Persönliches

Samstag, 14. März 2009

"Auf den Spuren des Schema-Fs - ein Gruselkrimi"

In "Schreiben nach Schema F" erwähnte ich, dass MomoRulez richtig wütend wäre, irgendwann beim Stöbern in einer Buchhandlung bei so vielen Büchern immer wieder auf die gleiche Skizze zu treffen.

Ob tatsächlich 98% der Bücher nach den immergleichen Mustern geschrieben sind, wie MomoRulez vermutet, mag ich zwar nicht bestätigen, aber für abwegig halte ich diese Vermutung nicht. Ich habe nicht den Eindruck, dass die "98% Schema-F"-Formel auf alle innerhalb der letzten 5 Jahre veröffentlichten Bücher zutrifft. Aber mein Eindruck ist sehr stark, dass 98% der abverkauften Auflage aus Büchern besteht, die einem erprobtem Rezept folgen (um es mal positiv auszudrücken).

Es ist zum Glück auch nicht so, dass "Schema F"-Bücher automatisch langweilig wären. Gekonnte Schreibe und ironischer Umgang mit den üblichen Klischees können viel retten. Es gibt ja auch genießbares und gesundes Fast-Food. Man muss nur wissen, wo.
Mir fällt, als Leser, der ab und an zu literarischem Fast-Food greift, aber auf, dass es literarische Parallelen zu geschmackserdrückendem Salatdressing oder ranzigem Frittierfett gibt, also Zutaten, die unweigerlich genusstötend und brechreizstimulierend wirken. Das sind, im Roman, z. B. Charaktere, die so glaubwürdig sind wie eine Schlange mit Schuhen, oder Klischees, die es an Abgegriffenheit mit einer Haltestange aus einem ausrangierten Linienbus aufnehmen können - und die dann zu allem Überfluss auch noch mit der spritzigen Ironie einer Umsatzsteuererklärung präsentiert werden. Wirksame Genusskiller sind für mich Recherchen von BILDhafter Oberflächlichkeit - ich weiß, andere stören sich nicht an sachlichen und logischen Fehler, und es gibt sogar Kritiker, die selbst Dan Brown oder "Mr. Anachronism" Noah Gordon für "glänzende Rechercheure" halten.

Allerdings - Autoren haben es nicht leicht, vor allem, wenn sie es sich nicht zu leicht machen.

Nehmen wir mal an, ich würde einen Verschwörungs-Thriller nach bewährtem Rezept schreiben. Ist ja auch nichts dagegen zu sagen. Kann man ja auch machen, ohne ein gewisses Niveau zu unterschreiten. Immerhin sind solche Romane, wegen (oder trotz?) Dan Brown sehr populär, und immerhin eignen sich Verschwörungstheorien hervorragend dazu, Spannung zu erzeugen. Wie, steht sogar schon in der Wikipedia.
Der Held dringt mit dem Leser immer tiefer in die Geheimnisse einer ungeheuerlichen Konspiration ein, gerät eben dadurch mehrfach in größte Gefahr und entkommt den finsteren Geheimbündlern nur knapp, wenn überhaupt.
Das Problem dabei - ich will ja ein gewisses Niveau nicht unterschreiten: Wenn man es nicht bei brownschen Munkelmännern belässt, ergeben sich hinsichtlich der Art der Verschwörung und Auswahl der Verschwörer und ihrer Helfershelfer Probleme, die sich in ähnlicher Form auch bei Krimis ab einer gewissen Realitätsnähe ergeben.
Es ist normalerweise - gerade in Deutschland - nicht ungefährlich, reale Personen, Unternehmen, Institutionen oder Orte in schlechtem Licht darzustellen.
Stellen wir uns vor: Die Fäden der finsteren Verschwörung scheinen im Bundesministerium des Inneren zusammenzulaufen. Der Held dringt, um ein paar Dinge zu aufzuklären, in das Haus des Bundesinnenministers ein. Dabei bleibt ihm nichts übrig, als den Wachhund mittels eines Big Mac, in dem er einige Rohypnol-Tabletten eingearbeitet hat, außer Gefecht zu setzen.
Damit hätte ich aller Wahrscheinlichkeit das Innenministerium, die CDU, McDonalds, Roche, und todsicher auch den Tierschutzverein am Hals - und vielleicht auch noch die Behinderten-Vertreter.
Ein um Realismus bemühter Thriller-Autor steht also immer mit einem Bein im Gerichtssaal, und sei es wegen unerlaubter Benutzung von Markennamen.

Deutschland ist ein besonders schlechtes Pflaster für allzu realistische Krimis oder Politthriller. Was sich auch daran ablesen lässt, dass sozialkritische Krimis bei uns zumeist aus Schweden und Politthriller aus den USA kommen.
Da das auch den Verlage nicht verborgen bleibt, benutzen sie die Kopfscheren ihrer Außenlektoren, und sondern Manuskripte aus, die in irgendeiner Form Ärger machen könnten.
Nun kann man, nach der in unzähligen "Tatort"-Krimis bewährten Methode, Namen vermeiden und allzu offensichtliche Bezüge verschleiern. Das funktioniert aber nicht immer, und vor funktioniert es nicht sicher. "Sicher" ist das entscheidende Wort.

Also doch sicherheitshalber "brownsche Munkelmänner" - wobei wahrscheinlich so mancher deutscher Lektor wegen der Dinge, die Brown der katholischen Kirche unterstellt, so phantastisch sie auch seien mögen, abgelehnt hätte. (Im deutschen Fernsehen, stets um Imagepflege für die Kirchen und um ein gutes Verhältnis selbst zu völlig paranoiden Moslems bemüht, läuft so etwas erst recht nicht. Weshalb dann etwa ein Kinderschänderring lieber im Satanisten-Milieu statt - was nur realistisch wäre, siehe diverse Skandale - im Kirchenmilieu angesiedelt wird.)

Dann gäbe es noch ein weiteres, oft unterschätztes Problem: Wenn man nicht gerade einen der so beliebten "Kinderkrimis" schreibt, gibt es kaum ein vernichtenderes Urteil für einen Schreiber als das Wort "Jugendbuch".
Das kann nämlich bedeuten, jemand (wenn man als Schreiber Pech hat, der Lektor) argwöhnt eine "pädagogische Absicht" in dem Roman. (Ungeachtet der Tatsache, das echte Jugendbücher seit Jahren nicht mehr den erzieherischen Zeigefinger weit und sichtbar erheben, weil die Kids, die so was schnell merken, sonst den Stinkefinger zeigen würden.)
"Jugendbuch-Autor" kann aber auch heißen: "Der Autor wird wohl nie richtig erwachsen." Bei Fantasy-Schreibern lässt man eine gewisse Verspieltheit und Weltflucht noch gelten, aber im Verschwörungs-Thriller? Da müssen die "erwachsen sein"-Klischees erfüllt werden, da sind die Männer noch richtige Männer, die Frauen noch richtige Frauen und ... nein, kleine pelzige Wesen von Alpha Centauri wären Science Fiction. Dafür darf ein Verschwörungs-Thriller alberne Behauptungen, z. B. über die Fähigkeiten von Computer-Hackern, enthalten, über die jeder aufgeweckte Teenager kichert.

Ich habe da eine Vermutung. Ich vermute schon lange, dass "komplettes Erwachsensein" - sprich: völlige Abwesenheit von "kindlichen" oder "pubertären" Verhaltensweisen - eine Persönlichkeitsstörung ist.
So gesehen ist ein über jeden Verdacht, ein "Jugendbuch" zu sein, erhabener Unterhaltungsroman ein Roman für Leser mit gestörter Persönlichkeit.

Samstag, 21. Februar 2009

Käpt'n Konny und die Nordsee ist Mordsee

Bei Ulysses fand ich einen Hinweis auf Martina Kausch, die eine interessante Frage stellt: Wer sind die Helden Eurer Kindheit?

Ich kann nicht sagen, wer die Helden meiner frühen Kindheit waren, und meine Helden, die ich so als fünf- oder sechsjähriger hatte, wechselten beinahe täglich.

Im Schuljungen-Alter - so ab Klasse 3 - hatte ich eindeutig einen "Helden": Käpt'n Konny (aus den Büchern von Rolf Ulrici).
konny
Ja, die ersten vier Bände besitze ich tatsächlich als Ausgabe aus den 1950er-Jahren - ich hatte sie bei einem Onkel abgestaubt. Die folgenden vier Bände schrieb Ulrici erst in den frühen 1970er Jahren, also auch zu der Zeit, als ich sie las. Erstaunlicherweise schaffte er irgendwie den Übergang ganz gut - damals hatte ich den Eindruck, zwischen den alten und neuen Abenteuern lägen nur etwa zwei und nicht gut 20 Jahre.
Es geht übrigens um die Erlebnisse von einigen segelbegeisterten Jungs von der Ostseeküste. Irgendwann auch für's Fernsehn verfilmt, die Verfilmung fand ich doof.

Warum Käpt'n Konny? Das kann ich heute auch nicht mehr so recht sagen. Wieso sie mich "ansprachen", als ich sie unter den anderen alten Jugend- und Kinderbüchern meines Onkels entdeckte, hingegen schon. Segelschiffe und Boote fand ich schon immer spannend. Dass ich auch die Folgebände haben "musste", war klar.
Die Faszination, die diese Schmöker dann auf mich ausübten, ist für mich aus Erwachsenensicht nicht mehr ganz nachvollziehbar.
Ich kann nur aus der Erinnerung sagen, dass sie mit dem nur unzureichend mit "Schuljungen-Fluchtphantasie" umschriebenen Gefühl zusammenhing, einer Sehnsucht, die Udo Lindenberg mal treffend im Titelsong von "Nordsee ist Mordsee" so betextete:
"Ich träume oft davon / ein Segelboot zu klau'n / und einfach abzuhau'n"
Diese Sehnsucht erfüllen andere Schreiber besser als Ulrici. Einige davon kannte ich auch schon als Schuljunge.
Auch wenn "Käpt'n Konny schnuppert Seeluft" tatsächlich damit beginnt, dass Konny mit seinen Freunden Papis Segeljacht klaut. Die zwar, vorhersehbar, "Bruch bauen", aber doch glimpflich davonkommen. Vielleicht machte das einen Teil der Faszination aus: der in den damaligen Kinderbüchern obligatorische "pädagogische Zeigefinger" war zwar pflichtgemäß vorhanden, aber erkennbar nicht ernst gemeint: Konny und seine Freunde können sich gegen Erwachsene behaupten, und zwar sogar dann, wenn sie etwas ausgefressen haben. Das haben sie sogar ihren "Nachfahren" TKKG voraus. Irgendwo ist Käpt'n Konny ein ferner Odysseus-Nachfahre im Schuljungen-Format.
Vielleicht lag die Faszination daran, dass Konnys Abenteuer "realistisch" genug waren, dass ich mir vorstellen konnte, sie selbst erleben zu können - und un-alltäglich genug, um nicht unter die Kategorie der unsagbar langweiligen "pädagogisch wertvollen" Kinder- und Jugendbücher zu fallen, die von den ganz alltäglichen Problemen aus dem ganz alltäglichen Leben ganz alltäglicher Leute handeln.

Wenig später kam ein Held dazu, der auch ein Kindheitsheld Ulysses' ist: James T. Kirk, Captain der U.S.S. Enterprise, NCC 1701 - Später fand ich Spock cooler - mit ihm konnte ich mich, so seltsam es klingt, sehr gut identifizieren. Nicht weil ich glaubte so intelligent wie der Vulcanier zu sein, geschweige denn so selbstbeherrscht. Eher das Gefühl der Fremdheit unter den Menschen, das Gefühl, irgendwie ein "Alien" zu sein - das mich übrigens nie ganz verlassen hat.

Ulrici schrieb übrigens auch Science Fiction-Jugendbücher. Von dem ersten Band aus seiner "Raumschiff Monitor"-Serie, "Geheimer Start", war ich hin und weg und begeistert. Mit jedem Band der Serie schrumpfte die Begeisterung, bis sie völlig ausbrannte. Der Grund ist einfach: von Band zu Band wurden die Abenteuer unglaubwürdiger, konstruierter, "hingedrehter".

Ich erwähnte schon den Film "Nordsee ist Mordsee", der 1976 in die Kinos kam, wo ich ihn mir auch promt ansah - was nur ging, weil Regisseur Hark Bohm, der eigentlich Rechtsanwalt ist, noch eine Freigabe ab 12 Jahren durchsetzen konnte. Die FSK fürchtete den "Nachahmungseffekt" und wollte den Film erst ab 16 Jahren freigeben. (Damals sahen viele "Experten" in Film und Fernsehen eine wesentliche Ursache der Jugendkriminalität - heute hat sich die Diskussion mit im wesentlichen identischen Argumenten in Richtung "Killerspiele" verschoben. Noch früher verdarben Comics und Schundromane die Jugend.)

Ein ganz anderes Kaliber, eine andere Welt, als "Käpt'n Konny", hart, realistisch - und ohne Helden, aber mit glaubwürdigen Charakteren. Ein Film, der zwar von den alltäglichen Problemen aus dem alltäglichen Leben alltäglicher Leute handeln, aber eben Probleme, die ich wirklich beinahe jeden Tag sah, und zum Glück nicht am eigenen Leib erleben musste. Ich kannte Jungs wie den "jugendlichen Kriminellen" Uwe mit dem saufenden Vater oder den ausgegrenzten "Kanaken" Dschingis, und endlich machte mal jemand einen Film ohne Betroffenheitslyrik, Sozialkitsch und erhobenen Zeigefinger über sie.
Ich mag ich diesen Film auch heute noch, auch weil er sich Zeit für die Charakterentwicklung nimmt (andere halten ihn deshalb für Langweilig).

Donnerstag, 8. Januar 2009

Fragebogen - mal nicht als Stöckchen, sondern aus einem Buch

Um die Zeit des Jahreswechsels kursieren verstärkt Fragebögen, unter Bloggern oft in Form sog. Stöckchen.

Einen interessanten Fragebogen fand ich in einem
bemerkenswertem Buch eines bemerkenswerten (und zu früh verstorbenen) Autoren, dem Zettelkasten von Michael Ende.

Vierundvierzig Fragen an den geneigten Leser

Wenn Sie ein Buch wie dieses hier zusammenstellen sollten, nach welchen Kriterien würden Sie Ihre Auswahl treffen?
Danach, ob die Texte für mich wichtig sind, dann, ob ich vermute, dass sie für den Leser wichtig sein könnten. Dann erst die literarische Qualität.

Gibt es Bücher oder Stellen aus Büchern, die Ihr Leben verändert haben?
Ja, sogar eine ganze Reihe Bücher. Ein Beispiel: Hoimar von Ditfurth - Der Geist fiel nicht vom Himmel - und damit zusammenhängend: Das Ich und sein Gehirn (Karl Popper gemeinsam mit John C. Eccles). Hätte ich diese Bücher nie gelesen, hätte ich eine schwere psychische Krise vielleicht nicht bewältigt.

Halten Sie es für Zufall, wenn Sie, von Lebensfragen bedrängt, genau im richtigen Augenblick genau das richtige Buch in die Hand bekommen, es genau an der richtigen Stelle aufschlagen und genau die richtige Antwort finden?
Da mir das schon einige Male passiert ist: Nicht mehr.

Gehört die Bibel, die von Engeln, Dämonen und Wundern berichtet, zur phantastischen Literatur?
Wenn, wie üblich, Mythen und Sagen zur "phantastischen Literatur" gezählt werden, dann ja. Die Tatsache, dass die Bibel für viele Gläubige "heilige Schrift" ist, hebt sie in keine andere Kategorie wie z. B. die Epen Homers.

Gibt es eine Stadt namens Moskau, so wie Tolstoi sie beschreibt, eine Stadt namens Berlin, von der Fontane erzählt, eine Stadt namens Paris, wie Maupassant sie schildert, wirklich, oder hat es sie jemals gegeben?
Tolstois Moskau, Fontanes Berlin oder Maupassants Paris sind Städte, die es, historisch-kritisch gesehen, nie so gegeben hat. Das heißt jedoch noch lange nicht, dass es diese Orte überhaupt nicht gibt.

Ist der Mond, den Goethe duzte ("Füllest wieder Busch und Tal ..."), und der Klumpen aus Schlacke und Staub, auf dem die beiden Astronauten herumtaumelten, ein und derselbe Himmelskörper?
In gewisser Hinsicht: Ja. Auch wenn es den Mond, so wie ihn Romantiker besangen, in der (astronomischen, physikalischen) "Wirklichkeit" nicht gibt. Nebenbei mag ich auch den per Raumflug erreichbaren Himmelskörper Mond nicht als "Klumpen aus Schlacke und Staub" abqualifizieren. In gewisser Hinsicht halte ich die Raumfahrt für ein sehr romantisches Unterfangen.

Kann die Schilderung von Kriegsgreueln einen Menschen belehren oder gar verändern, der diese Kriegsgreuel unbelehrt und unverändert erlebt hat?
Es kann. Zum Beispiel, weil sie Dinge aufdeckt, die die (anscheinend) unbelehrten und unveränderten Kriegsüberlebenden verdrängt hatten. Aber ich bin nicht so optimistisch, anzunehmen, dass diese Schilderungen bei vielen Kriegsüberlebenden so aufdeckend wirken.

Ist das Leiden von tausend Menschen mehr Leiden als das eines einzelnen?
Nein. Es ist nicht mehr Leiden - es leiden mehr Menschen.

Ist eine rote Fläche von einem Quadratkilometer röter als eine gleichfarbige Fläche von einem Quadratmeter?
Nein. Die große rote Fläche ist ein Million mal größer, aber genau so rot.

Wenn unsere Vorstellungen von der Welt sich ändern, ändert sich dann auch die Wirklichkeit?
Ja. Zumindest bei der sozialen Wirklichkeit bin ich mir dessen sicher.

Können Sie etwas denken, wofür es kein Wort gibt?
Ja.

Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, dass Sie ein Gedicht 'verstanden' haben?
Ein "Aha"-Erlebnis; das Gefühl, dass das Gedicht in mir eine "innere Resonanz" auslöst. Die Textinterpretation tritt dahinter zurück, die Schulfrage: "Was will uns der Dichter damit sagen?" ist irrelevant.

Halten Sie es für möglich, daß die Menschen in hundert oder zweihundert Jahren über unsere Vorstellungen von der Welt den Kopf schütteln werden?
Ich halte es nicht nur für möglich, ich bin mir dessen sicher.

Was treibt wohl einen Nihilisten dazu, andere Menschen von seiner Ansicht, daß alles sinnlos sei, überzeugen zu wollen?
Kein Mensch ist wirklich konsequent - am wenigsten die Anhänger einer so radikalen Weltsicht wie dem Nihilismus.

Erwartet man zu Recht von einem Maler, der ein gutes Christusbild malt, daß er selbst eine Art Christus sein sollte?
Zu Unrecht. Man erwartet von einem Maler, der ein gutes Pferdebild malt, auch nicht, dass er selbst eine Art Pferd sein sollte.

Was rechtfertigt die Darstellung eines entsetzlichen Foltertodes durch ein schönes Bild, durch schöne Musik oder in schönen Versen?
Wenn es nur darum geht, ein "schönes" Kunstwerk im Sinne vom "ästhetisch gefällig" zu schaffen: Nichts! In einem Kunstwerk, das die Menschen berührt, sie zum Nachdenken und Einfühlen bringt, kann auch die Darstellung eines entsetzliches Foltertodes angemessen sein.

Ist Schönheit eine objektive Tatsache oder ein subjektives Erlebnis, oder ist die Frage so überhaupt falsch gestellt?
Die Frage ist falsch gestellt - bzw. es fehlt die Definition, was unter "objektiv" und "subjektiv" zu verstehen sei. "Objektive Tatsache" ist ohnehin ein höchst fragwürdiger Begriff.

Wenn man die Hände zusammenschlägt - welchen Ton macht dann eine Hand?
Eine Frage, auf die ich keine eindeutige Antwort weiß, egal, wie lange ich über sie nachdenke. Deshalb ist sie ja auch ein klassischer Zen-Koan.

Liegt die Kraft, die eine Kompassnadel dazu veranlasst, immer nach Norden zu zeigen, in der Nadel oder im Erdball?
In beiden. Auch der Kompass wirkt sich ein klein wenig auf das Magnetfeld der Erde aus.

Wenn mehrere Menschen das gleiche Buch lesen, lesen sie dann wirklich dasselbe?
Nein.

Wo geschieht das, was zwischen einem Leser und seinem Buch vorgeht?
Im Verstand / Vorstellungsvermögen des Lesers (räumlich in dessen Gehirn).

Kann man ohne Geist den Geist leugnen?
Bestimmt. Ich kann mir problemlos ein K.I.-System auf einem Computer vorstellen, das anhand den dem System vorliegenden Daten zum Schluss kommt, dass es Geist nicht gäbe. Wobei die in Rede stehende künstliche Intelligenz (K.I.) weit davon entfernt ist, so etwas wie Bewusstsein oder Geist zu haben.

Warum schreiben Leute dicke Romane darüber, dass es nicht mehr möglich sei, Romane zu schreiben?
Neben der allgemein menschlichen Inkonsequenz ist es wohl Eitelkeit. Manche Menschen gefallen sich eben in der Rolle des Nörglers.

Wer denkt sich wohl die Geschichten derjenigen Autoren aus, die behaupten, keine 'allwissenden' Erzähler zu sein?
Die Autoren - wer sonst? Das gilt sogar für Geschichten nach Tatsachen.

Was ist der Unterschied zwischen einer dichterischen Fiktion und einer Lüge?
Bei einer dichterischen Fiktion lassen sich Schein und Wirklichkeit unterscheiden, sie will nicht täuschen. Eine Lüge ist Schein, der als Wirklichkeit ausgegeben wird.

Wenn die Kunst im Weglassen besteht, ist es dann nicht die höchste Kunst, gar nichts zu machen?
Nein. Denn es ist eine Faustregel, wobei "Weglassen" "Stilisierung", "Vereinfachung" meint - was keineswegs immer und auf jedes Kunstwerk anwendbar ist. Auch wenn es eine Kunst ist, Muße zu genießen, ist Muße an sich keine Kunst.

Sind eigentlich die Leser verpflichtet, einen Dichter zu verstehen, oder ist ein Dichter verpflichtet, sich den Lesern verständlich zu machen?
Der Leser ist zu gar nichts verpflichtet. Ein Dichter sollte zwar in der Regel verständlich schreiben, aber das hat Grenzen - und es gibt Ausnahmen.

Wenn ich das Wort 'Baum' in Morseschrift, in gotischen Lettern, in Blindenschift und im chinesischen Ideogramm vor mir sehe, aber dieser Schriften unkundig bin, muss ich da nicht annehmen, es handle sich um ganz verschiedene Dinge?
Möglicherweise. Ich kann ich mir dessen nicht sicher sein.

Wenn Kafka uns mit seinen Romanen das sagen wollte, was seine Interpreten interpretieren, warum hat er's dann nicht gesagt?
Interpretationen hängen grundsätzlich ebenso vom Interpreten wie vom Text ab - im besten Falle ist es ein "stummer Dialog". Da Kafka nicht wissen konnte, was seine Texte bei jedem Einzelnen Leser berühren könnten, konnte er es auch nicht sagen.

Was tun die Personen in einem Buch, wenn es gerade niemand liest?
Dann sind sie nichts als Buchstabengruppen. Erst die Phantasie des Lesers erwecken sie zum Leben.

Ist der Wunsch nach Schönheit der Wunsch nach Beschönigung?
Manchmal schon. Aber es gibt auch den Wunsch nach ehrlicher Schönheit, einer Schönheit ohne Täuschung und Selbsttäuschung.

Haben Sie schon jemals einen Durchschnittsmenschen kennengelernt?
Nein. Der "Durchschnittsmensch" ist ein statistisches Artefakt. Aber ich habe schon sehr viele "durchschnittliche" Menschen, Menschen, deren Verhalten dem "statistischen Mittelwert" nahe kommt, kennengelernt. Sie sind meistens ziemlich langweilig.

Ist es nicht höchst verwunderlich, dass die gesamte deutsche, englische, französische, spanische und italienische Literatur nur aus sechsundzwanzig Buchstaben besteht? Nein. Letzten Endes kann man sie sogar durch binäre Einsen und Nullen ausdrücken. (Wie dieser Blogtext hier auf Prozessorebene eine Folge aus Einsen und Nullen ist.) Das verwendete Alphabet ist für die Literatur wenig relevant.

Halten Sie es für möglich, daß Gott, wie die Kabbala lehrt, die Welt aus zweiundzwanzig Buchstaben und zehn Zahlen schuf?
Ja. Allerdings nicht wörtlich genommen. Es ist eine schöne Metapher.

Könnte es den Tanz, der die Schwerkraft überwindet, ohne die Schwerkraft geben?
Nein. Auch wenn dieser Tanz eine Metapher ist, gäbe es dieses sprachliche Bild ohne die Schwerkraft nicht.

Welcher elektrochemische Prozeß in unserem Hirn hat wohl den Gedanken hervorgebracht, dass Gedanken nichts anderes seien als elektrochemische Prozesse in unserem Hirn?
Leicht ironisch ausgedrückt: Vielleicht ein zu hoher Dopamin-Spiegel. Angeblich verleitet das zu voreiligen Schlüssen, wie dem erwähnten Reduktionismus.

Wenn Wirklichkeit etwas mit 'wirken' zu tun hat, welche Wirklichkeit hat dann ein Traum?
Ein Traum kann auf uns selbst, auf unser Denken und Fühlen, auswirken. Insofern ist er im Wortsinn "wirklich". Träume sind nur im Sprichwort Schäume - sie können z. B. ein Zugang zu unserem Unterbewusstsein sein.

Gibt es Bücher, die einen krank oder gesund machen?
Ja. Viele "Lebenshilfe"-Bücher machen krank - buchstäblich durch falschen oder irreführenden Rat. (Seelisch) krank machen können auch deprimierende, aber überzeugende Bücher - Sachbücher wie Romane -, die die Welt als grau und grausam erscheinen lassen. Gesund machen Bücher, die Hoffnung erwecken und das Selbstbewusstsein stärken, wohlgemerkt ohne krampfhaftes "positives Denken". Auch aufklärende Bücher können sehr heilsam sein.

Haben Sie auch beobachtet, dass jedem Menschen im Lauf seines Lebens von einer Fee drei Wünsche erfüllt werden?
Direkt nicht. Aber ich habe beobachtet, dass die meisten Wünsche erfüllt werden - wenn auch nicht immer so, wie es die Wünschenden erwarten.

Was ist Ihrer Ansicht nach schwerer zu machen - das Schwere oder das Leichte?
Wenn es um "leichte Unterhaltung" geht, ist diese oft eine schwere (schwierige) Kunst. Aber es kommt immer auf den einzelnen Fall an.

Werden Sie nachzählen, ob es auch wirklich vierundvierzig Fragen waren, oder glauben Sie mir aufs Wort?
Ich habe nachgezählt. Es sind nur 41.

Sonntag, 7. Dezember 2008

Nein, ich habe es nicht vergessen!

Wie schon letztes und vorletztes Jahr:
Mal sehen, ob er noch da ist, der Jul-Bock von Gävle.

Samstag, 29. November 2008

Drei ...

3 Jahre MMsSenf. Drei Jahre sind die übliche Dauer einer Ausbildungszeit für einen kaufmännischen oder handwerklichen Beruf. Alle drei Jahre werden der Ernst-Bloch-Preis, der Karl-Jaspers-Preis und der Bertholt-Brecht-Preis verliehen. Seit neuestem kann man sich für die Verbreitung von "Jugendpornographie" drei Jahre Gefängnis einhandeln. Die reguläre Verjährungsfrist im deutschen Zivilrecht beträgt drei Jahre. Nach drei Jahren sind Straftaten, die mit weniger als einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet werden, verjährt. Drei Jahre muss ein echter Sbrinz (Hartkäse) reifen. Alle drei Jahre tagt die Hauptversammlung der Internationalen Union für reine und angewandte Physik. Drei Jahre Zeit sollte man ansetzen, wenn man mit einer kleinen Yacht die Erde umsegeln möchte.

Drei Jahre, in denen sich in meinem Leben für meinen Geschmack zu wenig geändert hat (immerhin ist es nicht schlechter geworden) und in Deutschland zuviel zum Schlechteren.
Seit genau drei Jahren gibt es MMsSenf. Übrigens war es als Provisorium gedacht - nichts hält so lange wie ein gutes Provisorium.

Drei Jahre, in dem ich in diesem Blog vieles schrieb, was ich heute nicht mehr schreiben würde. Und ein paar Beiträge, für die ich mich schäme. Aber auch drei Jahre, in denen ich eine handvoll Artikel schrieb, auf die ich wirklich stolz bin.

Auf die nächsten drei Jahre!

Freitag, 7. November 2008

Noch mehr Runenmode

Kapuzenshirt-Logo
Kapuzenshirt Thorshammer & "Nazis raus"

polohemd
Polohemd "Deutsche kauft nicht bei Nazis"

armee-t-shirt
T-Shirt "Odin statt Nazis" & "Nornirs Ætt Action-Team"

Leider vorerst nur als Bilder - aber das ließe sich ändern.

Donnerstag, 6. November 2008

"Kauft nicht bei Nazis!"

Das hier wäre doch echt ´ne Alternative:
Sweatshirt
"Odin statt Nazis!"

oder das hier:
T-Shirt
"Nazis raus"

(Motto von Bela B. : Deutsche, kauft nicht bei Nazis! mp3, zum kostenlosen Runterladen.)

Mittwoch, 5. November 2008

"Ritzer"-Klischees - endlich öffentlich hinterfragt

"Ritzer" - das ist die verharmlosende bis romantisierende mediale Bezeichnung für eine Form des autoaggressiven Verhalten, dass das medial geprägte Klischee mit jungen Frauen in Verbindung bringt.

Bettina Winsemann schrieb auf "telepolis" das, was meiner Ansicht nach in jeder Zeitung, jedes Internet-Portal, jedes Fernsehprogramm gehört: Männer/Frauen machen sowas nicht!.
Gerade die Fixierung auf "Frauen = Selbstverletzung" zeigt immer deutlicher auch die Form einer von mir als "positiven -ismus" bezeichneten Logik: indem bestimmte Gruppierungen aus einer Berichterstattung herausgenommen werden oder aber ihr Geschlecht/Religion/Herkunft/Hautfarbe usw. quasi als Persilschein genommen werden, wird eigentlich genau diese Gruppierung erneut zum Ziel von Wut und Aggression.
Ich muss einräumen: das Thema ist für mich heikel, zu heikel, dass ich darüber unbefangen bloggen könnte. "Ritzen" hat nichts mit oberflächlichem Aufritzen der Haut zu tun, "Ritzer" fügen sich selbst erhebliche Schmerzen und deshalb auch erhebliche Verletzungen zu, schneiden sich die Haut tief ein.
"Ritzen" ist beileibe nicht die einzige Form der Autoaggressivität, auch nicht die verbreitetste - aber wohl jene, die sich am "attraktivsten" medial umsetzen lässt.
Typische Formen der Autoagressivität:
  • "Ritzen" - sich selbst mit scharfen Gegenständen wie z. B. Glasscherben, Rasierklingen oder Messern verletzen.
  • Sich selbst Verbrennungen oder Verbrühungen z. B. mit Zigaretten, Kerzen oder Bügeleisen zufügen
  • Sich selbst ins Gesicht oder auf den Kopf oder (bei Männern) in die Hoden schlagen, sich beißen
  • absichtlich ungesunde Ernährung
  • Magersucht
  • Bulemie
  • exzessiver Sport, über die Schmerzgrenze hinaus
  • Schlafentzug
  • bestimmte Formen des Drogenmissbrauchs, z. B. "Komasaufen"
Wie schon diese (unvollständige) Auflistung zeigt, ist am Klischee des "stillen Hilfeschreis verunsicherter junger Mädchen" wenig dran. Und die Ursachen sind genau so vielfältig wie die Ausprägungen.
In aller Vorsicht lässt sich sagen: Autoaggressive Handlungen sind Betroffenen meist nur schwer bis gar nicht kontrollierbar, ihr Verhalten unterliegt nur selten der freien Entscheidung. Außerdem sollte Autoaggressivität nicht mit Masochismus verwechselt werden.

Auslöser (nicht zu verwechseln mit den Ursachen) von Autoaggressivität sind meist Nichtigkeiten - manchmal aber auch traumatische Erlebnisse, die von Außenstehenden nicht immer als solche erkannt werden. Alltägliche Missgeschicke, wie etwa eine verpatzte Prüfung oder manchmal auch nur eine Verspätung, werden als persönliche Katastrophe empfunden. Zu Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit kommen oft Wut, Angst und Verzweiflung. Diese Stimmung steigert sich zu Selbst-Hass und dem starken Bedürfnis, sich selbst zu verletzen.
Die Betroffenen schämen sich meistens für ihr Verhalten und fühlen sich oft schuldig.

Es scheint tatsächlich so zu sein, dass junge Frauen besonders oft mit dem Drang zur Selbstverletzung zu kämpfen haben. Ein Grund kann darin liegen, dass Mädchen im Teenageralter in der Regel "reifer" sind als Jungen: Mädchen sind eher bereit, Fehler bei sich selbst zu suchen. Hinzu kommt: Mädchen leben in unserer Gesellschaft immer noch ihre Wut nicht an anderen Menschen oder Gegenständen aus, sondern sie richten Aggressionen gegen sich selbst - weil sie selbst das einzige "erlaubte" Ziel für Aggression sind.
Aber das sind relative Unterschiede. Die dadurch, dass Männer und erwachsene Frauen meistens weniger leicht erkennbare Formen der Autoagression wählen als jugendliche "Ritzerinnen", noch deutlicher Hervortreten.

Dienstag, 14. Oktober 2008

Zu viele Leichen - zu viele Zweifel

In meinem letzten Beitrag S-Bahn, Lügen und Video erwähnte ich, dass ich Zeuge eines Bahnsuzids geworden war. Nun ist es immer heikel, öffentlich, und sei es in einem Blog, über Suizide zu berichten, da jede Berichterstattung "Nachahmer" anstiftet. Der Nachahmungseffekt, nach dem berühmtesten Beispiel "Werther-Effekt" genannt, gilt inzwischen wissenschaftlich als statistisch belegbares Phänomen.

Aus dem Pressekodex des Deutschen Presserates:
Richtlinie 8.5 - Selbsttötung
Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Begleitumstände. Eine Ausnahme ist beispielsweise dann zu rechtfertigen, wenn es sich um einen Vorfall der Zeitgeschichte von öffentlichem Interesse handelt.
Die Psychiater und Psychologen, die sich mit diesem Problem beschäftigt haben, bitten die Journalisten von Presse, Funk und Fernsehen auf folgende suizid-präventiven Aspekte zu achten (nach W. Ziegler und U. Hegerl, 2002):
  • Angaben zur biologischen und sozialen Identität vermeiden: Detaillierte Hinweise über Alter, Geschlecht und Aussehen (Fotos, Bilder) sollten ebenso vermieden werden wie Angaben über soziale Beziehungen, gemütsmäßige Verfassung, Charakter und Leistungsfähigkeit (z. B. schulisches Versagen, Arbeitslosigkeit) des Suizidenten.
  • Angaben zu Suizidmethode und Suizidort vermeiden: Dies gilt vor allem für konkrete Informationen über die Suizidmethode, die instruktiv oder gar induzierend sein könnte. Ähnliches gilt für den Suizidort, der auf keinen Fall "mystifiziert" werden darf: z. B. "Todesbrücke von …", "das Hochhaus des Grauens", "an der Biegung des Flusses", "zwischen … und … bricht den Lokführern schon der Schweiß aus" u.a.
  • Keine Spekulationen über Ursachen und Bewertungen des Suizides: Diese Empfehlung mag überraschen und vor allem journalistisch einengen, hat aber einen nachvollziehbaren Hintergrund. Nach dem erschütternden Freitod eines Familienmitglieds neigen vor allem Angehörige und Bekannte, Freunde und Nachbarn dazu, den Verstorbenen zu überhöhen. Das kann eine entsprechende Berichterstattung bahnen ("er blieb sich selbst treu", "er starb, wie er lebte", "Anpassung war nicht seine Sache" u.a.).
Obwohl ich "im entscheidenden Moment" nicht hinsah, kann ich eines mit Bestimmheit sagen: es war ein grausamer Tod. Von den Rädern eines langsam fahrenden S-Bahn Triebwagens in drei Teile zerquetscht zu werden. Ähnlich grausam war der Tod eines Menschen, der von einem Hochhaus sprang, den ich als junger Mann von der anderen Straßenseite aus ansah - und mit dem Kopf zuerst auf einen betonierten Parkplatz prallte. Ich mache mir heute noch Vorwürfe, dass ich damals wie gebannt gegafft hatte - was auch der Grund war, weshalb ich im Falle des Schienensuizides als Augenzeuge versagte. (Denn die Polizei machte mir klar, dass sie von mir klare Angaben erwartete. "Verstehen Sie nicht, es geht hier wahrscheinlich um die Aufklärung eines selten brutalen Mordes. Sie wissen, dass Sie sich mit einer absichtlichen Falschaussage strafbar machen?")
Das unprofessionelle Verhalten der Polizisten ist dadurch erklärbar, dass die Beamten selbst hochgradig erregt waren und unter einem erheblichen Aufklärungsdruck standen. Außerdem empfand ich, rein subjektiv, die Polizisten als aufdringlicher, als sie es aller Wahrscheinlichkeit nach waren.

Ich persönlich kann sagen, dass mir der Umstand, dass ich der Zeuge zweier, salopp formuliert, unappetitlicher Selbsttötungen wurde, mich von eigenen Suizidplänen abhielt. (Denn "sanfte" Methoden der Selbsttötung, etwa Gift, kamen für mich interessanterweise nie in Frage: "Wenn ich abtrete, dann mit einen Knall und nicht mit einem Wimmern". Das ist keine leere Behauptung, denn ich hatte jahrelang ein Röhrchen mit Kaliumzyanid im Badezimmerschrank stehen - bis ich es dann doch mal beim Problemmüll abgab. In all den Jahren hatte ich nie mit dem Gedanken gespielt, es zu benutzen - aber viele Phantasien, wie ich "mit einem Knall abgehen" könnte.)

Wenn ich in grüblerischen Momenten auf mein bisheriges Leben zurückblicke, dann habe ich schon einige Menschen beim Sterben beobachtet. Außer den beiden Suiziden waren es Unfälle - und zwar seltsam zufällig, völlig "sinnlose", rational nicht zu fassende Unfälle. Weder "technisches Versagen" noch "menschliches Versagen" im Sinne einer groben Fahrlässigkeit war im Spiel - höchsten "ein Moment nicht ausgepasst". So, wie die Insassen des Wohnmobils, dass auf einer Talbrücke von einer plötzliches Windböe über die Mittelleitplanke geweht wurde - in den Gegenverkehr hinnein. Oder der Motorradfahrer, der in voller Fahrt in eine plötzlich geöffnete Fahrertür eines stehenden PKW raste. Oder der betrunkene Passagier eines Fährschiffes, der offensichtlich über die Reling pinkeln wollte, zu diesem Zweck auf eine Kiste mir Schwimmwesten stieg, das Gleichgewicht verlor und in die eiskalte Nordsee kippte. Obwohl das Fährschiff sofort drehte und stoppte (ein echtes Gewaltmanöver) und ein Boot aussetzte, konnte er nur noch tot geborgen werden.
In allen diesen Fälle hätte ich, realistisch betrachtet, nicht mehr helfen können. Trotzdem mache ich mir Vorwürfe - ich hätte "mehr tun sollen als Gaffen oder Wegsehen".

Dienstag, 9. September 2008

"Dinge, die's wert sind".

Angeregt durch kluge Gedanken von ryuuyu Best things aren't free und distelfliege Best things aren't free 2.

Ich bin zwar nicht von wirklich bitterer Armut betroffen, aber wie es sich anfühlt, von ALG II zu leben, kenne ich aus eigener Erfahrung. Es ist kein gutes Gefühl. Im Moment entspricht mein Einkommen in etwa meinen tatsächlichen Lebenshaltungskosten, aber mir ging es finanziell auch schon dreckiger.

Anlass war die an sich ganz nette Aktion "Best Things are Free" - an und pfirsich nicht schlecht, gäbe es da nicht ab und an dieses Hohelied auf Bescheidenheit, mal zwischen den Zeilen, mal ziemlich direkt angesprochen.

Bescheidenheit ist gut - solange sie freiwillig ist. In den allermeisten Fällen ist sie aber nicht freiwillig. Ich könnte in meiner Situation noch sagen: "Och, ich bin mit dem, was ich habe, zufrieden". Aber ich war schon in Situationen, in denen das eine Lüge gewesen wäre.

"Best Things are Free" kann, wie Distel richtig meint, eine Möglichkeit sein, trotz Armut stolz durchs Leben gehen zu können - unter der Voraussetzung allerdings, dass es für die wirklich existenziellen Dinge reicht - worunter ich, ungleich bestimmten im
Elfenbeinturm sitzenden Betriebswirten, mehr verstehe, als sich gemäß WHO-Mindeststandard ernähren zu können. Denn der Stolz, die Würde, die wird armen Menschen geradezu systematisch abgesprochen. (Mir fehlt jetzt der Nerv, mich mit dem Menschenbild hinter den Hartz-Reformen auseinanderzusetzen - oder gar dem Menschenbild der Bild.)
Freiheit, Würde, Respekt - dass sind Dinge, die man sich offensichtlich buchstäblich verdienen muss - es sei denn, man hat gut geerbt - ich verweise da gern auf die Diskussion zu einem kleinen Beitrag bei shifting reality Eigentum und Freiheit.

Ja, und dann gibt es da noch das, was Ferdinand Lassalle vor gut 150 Jahren mal die "Verdammte Bedürfnislosigkeit des Deutschen Arbeiters" genannt hat: eine kleine Wohnung, abends Bier und Wurst auf dem Tisch, schon ist der deutsche Arbeiter zufrieden und muckt nicht auf. Diese Mentalität gibt es heute noch, und sie wird von offizieller Seite noch gefördert.
"Bedürfnislosigkeit" meint in diesem Zusammenhang weniger das Bedürfnis nach materiellen Gütern, nach Konsum - auch wenn Lassalle die lange Zeit geübte "Lohnzurückhaltung" sicher als "verdammte Bedürfnislosigkeit" getadelt hätte - sondern vor allem immaterielle Bedürfnisse wie: kulturelles Leben - Anerkennung - Freiheit - Würde.
Die zwar oft - nicht immer - nicht mit Geld befriedigt werden können - aber durchaus nicht "for free", kostenlos, zu haben sind.

Also - 10 Dinge, die ich mir leiste, obwohl ich mit den Preis dafür eigentlich nicht leisten kann:

1. Ich führe ein Webblog. Und zwar eines, dass sich nicht auf Katzenbilder und Kochrezepte beschränkt. Trotz der Gefahr, wegen irgend einer Kleinigkeit abgemahnt oder der (schon mal eingetretenen!) Gefahr, wegen übler Nachrede angezeigt zu werden.
2. Ich halte in der Öffentlichkeit und auch im Internet nicht mit meinen Ansichten über Religion, Sexualität, Politik zurück und thematisiere sogar persönliche Schwächen - wenn man bestimmten "Beratern" glaubt, vergrault man mit "so was" potenzielle Arbeitgeber. ("Haben Sie erst mal eine Festeinstellung, dürfen Sie ruhig zur Religion bloggen.")
3. Ich nehme, um Freunde zu treffen, auch Reisen in Kauf, die ich durchaus finanziell spüre.
4. Manchmal machen ich auch nur Kurzreisen einfach so, damit mir die Decke nicht auf den Kopf fällt - ein Katastrophe für die gewissenhafte Haushaltsplanung.
5. Überhaupt ist Spontanität etwas, was man sich bei "engen Buget" nicht leisten kann. Mal einfach so das tolle Buch kaufen, oder die Schuhe, die einem gefallen oder mal eben ins Kino oder Essen gehen - das ist nicht drin, weder mit ALG II noch als Geringverdiener. Ich mache es manchmal trotzdem.
6. Ich erfahre beinahe ständig, dass ständige Wachsamkeit der Preis der Freiheit ist - in Politik und Wirtschaft (siehe die Ecke oben rechts) wie auch im Alltag. Vor allem die Wachsamkeit gegenüber den Wächtern.
7. "Schlendern ist Luxus". Ein Luxus, der gelegentlich mit einem freundlichen "Was stehn Se hier rum?" oder "Ham Se nix Besseres zu tun?" quittiert wird. Aber ich bin nicht bereit, so zu tun, als wäre ich gehetzt, wenn ich tatsächlich mal viel Zeit habe.
8. Die eigene, schöne Wohnung. Sie ist nicht sonderlich teuer, aber was hat es mich Nerven gekostet, sie zu behalten, als es mir mal finanziell richtig dreckig ging, und zwar unverschuldet!
9. Allgemein: Es kostet Nerven, Energie, Phantasie, und man braucht echte Freunde, um sich anders zu verhalten, als es "von einem erwartet" wird. Individualität ist nicht gratis, Nonkonformismus hat seinen Preis.
10. Teuer erkaufte Lebenserfahrungen, die ich trotzdem nicht missen möchte.

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