Dienstag, 14. Oktober 2008

Wie Schäuble wirklich denkt ...

... wird aus diesem Interview, das er der "taz" gab, erschreckend deutlich: Innenminister Schäuble über Grundrechte
"Ich schütze, ich gefährde sie nicht"
.

Besonders bemerkenswert erscheinen mir folgende Aussagen:
Ihren Kritikern macht Sorgen, dass die technischen Möglichkeiten der heutigen Sicherheitsorgane weit über die der Stasi hinausgehen...

Das ist doch Unsinn. Die Stasi hatte mehrere hunderttausend Mitarbeiter. Sie hat Menschen dazu gebracht, sich gegenseitig zu bespitzeln. Nicht einmal Ehegatten konnten einander trauen. Eltern mussten am Küchentisch darauf achten, was sie erzählen, damit ihre Kinder das nicht in der Schule ausplaudern. Das war eine Atmosphäre der Angst. Wer das mit der Bundesrepublik vergleicht, der diffamiert unsere Freiheitsordnung in einem Maße, wie wir es nicht zulassen dürfen. Wir haben nämlich in Deutschland schon einmal eine Freiheitsordnung durch verantwortungsloses und bösartiges Gerede derart diffamiert, dass am Ende die NS-Gewalt- und Willkürherrschaft an die Macht kommen konnte.
Kommentar: Ich bestreite nicht, dass die heutigen Zustände in Deutschland noch weit von denen in der Stasi-überwachten DDR entfernt sind. Die Betonung liegt aber auf "noch" - denn das Misstrauen zwischen den Menschen, das Gefühl, darauf achten zu müssen, wer wem was sagen kann, hat eindeutig zugenommen.
Zum Geschichtsbild: die Weimarer Republik wurde in der Tat durch "bösartiges Gerede" diffamiert - vor allem seitens konservativer und reaktionärer Kreise. Sie ging allerdings nicht an der Kritik jener, der "Weimar" einfach nicht rechtstaatlich, demokratisch, offen genug war, zugrunde, nicht an den Tucholskys, Kästners, Ossietzkys!
Aber große Datensammlungen führen nun mal schnell zu Pannen bei sensiblen Informationen. Oder sehen sie das anders?

Das ist wahr. Es gibt diese Risiken. Alles in der Menschheitsgeschichte ist eben nicht nur Fortschritt, sondern birgt immer auch eine Gefahr. Wir haben das Telefonbuch bis vor kurzem noch als Alltagshilfe empfunden. Heute gilt es manchen wohl als riesige Datensammlung. Wollen wir deswegen auf die Vorzüge eines Telefonbuches verzichten? Das ist doch Maschinenstürmerei. Ich nehme den Datenschutz ernst, und damit er wirksamer realisiert werden kann, legt die Bundesregierung jetzt auch ein neues Gesetz vor.

Ein Telefonbuch lässt sich doch schwer mit Millionen Verbindungsdaten vergleichen. Die Frage ist doch, ob die Speicherung derart vieler Angaben nicht ein höheres Risiko darstellt als die Gefahren, vor denen Sie schützen wollen.

Das heißt, Sie wollen die Informationstechnologie ganz abschaffen?

Sie argumentieren sehr schwarz-weiß.

Ich bleibe nur in der Logik Ihrer Frage. Und wenn ich die weiterdenke, kann man nur zu diesem Schluss kommen.
Genau das ist es, was mir an Schäuble - und anderen, die so denken wir er - so unheimlich ist. Das dualistische Weltbild, in dem klar zwischen "gut" und "böse" geschieden wird. Wenn unser Staat "gut" ist - und ich bestreite gar nicht, dass er ein für seine Bürger besserer Staat ist, als die meisten Staaten dieser Erde, von früheren deutschen Staaten gar nicht zu reden - dann heißt das nicht, dass jeder, der diesen Staat kritisiert, damit "böse" ist, oder auch "nur" ein Gegner der bestehenden Gesellschaftsordnung wäre.

Umgekehrt wurde ich keine Sekunde lang bestreiten, dass Terrorismus "böse" ist, egal, von wem und zu welchen Zwecken. Kein Zweck "heiligt" dieses Mittel, der Mittel des Terrors verrät den Zweck!
Aber ich stimme Richard Rorty zu, wenn er im gedruckten Spiegel sagt schon 2004 in der "Zeit" (der "Spiegel" zitiert diesen Artikel) sagte :
"Der Verdacht, dass der Krieg gegen den Terrorismus gefährlicher ist als der Terrorismus selbst, erscheint mir völlig gerechtfertigt."
Schäuble hält es für logisch, dass aus dem Streben nach Datenschutz und Datensicherheit folgt, dass wir dann eben auf die "Informationstechnologie" ganz verzichten müssten. Das ist eben so "logisch", wie aus dem Streben nach mehr Sicherheit im Straßenverkehr folgt, dass man dann eben die Autos abschaffen müsste, oder aus der Vorstellung, Umweltschutz sei nur durch Verzicht auf industrielle Produktion möglich.

Da Schäuble im Interview versucht, die Bürgerrechtler in die linke Spinner-Ecke zu stecken, stellt sich die Frage, wie sich das mit seiner Vorliebe mit einer CDU-FDP-Koalition verträgt - jedenfalls, wenn man bei der dualistischen Logik bleibt.

Zu viele Leichen - zu viele Zweifel

In meinem letzten Beitrag S-Bahn, Lügen und Video erwähnte ich, dass ich Zeuge eines Bahnsuzids geworden war. Nun ist es immer heikel, öffentlich, und sei es in einem Blog, über Suizide zu berichten, da jede Berichterstattung "Nachahmer" anstiftet. Der Nachahmungseffekt, nach dem berühmtesten Beispiel "Werther-Effekt" genannt, gilt inzwischen wissenschaftlich als statistisch belegbares Phänomen.

Aus dem Pressekodex des Deutschen Presserates:
Richtlinie 8.5 - Selbsttötung
Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Begleitumstände. Eine Ausnahme ist beispielsweise dann zu rechtfertigen, wenn es sich um einen Vorfall der Zeitgeschichte von öffentlichem Interesse handelt.
Die Psychiater und Psychologen, die sich mit diesem Problem beschäftigt haben, bitten die Journalisten von Presse, Funk und Fernsehen auf folgende suizid-präventiven Aspekte zu achten (nach W. Ziegler und U. Hegerl, 2002):
  • Angaben zur biologischen und sozialen Identität vermeiden: Detaillierte Hinweise über Alter, Geschlecht und Aussehen (Fotos, Bilder) sollten ebenso vermieden werden wie Angaben über soziale Beziehungen, gemütsmäßige Verfassung, Charakter und Leistungsfähigkeit (z. B. schulisches Versagen, Arbeitslosigkeit) des Suizidenten.
  • Angaben zu Suizidmethode und Suizidort vermeiden: Dies gilt vor allem für konkrete Informationen über die Suizidmethode, die instruktiv oder gar induzierend sein könnte. Ähnliches gilt für den Suizidort, der auf keinen Fall "mystifiziert" werden darf: z. B. "Todesbrücke von …", "das Hochhaus des Grauens", "an der Biegung des Flusses", "zwischen … und … bricht den Lokführern schon der Schweiß aus" u.a.
  • Keine Spekulationen über Ursachen und Bewertungen des Suizides: Diese Empfehlung mag überraschen und vor allem journalistisch einengen, hat aber einen nachvollziehbaren Hintergrund. Nach dem erschütternden Freitod eines Familienmitglieds neigen vor allem Angehörige und Bekannte, Freunde und Nachbarn dazu, den Verstorbenen zu überhöhen. Das kann eine entsprechende Berichterstattung bahnen ("er blieb sich selbst treu", "er starb, wie er lebte", "Anpassung war nicht seine Sache" u.a.).
Obwohl ich "im entscheidenden Moment" nicht hinsah, kann ich eines mit Bestimmheit sagen: es war ein grausamer Tod. Von den Rädern eines langsam fahrenden S-Bahn Triebwagens in drei Teile zerquetscht zu werden. Ähnlich grausam war der Tod eines Menschen, der von einem Hochhaus sprang, den ich als junger Mann von der anderen Straßenseite aus ansah - und mit dem Kopf zuerst auf einen betonierten Parkplatz prallte. Ich mache mir heute noch Vorwürfe, dass ich damals wie gebannt gegafft hatte - was auch der Grund war, weshalb ich im Falle des Schienensuizides als Augenzeuge versagte. (Denn die Polizei machte mir klar, dass sie von mir klare Angaben erwartete. "Verstehen Sie nicht, es geht hier wahrscheinlich um die Aufklärung eines selten brutalen Mordes. Sie wissen, dass Sie sich mit einer absichtlichen Falschaussage strafbar machen?")
Das unprofessionelle Verhalten der Polizisten ist dadurch erklärbar, dass die Beamten selbst hochgradig erregt waren und unter einem erheblichen Aufklärungsdruck standen. Außerdem empfand ich, rein subjektiv, die Polizisten als aufdringlicher, als sie es aller Wahrscheinlichkeit nach waren.

Ich persönlich kann sagen, dass mir der Umstand, dass ich der Zeuge zweier, salopp formuliert, unappetitlicher Selbsttötungen wurde, mich von eigenen Suizidplänen abhielt. (Denn "sanfte" Methoden der Selbsttötung, etwa Gift, kamen für mich interessanterweise nie in Frage: "Wenn ich abtrete, dann mit einen Knall und nicht mit einem Wimmern". Das ist keine leere Behauptung, denn ich hatte jahrelang ein Röhrchen mit Kaliumzyanid im Badezimmerschrank stehen - bis ich es dann doch mal beim Problemmüll abgab. In all den Jahren hatte ich nie mit dem Gedanken gespielt, es zu benutzen - aber viele Phantasien, wie ich "mit einem Knall abgehen" könnte.)

Wenn ich in grüblerischen Momenten auf mein bisheriges Leben zurückblicke, dann habe ich schon einige Menschen beim Sterben beobachtet. Außer den beiden Suiziden waren es Unfälle - und zwar seltsam zufällig, völlig "sinnlose", rational nicht zu fassende Unfälle. Weder "technisches Versagen" noch "menschliches Versagen" im Sinne einer groben Fahrlässigkeit war im Spiel - höchsten "ein Moment nicht ausgepasst". So, wie die Insassen des Wohnmobils, dass auf einer Talbrücke von einer plötzliches Windböe über die Mittelleitplanke geweht wurde - in den Gegenverkehr hinnein. Oder der Motorradfahrer, der in voller Fahrt in eine plötzlich geöffnete Fahrertür eines stehenden PKW raste. Oder der betrunkene Passagier eines Fährschiffes, der offensichtlich über die Reling pinkeln wollte, zu diesem Zweck auf eine Kiste mir Schwimmwesten stieg, das Gleichgewicht verlor und in die eiskalte Nordsee kippte. Obwohl das Fährschiff sofort drehte und stoppte (ein echtes Gewaltmanöver) und ein Boot aussetzte, konnte er nur noch tot geborgen werden.
In allen diesen Fälle hätte ich, realistisch betrachtet, nicht mehr helfen können. Trotzdem mache ich mir Vorwürfe - ich hätte "mehr tun sollen als Gaffen oder Wegsehen".

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