Sonntag, 7. März 2010

Die schwimmenden LKW - oder: warum es so viele Segelschiffe gab (2)

Die Zeit vor der Einführung der Eisenbahn wird gern als "Postkutschenzeit" oder "Pferdefuhrwerkzeit" bezeichnet. Wie aber schon im ersten Teil erwähnt wurde, profitierten die Niederlande im Voreisenbahnzeitalter erheblich von ihrem dichten Wasserstraßennetz. Ein großer, vierspänniger Kaufmannswagen konnte, auf einigermaßen guter Straße, höchstens 1,5 t Fracht transportieren. Selbst ein bescheidener Lastkahn trug über 5 t und konnte von einem einzigen Treidelpferd bewegt werden. Noch günstiger war es, wenn der kleine Binnenfrachter gesegelt werden konnte. Daher ist verständlich, dass dem "Eisenbahnfieber" ein "Kanalbaufieber" vorausging.
Ähnlich war die Situation in der Küstenschifffahrt. Das Segelschiff war im vorindustriellen Zeitalter das bei weitem leistungsfähigste Verkehrsmittel - hinsichtlich Kapazität, Geschwindigkeit, Reichweite und sogar, obwohl es vom unberechenbaren Wind abhängig war, Zuverlässigkeit.

Kutterhafen-04
Plattbodenschiffe (Tjalken und Ewer) im Finkenwerder Kutterhafen (Foto: MartinM)

In Deutschland waren 1914 - als es schon lange Eisenbahnen und Dampfer, sogar schon Motorschiffe gab - noch 2191 seegehende Segelschiffe im Handelsschiffsregister verzeichnet. Die gesamte Segelschiffstonnage betrug 426.746 BRT.
Das heißt, die Durchschnittsgröße eines Handelsseglers lag bei (gerundet) 195 BRT. Die großen, schnellen stählernen Tiefwassersegler, für die die deutsche Segelschifffahrt damals berühmt waren, wie die "Flying P-Liner", machten trotz ihre Größe - eine Viermastbark hatte um die 3000 BRT - nur einen winzigen Teil der Segelflotte aus. 195 BRT - das ist die Größe eines bescheidenen Schoners von vielleicht 35 m Rumpflänge.
(Die Bruttoregistertonne, kurz BRT, ist eine veraltete Volumeneinheit - eine Registerstonne (RT) sind 100 englische Kubikfuß oder 2,832 m3. In Bruttoregistertonnen wurde der gesamten umbaute Raum eines Schiffes angegeben, in Nettoregistertonnen der Fracht- bzw. Passagierraum. Heute wird statt dessen die Schiffsgröße in der BRZ (Bruttoraumzahl) bzw. NRZ (Nettoraumzahl) angegeben.)
Da erst ab einer Rumpflänge des Schiffes ab 15 m ein kostenpflichtiger Eintrag ins Seeschiffsregister erforderlich war (und ist), gab es nur wenig kleinere Boote im Register.

Bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhundert wurde die Küstenschifffahrt fast nur mit Segelschiffen betrieben. Sie konzentrierte sich dabei überwiegend auf den Transport innerhalb eines Staates, aber auch ein Teil des internationalen Handels wurde von diesen kleinen Seglern übernommen - die meisten waren seetüchtig genug, um etwa von der Unterelbe direkt englische, französische oder schwedische Häfen anlaufen zu können. Umgekehrt waren z. B. Ewer aus dem Unterelberaum mit ihrem dank ihres flachen Boden und ihrer aufholbaren Seitenschwerter geringen Tiefgang imstande, auf der Elbe bei Bedarf und gutem Wasserstand bis nach Kolín in Tschechien zu fahren. Die ähnlich konstruierten Aaken aus Rotterdam fuhren auf dem Rhein bis nach Basel.

Der Siegeszug der Dampfschiffe im 19. Jahrhundert wirkte sich auf die Küstenfahrt längst nicht so gravierend aus, wie auf die Binnen- und die Hochseeschifffahrt. Dampfmaschinen waren kapital- , wartungs- und personalintensiv - auch ein kleiner Dampfer brauchte ständig mindestens einen Maschinisten und einen Heizer an der Maschine. Im Verhältnis zur geringen Frachtkapazität rechnete das bei den kleinen Küstenschiffen nicht: anders als in der Binnenschifffahrt, in der ein Dampfschlepper gleich einen ganzen Zug Frachtkähne ziehen konnte.

Nachdem der Glühkopfmotor erfunden war, wandelte sich ab 1891 das Bild. Etwa zur gleichen Zeit kamen kompakte und betriebsichere Kleindampfmaschinen, sog. Dampfmotoren, auf. Selbst Boote wurden nur mit Maschinen ausgerüstet - die Zeit der Dampfbarkassen (á la "African Queen") und der lautmalerisch "Tuckerboote" genannten Motorschaluppen begann. Da der robuste Glühkopfmotor aber verhältnismäßig viel Treibstoff verbrauchte, und ein Dampfmotor mit seiner Kessel- und Kondensatorenanlage viel Wartungszeit benötigte, dienten die kleinen Maschinen vor allem als Hilfsmotor für Segler, als "Flautenschieber".
Etwa 20 Jahre später begann der Siegeszug des sparsamen und wartungsarmen Dieselmotors, zunächst zögerlich, dann, nach dem 1. Weltkrieg, beschleunigt. Eine große Zahl Küstensegler erhielt ab 1920 Dieselmotoren als Hilfsantrieb. Wegen ihres geringen Verbrauches an ohnehin damals verhältnismäßig preiswertem Dieselöl setzte sich der Motor aber rasch als Hauptantrieb durch - aus "Seglern mit Hilfsmotor" wurden "Motorschiffe mit Hilfssegeln", die bei günstigem Wind Kraftstoff sparten. Trotzdem wurden noch in den 1950er Jahren Küstensegler wie Schoner, Galeassen, Ewer usw. für die Frachtfahrt gebaut.

Die große Zeit der kleinen Schiffe war erst in den 1960ern vorbei, während die größeren Küstenschiffe ihre Bedeutung behielten. Nachdem der Rhein weitgehend kanalisiert worden war, fahren dort auch relativ große Küstenmotorschiffe (Kümos). Spezielle See-Fluss-Schiffe (Sea-river coaster), die auf dem Rhein "Rhein-See-Schiffe" und im Schifferjargon "Seeschlangen" genannt werden, können, je nach Wasserstand, bis zu den Oberrheinhäfen fahren.
Nach dem Aufkommen des Containerverkehrs gewannen die großen und mittelgroße Küstenschiffe noch an Bedeutung. Den größten Teil der europäischen Küstenschiffstonnage machen inzwischen Feederschiffen (von englisch to feed = füttern, versorgen) aus. Das sind speziell für Containertransporte gebaute Schiffe, die als Zulieferer und Verteiler für die gigantischen Hochseecontainerschiffe dienen.

Tatsächlich war der Betrieb der kleinen Küstenfrachter eher mit dem eines LKWs als dem eines "großen" Schiffes vergleichbar.

Das erläutere ich am Beispiel einer bornholmer Galiot (oder Galeote) aus dem frühen 20. Jahrhundert:
galiot
Länge über alles: ca. 28 m, Länge über Deck: ca. 21 m, Breite: ca. 6 m, Konstruktionstiefgang: ca. 2 m - ca. 40 BRT, ca. 80 t Ladevermögen. Besatzung: je nach Fahrt 3 - 6 "Mann" (In der Kleinschifffahrt gab es im Verhältnis zur Hochseeschifffahrt relativ viele weibliche Besatzungsmitglieder. Auf dänischen Küstenseglern gab es sogar schon im 19. Jahrhundert Kapitäninnen.)

Dieses kleine Schiff fuhr als "Partikulierer", d. h. der Eigner war zugleich sein eigener Kapitän und hatte keine eigene kaufmännische Organisation an Land. Neben eigenen Aufträgen übernahm er Frachten für Speditionen (er fuhr also nicht etwa als Subunternehmer für eine Reederei). Der Segler konnte auch kleine und kleinste Häfen anlaufen und brauchte außer einem Kai oder Steg keine Infrastruktur wie etwa Kaikräne - die Masten dienten zugleich als Ladegeschirr. Sogar ganz kleine Küstenorte ohne Hafen konnten bedient werden - das Schiff ging vor Anker und die Fracht wurde mit kleinen Booten geleichtert.
Da auf Bornholm fast alle größeren Orte an der Küste liegen, machte der Nahverkehr einen ziemlich großen Teil der Frachtfahrten aus. Wichtiger noch war der Regionalverkehr zwischen der Insel und dem Festland - es sind rund 150 Kilometer bis Kopenhagen, 80 Kilometer bis Rügen und nur 40 Kilometer bis zur Südküste Schwedens. Da die Fährverbindungen längst nicht so leistungsfähig und regelmäßig wie heute waren, und außerdem im Hafen umgeladen werden musste, war es meistens einfacher, direkt "von Ort zu Ort" zu verkehren. Es war sinnvoll von Neksø auf Bornholm direkt nach Ystad in Schweden zu segeln, anstatt die Fracht erst einmal per Fuhrwerk, Boot oder später Kleinbahn nach Rønne zum Liniendampfer, dann mit dem Dampfer nach Malmö und weiter per Fuhrwerk oder Bahn nach Ystad zu transportieren.
Dieser Vorteil bestand für den ganzen Ostseeraum - vom kleinen Bornholmer Küstenstädchen aus konnten alle Ostseehäfen direkt angelaufen werden, und da die Galiot nicht allzu viel Tiefgang hatte, konnte sie auch Binnenhäfen wie Frankfurt an der Oder anlaufen. Tatsächlich kam es sogar vor, dass spezielle Frachten, etwa eine in England bestellte Dreschmaschine, direkt "ab Werk" auf den Küstensegler verladen und durch Nord- und Ostsee nach Bornholm verschifft wurden.

Besonders wichtig waren die "schwimmenden LKW" natürlich in wasserreichen Ballungsräumen, wie z. B. in den Niederlanden dem Rheinmündungsgebiet oder dem ökonomischen Kerngebiet der Niederlande, Holland.
Eine Hochburg der kleinen Frachtsegler in Deutschland war der Unterelberaum, ein Fahrtrevier, in dem außerdem nicht immer klar zwischen Binnen- und Küstenfahrt unterschieden werden konnte. (Fuhr ein Frachtewer von Hamburg nach Cuxhaven, war das noch Binnenschifffahrt, fuhr er aber ein kleines Stück durch die Nordsee nach Lehe (heute Teil Bremerhavens) an der Wesermündung, war das Küstenfahrt.) Selbst innerhalb Hamburgs wurden Waren mit besegelten Ewern transportiert - Gemüse aus den Vierlanden oder Obst aus dem Alten Land erreichten die Hamburger Innenstadt auf dem Wasserweg.

Daher bedeutete erst der LKW-Verkehr das Ende der großen Zeit der kleinen Schiffe. Nicht jeder günstig an einem schiffbaren Gewässer gelegener Ort hatte einen Güterbahnhof, aber per LKW sind fast alle diese Orte gut erreichbar. Auf Bornholm käme niemand mehr auf die Idee, eine Fracht von Neksø nach Ystad auf dem Küstenschiff zu transportieren. Die wird, vor allem, seitdem es Autofähren gibt, einfach auf den LKW verladen. Auch die Zeit der "Gemüseewer", "Kirschjollen" und "Äppelkähne", sogar der motorisierten, ist auf der Unterelbe ist seit dem Lieferwagen-Boom der 1950er Jahre vorbei.

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