Donnerstag, 8. Januar 2009

Fragebogen - mal nicht als Stöckchen, sondern aus einem Buch

Um die Zeit des Jahreswechsels kursieren verstärkt Fragebögen, unter Bloggern oft in Form sog. Stöckchen.

Einen interessanten Fragebogen fand ich in einem
bemerkenswertem Buch eines bemerkenswerten (und zu früh verstorbenen) Autoren, dem Zettelkasten von Michael Ende.

Vierundvierzig Fragen an den geneigten Leser

Wenn Sie ein Buch wie dieses hier zusammenstellen sollten, nach welchen Kriterien würden Sie Ihre Auswahl treffen?
Danach, ob die Texte für mich wichtig sind, dann, ob ich vermute, dass sie für den Leser wichtig sein könnten. Dann erst die literarische Qualität.

Gibt es Bücher oder Stellen aus Büchern, die Ihr Leben verändert haben?
Ja, sogar eine ganze Reihe Bücher. Ein Beispiel: Hoimar von Ditfurth - Der Geist fiel nicht vom Himmel - und damit zusammenhängend: Das Ich und sein Gehirn (Karl Popper gemeinsam mit John C. Eccles). Hätte ich diese Bücher nie gelesen, hätte ich eine schwere psychische Krise vielleicht nicht bewältigt.

Halten Sie es für Zufall, wenn Sie, von Lebensfragen bedrängt, genau im richtigen Augenblick genau das richtige Buch in die Hand bekommen, es genau an der richtigen Stelle aufschlagen und genau die richtige Antwort finden?
Da mir das schon einige Male passiert ist: Nicht mehr.

Gehört die Bibel, die von Engeln, Dämonen und Wundern berichtet, zur phantastischen Literatur?
Wenn, wie üblich, Mythen und Sagen zur "phantastischen Literatur" gezählt werden, dann ja. Die Tatsache, dass die Bibel für viele Gläubige "heilige Schrift" ist, hebt sie in keine andere Kategorie wie z. B. die Epen Homers.

Gibt es eine Stadt namens Moskau, so wie Tolstoi sie beschreibt, eine Stadt namens Berlin, von der Fontane erzählt, eine Stadt namens Paris, wie Maupassant sie schildert, wirklich, oder hat es sie jemals gegeben?
Tolstois Moskau, Fontanes Berlin oder Maupassants Paris sind Städte, die es, historisch-kritisch gesehen, nie so gegeben hat. Das heißt jedoch noch lange nicht, dass es diese Orte überhaupt nicht gibt.

Ist der Mond, den Goethe duzte ("Füllest wieder Busch und Tal ..."), und der Klumpen aus Schlacke und Staub, auf dem die beiden Astronauten herumtaumelten, ein und derselbe Himmelskörper?
In gewisser Hinsicht: Ja. Auch wenn es den Mond, so wie ihn Romantiker besangen, in der (astronomischen, physikalischen) "Wirklichkeit" nicht gibt. Nebenbei mag ich auch den per Raumflug erreichbaren Himmelskörper Mond nicht als "Klumpen aus Schlacke und Staub" abqualifizieren. In gewisser Hinsicht halte ich die Raumfahrt für ein sehr romantisches Unterfangen.

Kann die Schilderung von Kriegsgreueln einen Menschen belehren oder gar verändern, der diese Kriegsgreuel unbelehrt und unverändert erlebt hat?
Es kann. Zum Beispiel, weil sie Dinge aufdeckt, die die (anscheinend) unbelehrten und unveränderten Kriegsüberlebenden verdrängt hatten. Aber ich bin nicht so optimistisch, anzunehmen, dass diese Schilderungen bei vielen Kriegsüberlebenden so aufdeckend wirken.

Ist das Leiden von tausend Menschen mehr Leiden als das eines einzelnen?
Nein. Es ist nicht mehr Leiden - es leiden mehr Menschen.

Ist eine rote Fläche von einem Quadratkilometer röter als eine gleichfarbige Fläche von einem Quadratmeter?
Nein. Die große rote Fläche ist ein Million mal größer, aber genau so rot.

Wenn unsere Vorstellungen von der Welt sich ändern, ändert sich dann auch die Wirklichkeit?
Ja. Zumindest bei der sozialen Wirklichkeit bin ich mir dessen sicher.

Können Sie etwas denken, wofür es kein Wort gibt?
Ja.

Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, dass Sie ein Gedicht 'verstanden' haben?
Ein "Aha"-Erlebnis; das Gefühl, dass das Gedicht in mir eine "innere Resonanz" auslöst. Die Textinterpretation tritt dahinter zurück, die Schulfrage: "Was will uns der Dichter damit sagen?" ist irrelevant.

Halten Sie es für möglich, daß die Menschen in hundert oder zweihundert Jahren über unsere Vorstellungen von der Welt den Kopf schütteln werden?
Ich halte es nicht nur für möglich, ich bin mir dessen sicher.

Was treibt wohl einen Nihilisten dazu, andere Menschen von seiner Ansicht, daß alles sinnlos sei, überzeugen zu wollen?
Kein Mensch ist wirklich konsequent - am wenigsten die Anhänger einer so radikalen Weltsicht wie dem Nihilismus.

Erwartet man zu Recht von einem Maler, der ein gutes Christusbild malt, daß er selbst eine Art Christus sein sollte?
Zu Unrecht. Man erwartet von einem Maler, der ein gutes Pferdebild malt, auch nicht, dass er selbst eine Art Pferd sein sollte.

Was rechtfertigt die Darstellung eines entsetzlichen Foltertodes durch ein schönes Bild, durch schöne Musik oder in schönen Versen?
Wenn es nur darum geht, ein "schönes" Kunstwerk im Sinne vom "ästhetisch gefällig" zu schaffen: Nichts! In einem Kunstwerk, das die Menschen berührt, sie zum Nachdenken und Einfühlen bringt, kann auch die Darstellung eines entsetzliches Foltertodes angemessen sein.

Ist Schönheit eine objektive Tatsache oder ein subjektives Erlebnis, oder ist die Frage so überhaupt falsch gestellt?
Die Frage ist falsch gestellt - bzw. es fehlt die Definition, was unter "objektiv" und "subjektiv" zu verstehen sei. "Objektive Tatsache" ist ohnehin ein höchst fragwürdiger Begriff.

Wenn man die Hände zusammenschlägt - welchen Ton macht dann eine Hand?
Eine Frage, auf die ich keine eindeutige Antwort weiß, egal, wie lange ich über sie nachdenke. Deshalb ist sie ja auch ein klassischer Zen-Koan.

Liegt die Kraft, die eine Kompassnadel dazu veranlasst, immer nach Norden zu zeigen, in der Nadel oder im Erdball?
In beiden. Auch der Kompass wirkt sich ein klein wenig auf das Magnetfeld der Erde aus.

Wenn mehrere Menschen das gleiche Buch lesen, lesen sie dann wirklich dasselbe?
Nein.

Wo geschieht das, was zwischen einem Leser und seinem Buch vorgeht?
Im Verstand / Vorstellungsvermögen des Lesers (räumlich in dessen Gehirn).

Kann man ohne Geist den Geist leugnen?
Bestimmt. Ich kann mir problemlos ein K.I.-System auf einem Computer vorstellen, das anhand den dem System vorliegenden Daten zum Schluss kommt, dass es Geist nicht gäbe. Wobei die in Rede stehende künstliche Intelligenz (K.I.) weit davon entfernt ist, so etwas wie Bewusstsein oder Geist zu haben.

Warum schreiben Leute dicke Romane darüber, dass es nicht mehr möglich sei, Romane zu schreiben?
Neben der allgemein menschlichen Inkonsequenz ist es wohl Eitelkeit. Manche Menschen gefallen sich eben in der Rolle des Nörglers.

Wer denkt sich wohl die Geschichten derjenigen Autoren aus, die behaupten, keine 'allwissenden' Erzähler zu sein?
Die Autoren - wer sonst? Das gilt sogar für Geschichten nach Tatsachen.

Was ist der Unterschied zwischen einer dichterischen Fiktion und einer Lüge?
Bei einer dichterischen Fiktion lassen sich Schein und Wirklichkeit unterscheiden, sie will nicht täuschen. Eine Lüge ist Schein, der als Wirklichkeit ausgegeben wird.

Wenn die Kunst im Weglassen besteht, ist es dann nicht die höchste Kunst, gar nichts zu machen?
Nein. Denn es ist eine Faustregel, wobei "Weglassen" "Stilisierung", "Vereinfachung" meint - was keineswegs immer und auf jedes Kunstwerk anwendbar ist. Auch wenn es eine Kunst ist, Muße zu genießen, ist Muße an sich keine Kunst.

Sind eigentlich die Leser verpflichtet, einen Dichter zu verstehen, oder ist ein Dichter verpflichtet, sich den Lesern verständlich zu machen?
Der Leser ist zu gar nichts verpflichtet. Ein Dichter sollte zwar in der Regel verständlich schreiben, aber das hat Grenzen - und es gibt Ausnahmen.

Wenn ich das Wort 'Baum' in Morseschrift, in gotischen Lettern, in Blindenschift und im chinesischen Ideogramm vor mir sehe, aber dieser Schriften unkundig bin, muss ich da nicht annehmen, es handle sich um ganz verschiedene Dinge?
Möglicherweise. Ich kann ich mir dessen nicht sicher sein.

Wenn Kafka uns mit seinen Romanen das sagen wollte, was seine Interpreten interpretieren, warum hat er's dann nicht gesagt?
Interpretationen hängen grundsätzlich ebenso vom Interpreten wie vom Text ab - im besten Falle ist es ein "stummer Dialog". Da Kafka nicht wissen konnte, was seine Texte bei jedem Einzelnen Leser berühren könnten, konnte er es auch nicht sagen.

Was tun die Personen in einem Buch, wenn es gerade niemand liest?
Dann sind sie nichts als Buchstabengruppen. Erst die Phantasie des Lesers erwecken sie zum Leben.

Ist der Wunsch nach Schönheit der Wunsch nach Beschönigung?
Manchmal schon. Aber es gibt auch den Wunsch nach ehrlicher Schönheit, einer Schönheit ohne Täuschung und Selbsttäuschung.

Haben Sie schon jemals einen Durchschnittsmenschen kennengelernt?
Nein. Der "Durchschnittsmensch" ist ein statistisches Artefakt. Aber ich habe schon sehr viele "durchschnittliche" Menschen, Menschen, deren Verhalten dem "statistischen Mittelwert" nahe kommt, kennengelernt. Sie sind meistens ziemlich langweilig.

Ist es nicht höchst verwunderlich, dass die gesamte deutsche, englische, französische, spanische und italienische Literatur nur aus sechsundzwanzig Buchstaben besteht? Nein. Letzten Endes kann man sie sogar durch binäre Einsen und Nullen ausdrücken. (Wie dieser Blogtext hier auf Prozessorebene eine Folge aus Einsen und Nullen ist.) Das verwendete Alphabet ist für die Literatur wenig relevant.

Halten Sie es für möglich, daß Gott, wie die Kabbala lehrt, die Welt aus zweiundzwanzig Buchstaben und zehn Zahlen schuf?
Ja. Allerdings nicht wörtlich genommen. Es ist eine schöne Metapher.

Könnte es den Tanz, der die Schwerkraft überwindet, ohne die Schwerkraft geben?
Nein. Auch wenn dieser Tanz eine Metapher ist, gäbe es dieses sprachliche Bild ohne die Schwerkraft nicht.

Welcher elektrochemische Prozeß in unserem Hirn hat wohl den Gedanken hervorgebracht, dass Gedanken nichts anderes seien als elektrochemische Prozesse in unserem Hirn?
Leicht ironisch ausgedrückt: Vielleicht ein zu hoher Dopamin-Spiegel. Angeblich verleitet das zu voreiligen Schlüssen, wie dem erwähnten Reduktionismus.

Wenn Wirklichkeit etwas mit 'wirken' zu tun hat, welche Wirklichkeit hat dann ein Traum?
Ein Traum kann auf uns selbst, auf unser Denken und Fühlen, auswirken. Insofern ist er im Wortsinn "wirklich". Träume sind nur im Sprichwort Schäume - sie können z. B. ein Zugang zu unserem Unterbewusstsein sein.

Gibt es Bücher, die einen krank oder gesund machen?
Ja. Viele "Lebenshilfe"-Bücher machen krank - buchstäblich durch falschen oder irreführenden Rat. (Seelisch) krank machen können auch deprimierende, aber überzeugende Bücher - Sachbücher wie Romane -, die die Welt als grau und grausam erscheinen lassen. Gesund machen Bücher, die Hoffnung erwecken und das Selbstbewusstsein stärken, wohlgemerkt ohne krampfhaftes "positives Denken". Auch aufklärende Bücher können sehr heilsam sein.

Haben Sie auch beobachtet, dass jedem Menschen im Lauf seines Lebens von einer Fee drei Wünsche erfüllt werden?
Direkt nicht. Aber ich habe beobachtet, dass die meisten Wünsche erfüllt werden - wenn auch nicht immer so, wie es die Wünschenden erwarten.

Was ist Ihrer Ansicht nach schwerer zu machen - das Schwere oder das Leichte?
Wenn es um "leichte Unterhaltung" geht, ist diese oft eine schwere (schwierige) Kunst. Aber es kommt immer auf den einzelnen Fall an.

Werden Sie nachzählen, ob es auch wirklich vierundvierzig Fragen waren, oder glauben Sie mir aufs Wort?
Ich habe nachgezählt. Es sind nur 41.

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