Sinn, dass es im Gesetz Verjährungsfristen gibt. Dafür hat es einmal ein Rechtsempfinden gegeben. [...]
Das Hauptbestreben der derzeitigen Thematisierung von Pädophilie und Pädosexualität muss es sein, heutige Fälle aufzudecken und künftige zu verhindern. Die Aufarbeitung der Geschichte ist für die Opfer von Bedeutung. Sie haben einen uneingeschränkten Anspruch darauf. Aber die Gesellschaft? Immerhin wird der Intimbereich von Menschen berührt. Von Opfern und von Tätern. Egal wie er beschaffen ist, er steht unter dem Schutz unserer gesellschaftlichen Verfassung. Ich will diese Leute nicht am Pranger vorgeführt bekommen.
Ich stimme Haslinger zu: Menschen mit pädophiler Veranlagung sollte man gar nicht erst zu Tätern werden lassen. Es gibt Ansätze für so eine Prävention, die leider meines Erachtens zu wenig Beachtung finden. (Hart Strafen ist eben populärer, auch wenn es für die Opfer längst zu spät ist.)
Im Rahmen des Forschungsprojekts "Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch im Dunkelfeld" finden seit Juni 2005 Männer, die auf Kinder gerichtete sexuelle Fantasien haben, aber keine Übergriffe begehen wollen therapeutische Unterstützung: kein täter werden.
Medienaufgeregte Politiker überschlagen sich mit Vorschlägen, wie man das Strafrecht verschärfen und Verjährungsfristen aufheben könnte. Wenn wir Pädophile mit Kinderschändern und Sexualattentätern gleichsetzen, haben wir zwar ein größeres Medienspektakel, aber es geht uns jeder Maßstab für sinnvolle Maßnahmen verloren. In meinen juristisch ungeschulten Augen sind das unterschiedliche Paragraphen.
In meinen auch!

Davon abgesehen: Eine ausreichende Gefahrenaufklärung der Kinder und Jugendlichen ist wichtig. Noch wichtiger ist es vielleicht, die offensichtlich immer noch bestehenden Strukturen, die sexuelle Übergriffe auf Schutzbefohlen begünstigen, endlich abzubauen. Die gibt es übrigens nicht nur in katholischen Bildungseinrichtungen.

Übrigens halte ich gerade in diesem Zusammenhang die strenge Disziplin in der Erziehung, wie sie z. B. von Bernhard Bueb ("Lob der Disziplin") gefordert wird, für äußerst problematisch. Bueb, der zeitweilig auch an der Odenwaldschule unterrichtete, hat persönlich sicherlich nichts mit den "Mißbrauchsfällen" an diesem Internat zu tun. Es fällt mir nur auf, dass ausgerechnet sein langjähriger Freund, der ehemaligen Schulleiter der Odenwaldschule Gerold Becker, erheblich in den Skandal verwickelt ist. Ich weiß nicht, inwieweit Becker ähnliche pädagogische Konzepte, wie Bueb sie im Internat Salem anwendete, vertrat: neben Fördern der Schüler auch Überwachen und Disziplinieren - und vor allem: ihnen keine Selbstbestimmung einräumen, denn Teenager wissen offenbar ja nicht, was sie wirklich wollen und was für sie gut ist.
Ich habe aber den üblen Verdacht, dass die Kombination aus Strenge, verhindern von Selbstbestimmung und persönlicher Nähe (familienähnliche Kleinguppen, die von einem Lehrer geleitet werden) sexuelle Übergriffe sehr begünstigt.

Samstag, 13. März 2010

Halbwahrheit, moleskin-gebunden, oder: wie man Legenden strickt

Eher zufällig und ganz bestimmt unbeabsichtigt lieferte mir Karan den Auslöser dafür, eine Überlegung los zu werden, die mir schon lange im Kopf herumspukt: Legenden - Verschwörungstheorien, Propagandalügen, Marketing-Stunts, Geschichtsklitterungen - aber auch harmlose "moderne Mythen" und Alltagssagen - funktionieren dann am Besten, wenn sie auf Halbwahrheiten beruhen.

Karan benutzt zum Schreiben ihrer Songs ein Moleskine-Notizbuch mit Notenlinien. Und obwohl ich annehme, dass sie es ausschließlich aus praktischen Gründen verwendet, passt das ins Klischee "kreative Typen benutzen Moleskines".
(Ich benutze übrigens kein Moleskine oder vergleichbares Notizbuch. Ich kann mich darin nicht so austoben wie auf meinen geliebten Spiralblocks - die ich in allen möglichen Formaten, vom DIN A7 "Einkaufzettelformat" bis zum DIN A4 "Collegeblock" (mit Lochung) verwende. Das ist weniger eine Frage des Formats, als eine der Kosten - hemmungsloser Schreibdurchfall und Anfälle von kreativem Kritzelwahn würden auf einem Moleskine, das "echt" an die 11 Euro und als Imitat immer noch um die 5 - 6 Euro kostet, ein für mich zu teurer Spaß werden, zumal ich das meiste, was ich so zu Papier bringe, früher oder später dem Altpapier anvertraue. Aber ich gebe zu: für einen weniger wahnsinnigen und weniger streichwütigen Kreativen ist diese Art Notizbuch praktisch.)

Der Erfolg der Moleskines als Attribut des kreativen Menschen, als "legendäres" Markenprodukt ist Folge einer geschickten Manipulation. Ohne die Werbung mit einer guten, aber erfundenen (man kann auch sagen: erlogene) Geschichte wären die "Moleskines" schlichte, wenn auch praktische, Notizbücher geblieben. Wie diese Manipulation, das Stricken der Moleskin-Legende ablief, wurde in Das ungeschriebene Buch gut beschreiben.

Moleskine ist, glaubt man dem Hersteller (Modo & Modo) das legendäre Notizbuch von Hemingway, Picasso, Oscar Wilde und Sartre. Allerdings ist es sehr fraglich, ob diese legendären Kreativen tatsächlich jene ursprünglich in schweren Baumwollstoff ("Moleskin") gebundenen Notizbücher von jener legendären kleinen Manufaktur in Tours, von der Bruce Chatwin in seinem Buch "Traumpfade" ("The Songlines") berichtete, benutzten. Ziemlich sicher ist jedenfalls, dass vor Chatwin der Ausdruck "les carnets moleskines" für diese Sorte Notizbuch nicht gebräuchlich war. Vielleicht hat es auch den kleinen Pariser Schreibwarenladen und den verstorbenen Produzenten in Tours so, wie Chatwin ihn beschrieb, nie gegeben - künstlerische Freiheit eben, übertrieben, zugespitzt, und doch in gewisser Weise wahr, wenn auch in einem andere Sinne als das bei einem Lexikonartikel oder einer Reportage zurecht erwartet wird.
Was Modo & Modo aus der netten Chatwin-Geschichte machte, ist nichts als geschicktes Marketing, auch unter Einsatz handfester Falschbehauptungen, die in diesem Fall nicht mit "künstlerischer Freiheit" zu entschuldigen sind. Denn wie die deutlich preiswerteren Notizbücher vom Schreibwaren-Discounter werden die Moleskines von Modo & Modo in China hergestellt, und sind auch nicht in das namensgebende robuste Moleskin gebunden, sondern in ein Lederimitat auf PVC-Basis. Was man mit einem "echten" Moleskin kauft, ist also der Markenname und das damit verbundene Image.

Aber, und das ist der Punkt, die absichtlich gestrickte Legende hätte nie funktioniert, wenn sie nicht auf einigen Halbwahrheiten beruhen würde. Eine Halbwahrheit ist die Geschichte Chatwins, der ja tatsächlich Notizbücher der beschriebene Art verwendete und sie offensichtlich über alles schätzte. Eine andere Halbwahrheit ist es, dass Hemingway, Picasso, Oscar Wilde, Sartre usw. ja nachweislich Notizbücher mit festem Einband und abgerundeten Ecken verwendeten. Vielleicht mögen darunter auch welche mit Gummizug, mit dem das Buch geschlossen gehalten werden kann, der Tasche am Ende und einem Leseband gewesen sein, und eventuell waren einige dieser Notizbücher sogar in Moleskin gebunden. Hätte Modo & Modo etwa behauptet, alle diese Kreativen hätten z. B. einen bestimmten Kugelschreiber verwendet, der heute, nach dem Tod des ursprünglichen Herstellers, eben von Modo & Modo weiterproduziert worden wäre - die Marketing-Legende hätte nicht funktioniert. Zum Beispiel, weil allgemein bekannt ist, dass es zu Lebzeiten von Oscar Wilde noch keine Kugelschreiber gab. Und ohne Chatwins schwärmerische Beschreibung, an dem die ganze Legende hängt, wäre der Marketing-Stunt nicht denkbar gewesen.

Die beiden Hauptfaktoren, die zum "Gelingen" dieser Legende betrugen, sind das "Körnchen Wahrheit", durch die sie glaubwürdiger als eine freie Erfindung wurde - immerhin gibt es Fotos, auf denen z. B. Hemmingway mit Notizbuch zu sehen ist - und der Appell an ein weit verbreitetes Klischee - hier: das des kultivierten Kreativen mit besonderem Geschmack. (Wenn Hemmingway billige Spiralblocks benutzt hätte, hätte sich darauf keine Legende aufbauen lassen.)

Solche Legenden könne auch ohne bewusste Absicht konstruiert werden. Etwa die, dass der Weihnachtsmann von Coca-Cola erfunden worden wäre. Diese Behauptung wurde nicht zufällig in die Welt gesetzt, aber das Gerücht wäre, wie andere Coca-Cola-Gerüchte, verpufft, hätte es nicht das Klischee des schier allmächtigen Coca-Cola-Konzerns (der stellvertretend für den US-Kapitalismus steht) und einige nachprüfbare Tatsachen, die die Legende scheinbar stützen, z. B. die massiven Weihnachts-Werbekampagnen des Konzerns, gegeben. Aber ein noch besseres Beispiel ist die "paradiesische Südsee".

Ganz falsch die Vorstellung, man könne auf einer Insel im tropischen Pazifik ganz angenehm leben, ja nicht: warmes Klima, aber durch Seewind gemildert, viel Sonne, aber keine wüstenhafte Dürre und auch, anders als am Amazonas, kein täglicher Wolkenbruch. Wer genügsam ist, kommt dort auch mit sehr wenig Geld zurecht.
Es stimmt auch, dass die Polynesier im Allgemeinen freundliche Menschen sind. Aber selbstverständlich (oder offensichtlich nicht selbstverständlich, wenn man an bestimmte Autoren, darunter sogar Ethnologen wie Magaret Mead, denkt) gibt es auch auf Tahiti, Samoa oder Tonga Streit, Neid, Eifersucht, Verklemmtheit, Klatsch und Zwietracht. Gewalt, als gewaltsam ausgetragenen Streit und vor allem als häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder, ist z. B. auf Samoa statistisch gesehen häufiger als in Deutschland. Wenigstens das Klischee, dass die "Südseeinsulaner" in Eintracht und Harmonie mit der Natur leben, dürfte spätestens seit Rapa Nui nicht mehr ganz so weit verbreitet sein.

Auch vor der Kolonialzeit, der Missionierung durch "Weiße" und den "schlechten Einflüssen einer dekadenten Zivilisation" herrschten in Polynesien alles andere als paradiesische Zustände (womit die Gräuel der Kolonialisierung nicht beschönigt werden sollen). Auch im Pazifik gab es kaum Pazifisten. Wie beinahe überall auf der Erde gab es Kriege, um Macht und um das auf den Inseln stets knappe Land, es gab, wie in Stammesgesellschaften nicht unüblich, Blutrache, es gab Kindstötungen, es gab eine streng hierarchische Gesellschaft mit Adelsprivilegien, es gab sogar Sklaverei. Und auch der Kannibalismus der "Südseeinsulaner" ist keine Erfindung böswilliger Missionare oder rassistischer Kolonialherren. (Auch wenn ein Gutteil Rassismus in den meisten "Menschenfresser"-Geschichten steckt.)

Die romantische Vorstellung, dass die Südseeinseln ein irdisches Paradies seien, ist keine gezielt erfundene Propaganda- oder Marketing-Legende. Trotzdem ist sie ein Konstrukt, etwas "Gemachtes", sie entstand nicht "von allein".

Aller Wahrscheinlichkeit nach waren es die Seeleute des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die das Südsee-Paradies (ungeplant) erfanden.
Die Lebensbedingungen Bord der Schiffe waren, vor allem für die einfachen Matrosen, extrem hart, und je länger die Reise dauerte, desto härter wurden sie. Ständige Feuchtigkeit, drangvolle Enge, schlechte Verpflegung, Skorbut und Infektionskrankheiten, harte Arbeit, fauliges Trinkwasser, um nur einige der "Attraktionen" der damaligen Seefahrt zu benennen. Hinzu kam auf Marineschiffen eine eiserne Disziplin. Die nicht immer, aber oft, mit schlechter Behandlung und drastischen Strafen einher ging.

Die grünen Insel mit Palmenstränden und scheinbarem Überfluss an köstlichem Essen, mit freundlichen und neugierigen Menschen, auf denen scheinbar niemand schuften musste, müssen im Kontrast dazu tatsächlich paradiesisch gewirkt haben.
Dann neigten die heimgekehrten Seeleute dazu, ihre Erlebnisse auszuschmücken und zu übertrieben - selbst wenn sie kein "Seemannsgarn" spannen, was oft genug vorkam. Es ist eine allgemein menschliche Eigenschaft, Dinge, die anders sind als zuhause, hervorzuheben, und Dinge, die genau so sind, wie gewohnt, zu vernachlässigen.
Folglich spielten die hierarchische Klassengesellschaft Polynesiens, die brutalen Strafen bei Verstoß gegen Regeln und Tabus (ein polynesisches Wort), die Kriege und Kleinkriege usw. in den Erzählungen der Seeleute keine große Rolle. Das war fast wie zuhause und daher nicht der Erwähnung wert.

Berichtet wurde von dem, was anders war als zu Hause - den warmen Klima, den köstlichen, nie gesehenen Früchten, der üppigen Flora und Fauna, der spärlichen Kleidung der "Eingeborenen" und ihrer - jedenfalls nach den ziemlich puritanischen Maßstäben des Englands des 19. Jahrhunderts - freizügigen Sexualmoral.
Nachdem die Legende von der paradiesischen Südsee sich erst einmal festgesetzt hatte, verzerrte sie, zusammen mit eine Portion Wunschdenken, die Wahrnehmung etwa der Ethnologin Margret Mead. Das verzerrte und idealisierte Bild, das sie in "Kindheit und Jugend in Samoa" zeichnete, trug dann wiederum dazu bei, dass das Paradies-Klischee gefestigt wurde.
Es soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass es auch absichtliche Falschdarstellungen vom Leben in der Südsee gab - als beschönigende Kolonialpropaganda beispielsweise, oder, um mit dem Verweis auf die paradiesischen Zustände im tropischen Pazifik politische Utopien zu illustrieren. Später taten Tourismuswerbung und dem Geschmack und den Erwartungen des Publikums nach dem Munde redenden bzw. schreibende Schriftsteller das ihre zur Legende vom "irdischen Paradies" bei. Aber die Legende hätte sich nie so festsetzen können, wenn es nicht entsprechende Klischees und einen Anteil Wahrheit gegeben hätte.

Um den Bogen zum Moleskine-Notizbuch zu schließen: einer der Schriftsteller, dem der Gebrauch so eines Notizbuches nachgesagt wird, ist Jack London. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass unter den von ihm benutzten Notizbüchern eines aus französischer Produktion, oder gar aus jener legendären kleinen Manufaktur in Tours, war. Es waren ausgerechnet die Abenteuerromane Londons, die, als ich sie als Jugendlicher zum ersten Mal las, bei mir das Klischee vom Südseeparadies zurecht rückten.

Donnerstag, 11. März 2010

Die Unmoral der moralischen Verpflichtung

Vorab möchte ich mich bei meine Lesern um Entschuldigung bitten, dass ich in diesem Beitrag einige drastische und ordinären Formulierungen gebrauchen werde. Mir ist danach. Oder genauer gesagt: mir ist zum Kotzen zumute.
Mir gehen zwei Meldungen nicht aus dem Kopf, die sich wie Mehltau auf meine Laune legen.
Sie haben beide mit moralischen Verpflichtungen zu tun. Genauer gesagt: mit dem Missbrauch moralischer Appelle.

Gisela Mayer ist die Mutter eines der Opfer des "Amokschützen Tim K." Sie macht sich, als Betroffene, ihre Gedanken über "Killerspiele", die sie für ein der Ursachen des Massakers hält, ungeachtet dessen, dass Tim K. kein intensiver Computerspieler war. (Auf seinem PC gab es gerade einmal zwei Actionspiele. Das ist stark unterdurchschnittlich, nicht nur bei Jugendlichen.) Das ist für mich nachvollziehbar, ihre Tochter ist brutal ermordet worden, und sie sucht, wenn es schon nicht möglich ist, die Gründe zu erfahren (die hat Tim K. mit ins Grab genommen), wenigstens nach Ursachen. Dies heißt jedoch nicht, dass sie durch ihren Opferstatus zur Expertin geworden wäre, und mit all ihren Vermutungen und Schuldzuweisungen recht hätte. Diese Schuldzuweisungen sind gut und hilfreich für sie, und sie hat alles Recht der Welt, ihre Wut und Trauer auf die "Killerspiele" zu projizieren (oder, meines Erachtens mit mehr Berechtigung, auf die Schützenvereine) - aber dadurch werden ihre Vermutungen nicht wahr!
Besser kann man es nicht sagen. Wer auch gegen Gisela Mayer noch protestieren will, der trete vor und schweige!
Aus Winnenden und die Killerspiel-Lobby, einem Kommentar von Malte Lehming für den "Tagesspiegel".
Über diesen Kommentar hat Thomas Knüwer schon das Nötige geschrieben, und was er vielleicht noch versäumte, haben die Kommentatoren schon nachgeholt. Also kann ich es mir ersparen, auseinander zu nehmen, wieso es Hirndurchfall ist, bei Amokläufen zuerst an Killerspiele als Ursachen zu denken, und riesiger stinkende Bullshit, die (angebliche) "Killerspiel-Lobby" mit dem Militärisch-Industriellen Komplex gleichzusetzen. Und wieso das auch dann Bockmist wäre, wenn Lehming eine Glosse oder vielleicht sogar eine Satire geschrieben hätte.

Nein, es geht mir jetzt darum, was Lehming da auf der Ebene des moralischen Appells abzieht.
Er instrumentalisiert die zornig-trauernde Mutter eines Opfers, versteckt sich sozusagen hinter ihr - und stellt den Leser mit dem theatralische Schlusssatz vor ein echtes moralisches Dilemma. Denn ihr kann man wirklich nichts Böses wollen oder unterstellen, und ein an sie gerichteter Protest wäre in der Tat infam.
Lehming erzeugt schlechtes Gewissen. In diesem Falle ist das so durchsichtig, dass es nur bei wenigen Lesern funktionieren dürfte. In anderen Fällen funktioniert das - übrigens auch bei mir, ich weiß, dass ich manipulierbar bin. (Am leichtesten sind übrigens jene zu manipulieren, die sich für immun gegen Manipulation halten.)

Mich kotzen Menschen an, die mir ein schlechtes Gewissen machen wollen, vor allem, wenn ich verdammt nochmal keinen Grund habe, ein schlechtes Gewissen zu haben!

So, und nun ein Fall, in dem mir erfolgreich ein schlechtes Gewissen gemacht worden ist, in dem ich mir per Spende ein "gutes Gewissen" gekauft habe - und in dem mir noch nicht mal der Trost bleibt, auf diejenigen, die mir damals ein schlechtes Gewissen einredeten, wütend zu sein, denn auch sie sind Betrogene.

Ja, es geht um Bob Geldof und sein Projekt Band Aid. Hilfsgeld für Waffen (tagesspiegel). Er ist ein von mir sehr geschätzten Musiker, der übrigens mit "I don't like Mondays" einen wirklich guten Song über ein "School Shooting" schrob. Bekanntlich sammelte Band Aid in den 1980er Jahren Millionen Dollar Spenden, um den Hungernden in Äthiopien zu helfen. Jetzt sagen zwei Ex-Offiziere einer damaligen Rebellenarmee, dass mehr als 90 Prozent der Hilfsgelder für den Kauf von Waffen und den Aufbau ihrer Truppe verwendet worden seien. Und sieht leider nicht so aus, als ob die beiden Lügen würden. Ethiopia famine aid 'spent on weapons' (bbc).

Es ist ein Alptraum, aus dem es kein Erwachen gibt. Die Realität ist schlimmer, als ich es mir auch nur vorstellen konnte. Objektiv gesehen klebt an meine Händen Blut, denn mit meinem Geld (wenn es auch nicht allzu viel war) wurden Menschen ermordet!
Klar, mich trifft keine Schuld, und auch Bob Geldorf und seinen Mitstreitern trifft keine Schuld (außer vielleicht einer zu großen Naivität) - aber: gut fühle ich mich bei dem Gedanken daran nicht. Ganz und gar nicht. Und die Angehörigen der von Söldnern abgeschlachteten Äthiopier haben alles Recht der Welt, auf mich und meinesgleichen wütend zu sein.
Ideologischer Super-Gau (freitag.de).
Ich hatte damals das Gefühl gehabt, ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, wenn ich mich von der Welle der Hilfsbereitschaft nicht anstecken ließe. Ich hätte ohne schlechtes Gewissen keinen Pfennig an "Band Aid" gespendet - und mich, wenn ich überhaupt gespendet hätte, an eine etablierte und erfahrene Hilfsorganisation gewandt. (Das ist generell ein guter Tipp, bei jeder Spende.)
Ich bin wütend auf mich selbst, weil ich durch einen simplen moralischen Appell manipulierbar war.

Sonntag, 7. März 2010

Die schwimmenden LKW - oder: warum es so viele Segelschiffe gab (2)

Die Zeit vor der Einführung der Eisenbahn wird gern als "Postkutschenzeit" oder "Pferdefuhrwerkzeit" bezeichnet. Wie aber schon im ersten Teil erwähnt wurde, profitierten die Niederlande im Voreisenbahnzeitalter erheblich von ihrem dichten Wasserstraßennetz. Ein großer, vierspänniger Kaufmannswagen konnte, auf einigermaßen guter Straße, höchstens 1,5 t Fracht transportieren. Selbst ein bescheidener Lastkahn trug über 5 t und konnte von einem einzigen Treidelpferd bewegt werden. Noch günstiger war es, wenn der kleine Binnenfrachter gesegelt werden konnte. Daher ist verständlich, dass dem "Eisenbahnfieber" ein "Kanalbaufieber" vorausging.
Ähnlich war die Situation in der Küstenschifffahrt. Das Segelschiff war im vorindustriellen Zeitalter das bei weitem leistungsfähigste Verkehrsmittel - hinsichtlich Kapazität, Geschwindigkeit, Reichweite und sogar, obwohl es vom unberechenbaren Wind abhängig war, Zuverlässigkeit.

Kutterhafen-04
Plattbodenschiffe (Tjalken und Ewer) im Finkenwerder Kutterhafen (Foto: MartinM)

In Deutschland waren 1914 - als es schon lange Eisenbahnen und Dampfer, sogar schon Motorschiffe gab - noch 2191 seegehende Segelschiffe im Handelsschiffsregister verzeichnet. Die gesamte Segelschiffstonnage betrug 426.746 BRT.
Das heißt, die Durchschnittsgröße eines Handelsseglers lag bei (gerundet) 195 BRT. Die großen, schnellen stählernen Tiefwassersegler, für die die deutsche Segelschifffahrt damals berühmt waren, wie die "Flying P-Liner", machten trotz ihre Größe - eine Viermastbark hatte um die 3000 BRT - nur einen winzigen Teil der Segelflotte aus. 195 BRT - das ist die Größe eines bescheidenen Schoners von vielleicht 35 m Rumpflänge.
(Die Bruttoregistertonne, kurz BRT, ist eine veraltete Volumeneinheit - eine Registerstonne (RT) sind 100 englische Kubikfuß oder 2,832 m3. In Bruttoregistertonnen wurde der gesamten umbaute Raum eines Schiffes angegeben, in Nettoregistertonnen der Fracht- bzw. Passagierraum. Heute wird statt dessen die Schiffsgröße in der BRZ (Bruttoraumzahl) bzw. NRZ (Nettoraumzahl) angegeben.)
Da erst ab einer Rumpflänge des Schiffes ab 15 m ein kostenpflichtiger Eintrag ins Seeschiffsregister erforderlich war (und ist), gab es nur wenig kleinere Boote im Register.

Bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhundert wurde die Küstenschifffahrt fast nur mit Segelschiffen betrieben. Sie konzentrierte sich dabei überwiegend auf den Transport innerhalb eines Staates, aber auch ein Teil des internationalen Handels wurde von diesen kleinen Seglern übernommen - die meisten waren seetüchtig genug, um etwa von der Unterelbe direkt englische, französische oder schwedische Häfen anlaufen zu können. Umgekehrt waren z. B. Ewer aus dem Unterelberaum mit ihrem dank ihres flachen Boden und ihrer aufholbaren Seitenschwerter geringen Tiefgang imstande, auf der Elbe bei Bedarf und gutem Wasserstand bis nach Kolín in Tschechien zu fahren. Die ähnlich konstruierten Aaken aus Rotterdam fuhren auf dem Rhein bis nach Basel.

Der Siegeszug der Dampfschiffe im 19. Jahrhundert wirkte sich auf die Küstenfahrt längst nicht so gravierend aus, wie auf die Binnen- und die Hochseeschifffahrt. Dampfmaschinen waren kapital- , wartungs- und personalintensiv - auch ein kleiner Dampfer brauchte ständig mindestens einen Maschinisten und einen Heizer an der Maschine. Im Verhältnis zur geringen Frachtkapazität rechnete das bei den kleinen Küstenschiffen nicht: anders als in der Binnenschifffahrt, in der ein Dampfschlepper gleich einen ganzen Zug Frachtkähne ziehen konnte.

Nachdem der Glühkopfmotor erfunden war, wandelte sich ab 1891 das Bild. Etwa zur gleichen Zeit kamen kompakte und betriebsichere Kleindampfmaschinen, sog. Dampfmotoren, auf. Selbst Boote wurden nur mit Maschinen ausgerüstet - die Zeit der Dampfbarkassen (á la "African Queen") und der lautmalerisch "Tuckerboote" genannten Motorschaluppen begann. Da der robuste Glühkopfmotor aber verhältnismäßig viel Treibstoff verbrauchte, und ein Dampfmotor mit seiner Kessel- und Kondensatorenanlage viel Wartungszeit benötigte, dienten die kleinen Maschinen vor allem als Hilfsmotor für Segler, als "Flautenschieber".
Etwa 20 Jahre später begann der Siegeszug des sparsamen und wartungsarmen Dieselmotors, zunächst zögerlich, dann, nach dem 1. Weltkrieg, beschleunigt. Eine große Zahl Küstensegler erhielt ab 1920 Dieselmotoren als Hilfsantrieb. Wegen ihres geringen Verbrauches an ohnehin damals verhältnismäßig preiswertem Dieselöl setzte sich der Motor aber rasch als Hauptantrieb durch - aus "Seglern mit Hilfsmotor" wurden "Motorschiffe mit Hilfssegeln", die bei günstigem Wind Kraftstoff sparten. Trotzdem wurden noch in den 1950er Jahren Küstensegler wie Schoner, Galeassen, Ewer usw. für die Frachtfahrt gebaut.

Die große Zeit der kleinen Schiffe war erst in den 1960ern vorbei, während die größeren Küstenschiffe ihre Bedeutung behielten. Nachdem der Rhein weitgehend kanalisiert worden war, fahren dort auch relativ große Küstenmotorschiffe (Kümos). Spezielle See-Fluss-Schiffe (Sea-river coaster), die auf dem Rhein "Rhein-See-Schiffe" und im Schifferjargon "Seeschlangen" genannt werden, können, je nach Wasserstand, bis zu den Oberrheinhäfen fahren.
Nach dem Aufkommen des Containerverkehrs gewannen die großen und mittelgroße Küstenschiffe noch an Bedeutung. Den größten Teil der europäischen Küstenschiffstonnage machen inzwischen Feederschiffen (von englisch to feed = füttern, versorgen) aus. Das sind speziell für Containertransporte gebaute Schiffe, die als Zulieferer und Verteiler für die gigantischen Hochseecontainerschiffe dienen.

Tatsächlich war der Betrieb der kleinen Küstenfrachter eher mit dem eines LKWs als dem eines "großen" Schiffes vergleichbar.

Das erläutere ich am Beispiel einer bornholmer Galiot (oder Galeote) aus dem frühen 20. Jahrhundert:
galiot
Länge über alles: ca. 28 m, Länge über Deck: ca. 21 m, Breite: ca. 6 m, Konstruktionstiefgang: ca. 2 m - ca. 40 BRT, ca. 80 t Ladevermögen. Besatzung: je nach Fahrt 3 - 6 "Mann" (In der Kleinschifffahrt gab es im Verhältnis zur Hochseeschifffahrt relativ viele weibliche Besatzungsmitglieder. Auf dänischen Küstenseglern gab es sogar schon im 19. Jahrhundert Kapitäninnen.)

Dieses kleine Schiff fuhr als "Partikulierer", d. h. der Eigner war zugleich sein eigener Kapitän und hatte keine eigene kaufmännische Organisation an Land. Neben eigenen Aufträgen übernahm er Frachten für Speditionen (er fuhr also nicht etwa als Subunternehmer für eine Reederei). Der Segler konnte auch kleine und kleinste Häfen anlaufen und brauchte außer einem Kai oder Steg keine Infrastruktur wie etwa Kaikräne - die Masten dienten zugleich als Ladegeschirr. Sogar ganz kleine Küstenorte ohne Hafen konnten bedient werden - das Schiff ging vor Anker und die Fracht wurde mit kleinen Booten geleichtert.
Da auf Bornholm fast alle größeren Orte an der Küste liegen, machte der Nahverkehr einen ziemlich großen Teil der Frachtfahrten aus. Wichtiger noch war der Regionalverkehr zwischen der Insel und dem Festland - es sind rund 150 Kilometer bis Kopenhagen, 80 Kilometer bis Rügen und nur 40 Kilometer bis zur Südküste Schwedens. Da die Fährverbindungen längst nicht so leistungsfähig und regelmäßig wie heute waren, und außerdem im Hafen umgeladen werden musste, war es meistens einfacher, direkt "von Ort zu Ort" zu verkehren. Es war sinnvoll von Neksø auf Bornholm direkt nach Ystad in Schweden zu segeln, anstatt die Fracht erst einmal per Fuhrwerk, Boot oder später Kleinbahn nach Rønne zum Liniendampfer, dann mit dem Dampfer nach Malmö und weiter per Fuhrwerk oder Bahn nach Ystad zu transportieren.
Dieser Vorteil bestand für den ganzen Ostseeraum - vom kleinen Bornholmer Küstenstädchen aus konnten alle Ostseehäfen direkt angelaufen werden, und da die Galiot nicht allzu viel Tiefgang hatte, konnte sie auch Binnenhäfen wie Frankfurt an der Oder anlaufen. Tatsächlich kam es sogar vor, dass spezielle Frachten, etwa eine in England bestellte Dreschmaschine, direkt "ab Werk" auf den Küstensegler verladen und durch Nord- und Ostsee nach Bornholm verschifft wurden.

Besonders wichtig waren die "schwimmenden LKW" natürlich in wasserreichen Ballungsräumen, wie z. B. in den Niederlanden dem Rheinmündungsgebiet oder dem ökonomischen Kerngebiet der Niederlande, Holland.
Eine Hochburg der kleinen Frachtsegler in Deutschland war der Unterelberaum, ein Fahrtrevier, in dem außerdem nicht immer klar zwischen Binnen- und Küstenfahrt unterschieden werden konnte. (Fuhr ein Frachtewer von Hamburg nach Cuxhaven, war das noch Binnenschifffahrt, fuhr er aber ein kleines Stück durch die Nordsee nach Lehe (heute Teil Bremerhavens) an der Wesermündung, war das Küstenfahrt.) Selbst innerhalb Hamburgs wurden Waren mit besegelten Ewern transportiert - Gemüse aus den Vierlanden oder Obst aus dem Alten Land erreichten die Hamburger Innenstadt auf dem Wasserweg.

Daher bedeutete erst der LKW-Verkehr das Ende der großen Zeit der kleinen Schiffe. Nicht jeder günstig an einem schiffbaren Gewässer gelegener Ort hatte einen Güterbahnhof, aber per LKW sind fast alle diese Orte gut erreichbar. Auf Bornholm käme niemand mehr auf die Idee, eine Fracht von Neksø nach Ystad auf dem Küstenschiff zu transportieren. Die wird, vor allem, seitdem es Autofähren gibt, einfach auf den LKW verladen. Auch die Zeit der "Gemüseewer", "Kirschjollen" und "Äppelkähne", sogar der motorisierten, ist auf der Unterelbe ist seit dem Lieferwagen-Boom der 1950er Jahre vorbei.

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