Religion, Magie, Mythen

Freitag, 6. Januar 2012

Vorsicht Kanalarbeiter!

Es ist ein uraltes Phänomen, und es ist seit einigen Jahren Mode in der Esoterikszene: das Canneln oder Channeling.

Früher, vor der "New Age-"Welle, nannte man diese Form der Kontaktaufnahme zu andersweltlichen Wesenheiten "Durchsage". Dabei ist das Medium in Trance, aber es ist "es selbst", es wird nicht wie bei einer Invokation von der Wesenheit "besessen" oder, wie im Voodoo, "geritten", und es reist, anders als z. B. ein Schamane, auch nicht in eine "nichtalltägliche Wirklichkeit". Es dient also als Übermittler oder "Kanal" für eine Wesenheit.

Die Medien verweisen oft auf ein einschneidendes Erlebnis in ihrem Leben, seit dem sie nach eigenen Angaben zu andersweltlichen Intelligenzen Kontakt haben – beispielsweise zu Engeln, zu Geistwesen, zu Göttern, zu den Seelen Verstorbener, aber auch zu außerirdischen Raumfahrern. (Stichworte: Kryon und Ashtar Sheran.)
Bemerkenswert ist, dass nicht nur Menschen, die bereits vorher durch Medialität aufgefallen sind, zum "Kanal" werden. Es scheint auch sonst keine besonderen persönlichen Merkmale zu geben, die einen für diese Funktion qualifizieren. Oft werden die Medien völlig überrascht oder überwältigt.
Auch mir selbst ging es so. Ja, ich bin auch so etwas wie ein "Channel-Medium", wenn man so will. An anderer Stelle in diesem Blog kann man darüber bei Interesse einiges Lesen, z. B. hier, hier oder hier. Nein, ich stehe nicht für irgendwelche spirituellen Dienstleistungen zur Verfügung, schon gar nicht für Fremde und erst recht nicht gegen Geld! Ja, ich bin schon gefragt worden. Nein, ich habe keine schizoide Persönlichkeitsstörung.

Munkelmann mit Kaputze und Trinkhorn
Frater M:M im inspirierten Kontakt mit der Entität Methorn (nicht zu verwechseln mit Metatron)

Channeling ist leider auch Geschäftemacherei. Kein Massengeschäft für Telefon-Hotlines und Online-Portale wie Tarot-Legungen, Pendeln, Horoskope usw. Eher verdienen "Kanalarbeiter" Geld in Einzelsitzung und durch Bücherschreiben.
Es ist, etwas Charisma und Menschenkenntnis und ein elastisches Gewissen vorausgesetzt, ziemlich einfach, sich als Channel-Medium auszugeben, man muss, anders als ein Plastikschamane, nicht einmal trommeln können.
Ein "echtes" Medium könnte man theoretisch daran erkennen, ob die Inhalte der Botschaften die alltäglichen Möglichkeiten des Übermittlers übertreffen. Das ist z. B. dann der Fall, wenn ein Medium mit normalerweiser mäßiger Ausdrucksfähigkeit in Trance stundenlang komplizierte Sachverhalte in druckreifer Sprache ausführt. Noch überzeugender wirken Menschen, die in einer Sprache "channeln", die sie eigentlich nicht beherrschen. Aber auch so etwas kann inszeniert werden.

Auch bei ehrlichen Medien kann es für Ratsuchende gefährlich werden. Das Problem liegt darin, dass Channeling-Klienten stärker als etwa Astrologie-Klienten dazu neigen, die Durchsagen als unumstößliche Wahrheiten zu werten. Das liegt meiner Ansicht nach nicht an größerer Leichtgläubigkeit, sondern an der geringer Distanz, sowohl zwischen dem Klienten und dem Medium, als auch zwischen dem Medium und seiner andersweltlichen Quelle. Es stehen keinen astrologischen Berechnungen, keine Tarot-Karten und noch nicht einmal eine Kristallkugel dazwischen.
Selbst die vergleichsweise distanzierten Astrologie-Klienten neigen dazu, von Horoskopen abhängig zu werden. Ein abhängig gewordener Ratsuchender traut sich keine eigenen Entscheidungen mehr zu und muss immer wieder das Orakel, die Karten, die Sterne, das I-Ging usw. befragen. Beim Channeln und beim Spiritismus, der psychologisch gesehen ähnlich wirkt, ist dieses Risiko besonders groß.
Kommerziell orientierte Medien nutzen dieses Abhängigkeitsverhältnis eiskalt aus. Manche "Kanalarbeiter" fördern diese Abhängigkeit absichtlich, indem sie bei regelmäßiger Teilnahme einen spirituellen Aufstieg versprechen. Ein "Geschäftsprinzip", das die kommerzielle Channel-Szene sich offensichtlich bei "Psycho-Sekten" wie Scientology abgeguckt hat.

Eine weitere Gefahr, auch bei ehrlichen Medien und für ehrliche Medien, besteht darin, abzuheben, den Kontakt mit der Alltäglichen Wirklichkeit zu verlieren und sich in wahnhafte Vorstellungen hineinzusteigern.
Der Psychologe und Esoterik-Gegner Colin Goldner geht so weit, schon den bloßen Glauben an die Existenz von Geistwesen, auch innerhalb der etablierten Kirchen, für riskant zu halten. Er hält es für jederzeit möglich, dass Geister- oder Engelgläubige in psychotische Wahnvorstellungen abgleiten. Wobei Goldner die Medien selbst, soweit sie nicht ohnehin Betrüger sind, für von wahnhaften Vorstellungen beherrscht hält. Grundsätzlich begrüße ich Goldners skeptische Haltung, und auch seinen betont materialistischen Ansatz kann ich gut nachvollziehen. Allerdings halte ich ihn auch für einen selbstgerechten und verbohrten Fanatiker.

Mit "gechannelten" Büchern kann man ohne Weiteres ganze Bibliotheken füllen. Der Begriff "Channeling" ist relativ neu, Autoren, die nach eigenen Angaben Kontakt mit "jenseitigen" Wesenheiten hatten, deren Botschaften sie aufschrieben, nicht.
Bekannte historische Buchschreib-Medien sind z. B. Jakob Lorber, der "Schreibknecht Gottes", Helena Petrovna Blavatsky, die Mitgründerin der "Theosophischen Gesellschaft", Emanuel Swedenborg und, hinsichtlich der Produktivität auch unter den notorisch produktiven medialen Autoren herausragend, auch Rudolf Steiner. Großzügiger definiert sind auch alle offenbarten religiösen Texte "gechannelt", z. B. der Koran und das meiste in der Bibel.

Einige Bestsellerautoren unter den "Kanalarbeitern" verdienen mit Hilfe ihres "gutes Geistes" Millionen.
Dem Erfolg des heute fast vergessenen "Autorenteams" aus Jane Roberts und einer sich Seth nennenden Wesenheit in den 1970er Jahren folgten unzählige Nachahmer. Allerdings hielt Jane Roberts selbst es immer für möglich, dass Seth eine Personifizierung eines überbewussten Teils ihrer normalen Persönlichkeit sein könnte, also ihrem Unterbewusstsein entstammen könnte. Diese selbstkritische Haltung ist unter den "Channelern" nach meinem Eindruck eine seltene und löbliche Ausnahme. Davon abgesehen ragt die anspruchsvolle Metaphysik im "Seth-Material" auch inhaltlich aus der Masse der "gechannelten" Botschaften heraus. Egal, ob aufgestiegene Meister aus Atlantis, Nostradamus, Albert Einstein, Metatron, Jesus, Außerirdische vom fünften Planeten des Aldebaran oder nur die verstorbene Großmutter gechannelt werden, oder ob ein Medium Einblick in die Akasha-Chronik oder das Buch mit den sieben Siegeln zu haben behauptet - kanalisierte Botschaften laufen nach meinem Eindruck fast immer auf dasselbe hinaus: Wir gehen schweren Zeiten entgegen, und wie müssen uns dringend ändern, wenn wir uns weiterentwickeln oder, bei den nicht seltenen Weltuntergangspropheten unter den gechannelten Wesenheiten, überleben wollen. Die Texte der Wesenheiten unterscheiden sich bei den konkrete Aussagen, im Weltbild und, bei den Apokalyptikern unter der Kanalarbeitern, in der Art der finalen Katastrophe. Gemeinsam ist den meisten eine tiefe Belanglosigkeit, verbunden mit ausgeprägtem Wortreichtum. Das Ganze garniert mit dem in der esoterischen Literatur üblichen Licht- und Liebe-Zuckerguss.
Da frage ich mich doch, wozu man für solche Banalitäten den Kontakt zu Wesenheiten aus der nichtalltäglichen Wirklichkeit braucht!

Es mag unfair sein, und ich räume ein, dass meine Stichprobe an gelesenen kanalisierten Schriften für valide Aussagen zu klein ist, aber mir liegen bei neun von zehn "gechannelten" Botschaften Stoßseufzer wie "schade um das Papier","dafür mussten Bäume sterben" oder, wenn die "Botschaften von oben" in elektronischer Form vorliegen, "spiritueller Spam" auf der Zunge, und meistens noch die quälende Frage: "Verdammt, warum ich verschwende meine Zeit, um diesen Blödsinn zu lesen?"
(Um einige Namen von Kanalarbeitern zu nenne, die ich besonders nervig finde: Judith Z. Knight, Thomas Nagel und natürlich Lee Carroll und Barbara Bessen.)

Dabei möchte ich mediale Durchsagen nicht in Bausch und Bogen ablehnen, und nicht nur deshalb, weil ich mir damit sozusagen ins eigene Fleisch schneiden würde. (Was mir nebenbei auch egal wäre.)
Der Übergang zwischen Inspiration und medialem Kontakt ist fließend.
Künstler, darunter natürlich auch Schriftsteller, sind meistens sehr spirituell, selbst wenn sie überzeugte Atheisten sind. Ich gehe so weit, zu behaupten, dass Kunst, die diesem Namen verdient, eine spirituelle Tätigkeit ist: In dem Moment, in dem so etwas wenig Fassbares wie Inspiration oder Intuition ins Spiel kommt, ist der schöpferische Prozess spirituell, inspiriert.
Dabei ist es für das Werk völlig egal, ob die Künstler sich nur von einer Muse geküsst fühlen oder einen "Geistesblitz" haben, oder den Eindruck, mit einer realen, mit eigener Persönlichkeit versehenen Wesenheit im Kontakt zu stehen. Auch Wissenschaftler oder Erfinder können inspiriert sein.
Egal, ob Götter, Daimonen, Engel, aufgestiegene Meister, das kollektive Unbewusste oder das persönliche Unterbewusstsein die Quelle der Inspiration ist, kommt es auf das inspirierte Werk selbst an. Nicht jeder, der Inspiriert ist, schafft großartige Kunstwerke, geniale Erfindungen, oder tiefsinnige Einsichten, und nicht jeder Künstler, Denker oder Erfinder ist inspiriert.
Ich bin sogar der Ansicht, dass es ohne Inspiration keine wirkliche Kreativität gibt, und das ungeachtet der alten Faustregel, dass kreatives Schaffen zu 99 % Transpiration und nur zu 1 % Inspiration ist. Es geht meiner Ansicht nicht ganz ohne Inspiration von "außerhalb" der Alltagspersönlichkeit, jedenfalls dann nicht, wenn das Endergebnis in irgend einer Weise originell sein soll.
Es fällt mir jedoch immer wieder auf, dass sehr religiöse bzw. fromme Menschen, vor allem Fundamentalisten, oft auffallend phantasielos und unkreativ sind. Das gilt übrigens auch für dogmatische Esoteriker. Es gilt auch für Möchtegerns, Wichtigtuer und die meisten Scharlatane. Die Einfallslosigkeit der meisten angeblich gechannelten Botschaften spricht meiner Ansicht nach für sich.

Wer channelt oder sich sonstwie als Medium betätigt, sollte niemals die Selbstkritik und die Fähigkeit, Kritik zu akzeptieren, über Bord geben. Zu viel Skepsis tötet die Inspiration, aber ein völliger Mangel an Skepsis macht sie regelmäßig wertlos.

Wahrscheinlich sind sehr viele, wenn nicht die meisten angeblich gechannelten Botschaften schlicht Täuschung.
Wenn sie keine Täuschung sind, können sie Selbsttäuschung sein. Das müssen keine wahnhaften Vorstellungen sein - manchmal reichen Wunschdenken oder starke Erwartungshaltungen aus.
Wenn Täuschung und Selbsttäuschung ausgeschlossen werden kann, sollten Medien und ihre Klienten es wie seinerzeit Jane Roberts machen und immer an die Möglichkeit denken, dass die "anderweltlichen" Botschaften aus dem Unterbewusstsein stammen könnten. Das macht sie keineswegs wertlos, wenn die Botschaften selbst inhaltlich wertvoll sind.
Was Medien und ihre Kunden regelmäßig übersehen, ist, dass selbst wenn die kanalisierten Botschaften von "drüben" oder "oben" stammen sollten, nicht gesagt ist, dass der jeweilige "aufgestiegene Meister", Engel, verstorbene Urahn oder verstorbene große Mensch der Weltgeschichte auch derjenige ist, für den er sich ausgibt: "Jaaaa, selbstverständlich bin ich Napoleon (unterdrücktes astrales Kichern)."
Am ehesten räumen noch religiös denkende Medien diese Möglichkeit ein - nur meistens leider nicht bei sich selbst. Die Warnung, dass eine konkurrierende und womöglich abweichende Offenbarung vom Teufel komme, gehört zum Standardrepertoire religiöser Propheten.
Es ist auch seltsam, wie viele Medien und Medien-Klienten vor allem aus dem spiritistischen Umfeld daran glauben, dass ein dummer oder bösartiger Mensch nur dadurch zum Quell der Weisheit oder der Güte und Liebe würde, indem er stirbt.

Am einfachsten - wenn auch oft frustrierend (siehe oben!) - ist es, sich mit dem übermittelten Material selbst auseinanderzusetzen. Ist das Niveau hoch, lohnt es eine nähere Beschäftigung, selbst bei so notorisch wenig selbstkritischen Medien wie Rudolf Steiner oder zwielichtigen Gestalten wie dem genialen Hochstapler Aleister Crowley.

Freitag, 31. Dezember 2010

Zauberei und Wissenschaft (ungereimte popkulturelle Gedankensplitter zum Jahreswechsel)

Jede hinreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.
Arthur C. Clarke
Jede hinreichend fortgeschrittene Magie ist von Technologie nicht zu unterscheiden.
Larry Niven
Was der eine Zauberei nennt, ist für den anderen Technik. "Übernatürlich" ist ein leeres Wort.
Robert A. Heinlein

Diese drei "Altmeister" der Science Fiction haben meiner Ansicht nach völlig recht.

Your ancestors called it magic. You call it science. I come from a place where they're one and the same.
Deine Vorfahren nannten es Magie. Du nennst es Wissenschaft. Ich komme von einem Ort wo sie ein und dasselbe sind.
(Aus dem Trailer für den Film "Thor".)

Wenn Clarke, Niven und Heinlein recht haben, dann ist Zauberei auch in Midgard, der Welt der Menschen, eine Art angewandte Wissenschaft, sprich Technik.

Allerdings, in Books of Magic lässt Niel Gaiman den "Phantom Stranger" sagen:
bom-steam
The difference in viewpoint. Science is a way of talking about the universe in words that bind it to a common reality. Magic is a way of talking to the universe in words that it cannot ignorore. The two are rarely compatibel.
Der Unterschied im Standpunkt. Wissenschaft ist eine Art über das Universum zu sprechen, die es an eine gemeinsame Realität binden. Magie ist eine Art zum Universum in Worten zu sprechen, die es nicht ignorieren kann. Die beiden sind nur selten vereinbar.

Ich bin der Ansicht, dass der "Phantom Stranger" recht hat - und zwar hinsichtlich der Denkweise.
Beim Anwenden wissenschaftlicher - (oder magischer?) Gesetzmäßigkeiten ist die dahinter stehende Denkweise nicht weiter wichtig. Man muss die Quantenphysik nicht begriffen haben um einen Flash-Speicher konstruieren zu können - und selbst wenn man noch nie von Quantenphysik gehört hat, kann man eine Speicherkarte oder einen USB-Stick benutzen. (Flash-Memory ist eine besonders gute Illustration für Clarkes "Gesetz", denn ein Physiker auf dem Wissenstand des Jahres 1900 hätte beweisen können, dass so ein Gerät nicht mit den Naturgesetzen vereinbar wäre, also "Zauberei" sein müsse. Und ein Physiker auf dem Stand des Jahres 1960 hätte eingeräumt, dass so ein Gerät vielleicht von den Gesetzen der Quantenmechanik her möglich sein könnte, aber es nicht einmal theoretisch eine Möglichkeit gäbe, so etwas zu bauen.)
Flash-Memory könnte, aus Anwendersicht, ebenso gut mit Mana aufgeladen sein, sich dienstbarer Dämonen bedienen oder auf der ominösen "Macht" der Star Wars-Universum beruhen. Umgekehrt brauche ich das "schamanisches Weltbild" nicht zu verstehen, um durch schamanische Techniken (!) von einem Leiden befreit zu werden.

Daher haben Clarke, Niven und Heinlein nur bezogen auf die reine Anwendung recht, eben "Technik".
Die wissenschaftliche Weltsicht, die sich nicht nur auf die Naturwissenschaften beschränkt, und die magische Weltsicht (nicht zu verwechseln mit dem "magischen Denken", wie es bei kleinen Kindern vorkommt) sind nur selten vereinbar.

Jedenfalls noch.

Gedanken über Magie (2)

Kennzeichen des wissenschaftlichen Denkens "westlicher" Tradition ist das Streben nach Allgemeingültigkeit. In der Mathematik und in den Naturwissenschaften ist das - meistens - kein Problem. In den Gesellschaftwissenschaften ist das eher fragwürdig - ohne jetzt einem radikalen Relativismus das Wort reden zu wollen.
Völlig auf dem Holzweg dürften die linearen, teleologischen (auf ein Ziel gerichteten) Geschichtserzählungen sein, die vom Aufstieg des Menschen, dem Sieg des Kapitalismus und dem "Ende der Geschichte", dem Untergang des Abendlandes usw. usw. erzählen. Die schaffen schon in der Biologie nur Verwirrung: die Evolution hat keine Absicht, kein Ziei. "Intelligent Design" / Kreationismus stammt meiner Ansicht nach aus der tief auch im wissenschaftlichen Denken des "Westens" verankerten Denken in linearen Kausalketten. Es gibt keinen Determinismus in der Geschichte. Noch nicht einmal in der Naturgeschichte.

Kennzeichen jeder Magie ist es, die Wirklichkeit / eine Wirklichkeit durch Wollen zu beeinflussen. Weitergedacht stellt schon der freie Wille an sich eine Form der Magie da. Polemisch formuliert: wer glaubt, einen freien Willen zu haben, denkt magisch.

Trotz der bekannten "Dialektik der Aufklärung" - Adorno und Horkheimer beschrieben, wie die "instrumentelle Vernunft" an ihr Ende kommt und in einen neuen Mythos umschlägt - sehe ich die Aufklärung als nötig und positiv an.
Sie ist allerdings mit Magie nicht verträglich. Inkompatibel.
Was nicht bedeutet, dass ein Zauberer, ein Schamane, ein Mystiker notwendigerweise das aufgeklärte Danken zurückweisen muss, um Zauberer, Schamane, Mustiker zu sein. Das ist der Irrtum der meisten Okkultisten / Esoteriker - und fast allen Theologen.

Was folgt daraus, für den Alltag? Entscheidungszwänge á la "entweder-oder" kritisch hinterfragen. Es gibt auch "sowohl-als-auch", "irgendwo dazwischen", "keines von beiden" und gar nicht einmal so selten das scheinbar paradoxe Phänomen, dass etwas zugleich und ganz und gar das Eine (etwa ein Teilchen, klassisches naturwissenschaftliches Beispiel) und zugleich ganz und gar das Andere (etwa eine Welle) ist.
Spätestens seit dem Strukturalismus (und natürlich erst recht nach dem Post-Strukturalismus im Sinne Foucaults) lässt sich, ohne in ethische Beliebigkeit zu verfallen, sagen, dass "Gut-Böse"-Kategorisierungen nicht allgemeingültig sein können. (Na ja, im Grunde ist diese Erkenntnis seit Schopenhauer oder spätestens seit Nietzsche ein alter Hut.) Es ist hilfreich, sie ersatztlos zu streichen.
Besser ist es, sich selbst Ziele zu setzen, freiwillige Ziele, um diese Welt ein klein wenig weniger unerträglich für seine Bewohner zu machen. Die Menschenrechte sind z. B. nicht "von Natur aus" universell, aber sie sind das notwendige Korrektiv zur instrumentellen Vernunft. Und da die instrumentelle Vernunft der modernen Industrie- und Informationsgesellschaft über die ganze Erde ausgebreitet hat, ist es nötig, den Menschenrechte ebenfalls für alle Menschen Geltung zu verschaffen.

Freitag, 22. Oktober 2010

Ein paar Worte zu Rudolf Steiner

Von der Anthroposophie geht eine seltsame, beinahe magische Wirkung aus: sie ist ungemein polarisierend. Manchmal habe ich den Eindruck, dass es nur drei Gruppen gibt: begeisterte Anhänger, angewiderte Gegner - und die, die noch nie etwas von Anthroposophie gehört haben. Wer nicht zu einer dieser drei Arten Mensch gehört, sitzt zwischen allen Stühlen. Wie ich. (Was mir, siehe das Motto dieses Blogs "Freiraum ist der Raum zwischen den Stühlen", nichts ausmacht.)

Da es aber offensichtlich Anthroposophen gibt, die mich für einen Anthroposophen-Fresser halte, halte ich es für angemessen, einmal in groben Zügen darzulegen, was ich vom Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, halte.
Auch wenn ich gerne Waldorf-Salat esse, macht mich das schwerlich zum Anthroposophen-Fresser.
"Friida" hielt es für Quatsch, dass ich Steiner als durchaus völkisch bezeichnete.
"Waldi", meiner Ansicht ein klassischer Troll, behauptete, ich würde die Anthroposophie "Ariosophie light" nennen.
Netter Versuch, aber offensichtlich hapert es da mit dem Textgedächtnis. Der entsprechende Abschnitt in Des “listigen Guidos” Erben (4) – Ariosophen heute: Unterwandern und Verbünden geht so (der falsch erinnerte Satz ist gefettet):
Das andere potentielle Einfallstor ariosophischen Denkens in die „Öko-Ecke“ könnten die Anthroposophen sein, die wesentliche Kernsätze der theosophischen Weltsicht – wie die „Wurzelrassenlehre“, der Glaube an eine globalen Urreligion und das hierarchische Weltbild – in abgeschwächter Form enthalten. (Einige Kritiker sprechen auch von „Theosophie light“.) Allerdings sollten die Anthroposophen, die als Vorkämpfer der ganzheitlichen Medizin und Erziehung und vor allem des ökologischen Landbaus („biologisch-dynamische Landwirtschaft“) mit Recht einen guten Ruf beim ökologisch und „alternativ“ gesonnenen Teil der Bevölkerung genießen, nicht als potentielle „Fünfte Kolonne“ der Ariosophie verdächtigt werden. Es wäre aber zu begrüßen, wenn die Anthroposophen mit ihrem problematischen geistigen Erbe deutlich kritischer umgehen würden. Das gilt natürlich auch für die heute noch aktiven theosophischen Vereinigungen.
Das ist, denke ich, zwar eine herbe Kritik, aber bei weitem nicht feindselig - denn meine Kritik richtet sich in ersten Linie an "versteinerte" Anthroposophen, die Steiner offensichtlich so lesen, wie Fundi-Christen ihre Bibel lesen.

Rudolf Steiner hat meiner Ansicht nach viele Verdienste. Er war ein ungewöhnlich vielseitiger Denker. Er betätigte sich als Reformpädagoge (Waldorf-Pädagogik), Sozialreformer (Soziale Dreigliederung), als Künstler (Architektur, Bewegungskunst, Sprachgestaltung),und begründete die Anthroposophische Medizin und die biologisch-dynamische Landwirtschaft. Was immer man von den den steinerschen Lehren halten mag, unbestreitbar waren und sind sie einflussreich.

Noch in seiner "theosophischen Zeit" übte Steiner scharfe Kritik an der Ariosophie, vor allem an deren Rassenlehre. Das wiegt umso schwerer, da Steiner die Hauptvertreter der Ariosophie, "von" List und Lanz "von Liebenfeld", persönlich kannte und sich intensiv mit deren Gedankengebäuden auseinander gesetzt hatte.
Steiner übernahm zwar die Wurzelrassenlehre Blavatskys, modifizierte sie später jedoch - in seinen späten Veröffentlichungen tauchten die Wurzelrassen nicht mehr auf. Steiner führte an ihrer Stelle die weniger problematischen Begriffe "Epoche", "Hauptzeitraum" bzw. "Zeitalter" ein. Zwar blieb das anthroposophische Menschenbild hierarchisch, aber gegenüber der meiner Ansicht nach eindeutig den Rassismus des Kolonialzeitalters widerspiegelnden Konzept Blavatskys (die das "Verschwinden" von "primitiven Völkern" für natürlich und gut hielt) ist das ein nicht zu vernachlässigender Fortschritt.
Steiner war entschiedener Anti-Antisemit. Anfang des 20. Jahrhunderts war Steiner Mitglied im "Verein zur Bekämpfung des Antisemitismus" und bezeichnete den Antisemitismus als eine "Kulturkrankheit", die aus einer Gesinnung hervorginge, gegen die nicht deutlich genug Stellung bezogen werden könne. Anderseits bezeichnete Steiner das Judentum als "überholt", war Antizionist, und forderte die Assimilation der Juden ein.

Es gibt, bei allen sympathischen Seiten, allerdings etwas, das mich sehr an Steiner stört:
Rudolf Steiner hielt sich sich offensichtlich für den größten Visionär aller Zeiten. Damit einher ging ein völliger Mangel an Selbstkritik.

Steiner änderte mehrmals die Richtung seines Denkens. Die deutlichste Zäsur war sein Übertritt zur Theosophie im Jahr 1900. Vorher war er Individualist, Positivist und scharfer Kritiker des Christentums - danach (im heutigen Sprachgebrauch) Esoteriker. Nicht ganz so ausgeprägt ist der Bruch, den sein Austritt aus der Theosophischen Gesellschaft und die Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft 1912 bedeutete. Steiner selbst sah sein theosophisch und anthroposophisch geprägte Spätwerk als konsequente Weiterentwicklung seiner frühen philosophischen Ansätze und bagatellisierte die offenkundigen Widersprüche als "scheinbar" oder "vordergründig". Das mag auf einige seiner Gedankengänge zutreffen. Es ist aber meines Erachtens nicht plausibel, dass die von Steiner gegründete "Christengemeinschaft", eine zwar deutlich mit den Traditionen der großen christlichen Kirchen brechende, nichtsdestotrotz aber eindeutig christliche Religionsgemeinschaft, eine konsequente Weiterentwicklung seiner an Nietzsche geschulten Ablehnung des Christentum sein soll.

Ich habe den Eindruck, dass Steiner jede Inspiration, die er hatte, für genial hielt. Schließlich hatte er, wie er behauptet, Einblick in die Akasha-Chronik.
Selbst wenn ich annehme, dass das wahr wäre - was ich nicht tue, ich halte Steiner zwar für inspiriert, die Idee einer allumfassenden und dennoch vom menschlichen Verstand erfassbaren "Weltenchronik" aber für naiv - heißt das noch lange nicht, dass er auch alles richtig verstand, was er in der Akasha-Chronik las.
Weil er Einblick in die Akasha-Chronik hatte, konnte Steiner nach eigener Angabe zu jedem Thema die Wahrheit verkünden. Das geht über das Dogma der "Unfehlbarkeit" der Papstes hinaus, der nach römisch-katholischer Auffassung allein in Fragen der Glaubens- (oder Moral-)Lehre unfehlbar sei, und auch das nur dann, wenn der Papst mit höchster Lehrgewalt (ex cathedra) spricht.
Diesen Anspruchs Steiners, alles für wahr zu halten, was er im Zustand der Inspiration erfahren hatte, halte ich für vermessen und wahrscheinlich wahnhaft. Um es deutlich zu sagen: das ist ein totalitärer Anspruch. Allerdings war Steiner der Ansicht, dass seine Wahrheiten nicht in einem Widerspruch zur empirischen Wissenschaft stünden. Sie seien vielmehr intersubjektiv überprüfbar. Damit öffnete Steiner seine Lehre dann doch wieder der Kritik und verzichtete auf die bei anderen Esoterikern so beliebte Immunsierungsstrategie nach dem Motto: "Wenn sich meine Lehre und die Wirklichkeit widersprechen, ist das um so schlimmer für die Wirklichkeit." Viele seiner Aussagen sind falsifizierbar und manche sind falsifiziert.
Auch deshalb habe ich wenig Verständnis für "versteinerte" Anthroposophen, die offensichtlich jedes Wort Steiners für eine Offenbarung halten.

Ich räume ein, dass ich nicht allzu viel von Steiner gelesen habe. Rudolf Steiners Werk umfasst 42 Bände mit Schriften und etwa 6.000 Vorträge. Es ist allerdings bei vielen Vorträgen umstritten, wie authentisch die Niederschriften sind.
Wenn ich behaupten würde, ich hätte auch nur einen ungefähren Überblick über sein Gesamtwerk, wäre das eine offensichtliche Lüge. (Einen Eindruck, wie produktiv Steiner war, gibt die Freie Verwaltung des Nachlasses von Rudolf Steiner.)
Allerdings fällt mir bei allen Schriften Steiners, die ich las, auf, wie oft er Unvereinbares und Widersprechendes einfach nebeneinander stehen lies. Z. B. stehen in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft sehr vernünftige und empirisch nachprüfbare Vorschriften neben Ratschlägen, die ich nur als befremdlich bezeichnen kann (und das obwohl ich das Konzept "Magie" keineswegs in Bausch und Bogen ablehne). Legt man, wie Steiner es selbst nahelegte, naturwissenschaftliche Maßstäbe an die biologisch-dynamische Landwirtschaft an, dann steckt sie voller Pseudowissenschaft.
Bei Steiner findet man rassistische und antirassitische Textstellen, Steiner erscheint manchmal als politisch "Linker", manchmal als "Rechter", manchmal als rationaler Verstandesmensch, manchmal als tiefer Mystiker - und manchmal als abgedrehter Spinner.
Noch komplizierter wird es, weil seine Anhänger (oder "gläubige Jünger"?) offensichtlich alles und jedes für aufbewahrenswert hielten, was Steiner äußerte. Auch dann, wenn Steiner anscheinend einen schlechten Tag hatte, offensichtlich Dinge durcheinander bekam, sich falsch erinnerte usw. usw. : Kein Wort sollte verloren gehen (und geredet hat Steiner viel).

Steiner hat viel Kluges, aber - was nur menschlich ist - auch viel Dummes von sich gegeben. Er ist als künstlerischer "Anreger" wichtig, aber es wäre übertrieben, ihm (wie einige Anthroposophen das tun) einen überragenden Einfluss auf die die Kunst der Moderne zuzuschreiben.
Auch die Bedeutung seiner naturwissenschaftlichen, landwirtschaftlichen, pädagogischen oder medizinischen Erkenntnisse werden meiner Ansicht nach gern überschätzt. Er war ein kreativer Denker, aber ein kreativer Denker, beim dem es mit der Selbstkritik nicht weit her war, muss, denke ich, unbedingt kritisch gesehen werden.
Ein Beispiel: Rudolf Steiner soll sechs Jahre vor Schrödinger selbst die Schrödingergleichung gefunden haben, womit er quasi der "Erfinder der Quantenmechnik" wäre. Offensichtlich schrieb Steiner eine Gleichung intuitiv an die Tafel, die der Schrödinger-Gleichung entsprach. Allerdings ist auch die (1920 längst bekannte) Wärmeleitgleichung formal äquivalent zur Schrödingergleichung. Solange die enthaltenen Größen nicht genau beschrieben sind - und das sind sie anscheinend nicht - könnte die Steinersche Formel alles mögliche beschreiben. Steiner mag einen genialen Einfall gehabt haben (oder eine geniale Inspiration), aber er hat meines Erachtens Schrödinger ebenso wenig vorweggenommen, wie Jules Verne das Apollo-Projekt, trotz vieler verblüffender Parallelen.

Sonntag, 12. September 2010

Was ist Kreationismus?

Man kann es sich einfach machen und die wikipedia konsultieren: Kreationismus. Darin heißt es:
Der Kreationismus (von lat. creare „erschaffen“) ist die Auffassung, dass die wörtliche Interpretation der Heiligen Schriften der abrahamitischen Religionen (insbesondere 1. Buch Mose) die tatsächliche Entstehung von Leben und Universum beschreibt.
Womit schon einmal deutlich zwei von Kreationisten gern verschleierte Tatsachen ausgesprochen sind:
  1. Kreationismus hängt mit der wörtlichen Interpretation der heiligen Schriften zusammen - dass heißt: es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Kreationismus und Fundamentalismus. Ohne die Bereitschaft, mythologische Texte als naturwissenschaftliche Tatsachen zu betrachten, funktioniert Kreationismus nicht. Das trifft sogar für "weiche" Formen des Kreationismus wie dem "Alte-Erde-Kreationismus" zu.
  2. Es handelt sich um die wörtliche Interpretation der heiligen Schriften der abrahamitische Religionen. Kreationismus (im engeren Sinne) ist tatsächlich eine "Spezialität" der drei großen monotheistischen Religionen.
Intelligent Design ist sozusagen "Kreationismus light" in (pseudo-)wissenschaftlicher Verpackung. Abgesehen davon reduziert sie den im klassischen Kreationismus noch großartigen Schöpfergott auf die Rolle eines Lückenbüßers. I. D. lebt davon, dass es Lücken in der wissenschaftlichen Erkenntnis, zum Beispiel in der neodarwinistischen Evolutionstheorie, gibt. Diese Lücken können, glaubt man I.D.-Anhängern, nur mit dem Wirken eines intelligenten Designers (alias Gott) gefüllt werden,was wiederum die Existenz Gottes (aka eines intelligenten Designers) bewiese. (Wäre ich ein Gott, wäre ich mit dieser Lückenbüßerfunktion ausgesprochen unzufrieden. Außerdem würde mit jeder neuen wissenschaftlichen Erkenntnis mein Zuständigkeitsbereich kleiner. Mal ganz religiös gefragt: was für ein jämmerliches Gottesbild haben I.D.ioten?)

Dieses Video der AG Evolutionsbiologie belegt am Anfang, welche Befunde der Naturwissenschaft den klassischen Kreationismus widerlegen. Sie zeigen dabei auch, auch wenn es wahrscheinlich nicht die Absicht der AG EvoBio war, wie kleinkariert die Gottesvorstellung der klassischen Kreationisten ist: ein Gott wie aus dem Kasperletheater.
Kurz gesagt ist Kreationismus meiner Ansicht nach nicht nur eine schlechte Parodie auf Naturwissenschaft, sondern auch noch erbärmlich schlechte Theologie. (Wie es überhaupt für Fundamentalisten typisch ist, dass sie nicht allzu viel über die eigene Religion wissen.)


Im zweiten Teil werden einige populäre Argumente gegen die Evolutionstheorie entkräftet, die hauptsächlich aus der Feder der kreationistischen Vereinigung "Wort und Wissen" stammend.

Ein Kritikpunkt an diesem informativen Video ist allerdings, dass der zweite Teil auf die Argumente der "Kreationisten light", also I.D-Anhängern abzielt. Da fehlt mir ein Übergang.

Etwas vertieft, auch von der AG EvoBio: Dieses Video geht auf die Argumente des islamischen Kreationisten Harun Yahya ein, die sich auch bei christlichen Evolutionsgegnern finden.
Evolution: Irrtümer und Beweise 1
Irrtum 1: "nur eine Theorie"
Irrtum 2: "Überleben des Stärkeren"
Irrtum 3: "Drang zum Höheren"
Irrtum 4: "Es gibt keine Übergangsformen, und sie müssten Krüppel sein"
Irrtum 5: "Die Evolutionstheorie stützt sich auf Haeckels Fälschungen"
Beweis 1: Verteilung der Fossilien in den Gesteinsschichten.
Beweis 2: Endogene Retroviren
Beweis 3: verkümmerte Organe
Beweis 4: Übergangsfossilien mit "halbfertigen" Organen

Evolution: Irrtümer und Beweise 2
Irrtum 6: "Der Nationalsozialismus war eine Folge der Evolutionslehre"
Irrtum 7: "Fossilien widerlegen die Evolutionslehre"
Irrtum 8: "Die Evolution ist nicht bewiesen"
Irrtum 9: "Irreduzible Komplexität ist ein Problem für die Evolutionstheorie"
Beweis 5: Pseudogen für Vitamin C
Beweis 6: Pseudogene für Geruchsrezeptoren bei Walen

Ergänzung:
Die hervorragende ARTE-Doku über Kreationisten "Von Göttern und Designern" auf YouTube (2008):
Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4
Teil 5

Sonntag, 5. September 2010

Spiritualität (und Religiosität)

Vor einige Tagen machte Joy eine wichtige Anmerkung: Der Unterschied von Spiritualität und Religion würde eigentlich nie deutlich genug gemacht.

Das stimmt. Ich weise zwar oft darauf hin, dass Spiritualität und Religion nicht dasselbe sind, aber wirklich definiert habe ich das bisher nicht.

Ganz einfach ist das nicht, denn der Gebrauch der Worte "Religion" und "Spiritualität" ist alles andere als einheitlich.
Theologen - vor allem der christlich-konservativen Richtung - setzen Religiosität und Spiritualität oft gleich oder sind der Ansicht, dass Spiritualität etwas sei, was sich aus der Religiosität ergäbe. In diesem Verständnis ist Spiritualität etwa gleichbedeutend mit Frömmigkeit.
Anderseits wird Spiritualität aus psychologischer Sicht oft als mehr oder minder bewusste Beschäftigung mit Sinn- und Wertfragen des Daseins gesehen. Damit wäre jeder über die alltägliche Notwendigkeiten, Triebbefriedigung und simple Zerstreuung hinausdenkender und hinausempfindender Mensch spirituell - einschließlich materialistischer Philosophen. Etwa üblicher ist es, als "spirituell" alles zu sehen, was sich auf eine immaterielle, nicht sinnlich fassbare Wirklichkeit (Gott, Götter, Wesenheiten, Geister, "Kräfte" usw.) bezieht, die dennoch erfahr- oder erahnbar wäre. Das Problem bei dieser Sichtweise ist, dass damit auch "Sinnangebote", die oberflächlich, leicht konsumierbar und inhaltlich weitgehend beliebig sind, unter Spiritualität fallen - einer "Spiritualität", wie sie vor allem in der Esoterik-Szene, aber auch unter "Feiertagschristen" gepflegt wird.
Das ruft wiederum - so sicher wie das "Amen" in der Kirche - die "Verteidiger des Glaubens" auf den Plan, die eine "Wohlfühl-Spritualität" heftig kritisieren, die an Gott - und damit "der Verantwortung vor Gott" und damit wiederum an "Moral" - nicht wirklich interessiert sei. Eine unverbindliche Spiritualität, die einfach nur "gut tut wie der frisch gebrühte Kaffee am Morgen", wie es vor gut zwei Jahren in einem ziemlich alarmistischen Artikel aus katholischer Sicht in der "Rheinischen Post" stand: Was glaubt, wer nicht glaubt.
Womit wir wieder bei der Ansicht wären, dass Spiritualität (jedenfalls "echte" und "ernsthafte") sich aus der frommen Religionsausübung ergäbe.
Hinzu kommt noch, dass die Begriffe "Religiosität" und "Spiritualität" vor allem in der englischen Alltagsprache oft synonym gebraucht werden.

Eine sehr brauchbare und nachvollziehbare Definition von "Spiritualität" und "Religion" fand ich in dem Buch Gott, Gene und Gehirn vom Wissenschaftsjournalisten Rüdiger Vaas und dem Religionswissenschaftler Dr. Michael Blume. (In ihrer Einführung sprechen die Autoren übrigens über "Götter, Gene und Gehirne", was ich als Polytheist natürlich begrüße.)

Die beiden Autoren legen Wert darauf, dass Religiosität und Spiritualität gerade in der empirischen und evolutionären Religionsforschung zunehmend unterschieden würden, und widmeten dieser Unterscheidung daher ein ganzes Kapitel.

Religiosität ist das Verhalten von Menschen gegenüber "übernatürlichen" (im Sinne von naturwissenschaftlich nicht verifizierbar oder falsifizierbare) Akteuren wie Ahnen, Geister, Göttern, Gott. Damit greifen Vaas und Blume auf eine schon von Charles Darwin in seiner "Abstammung des Menschen" von 1871 formulierte Definition zurück. Die relevante Existenz von Ahnen, Geistern, Göttern, Bodhisatvas, Gott (u.a.) wird hierbei angenommen und wirkt sich auf die inneren Erfahrungen und das Verhalten aus. Dabei treten biologische Veranlagung und kulturelle Traditionen in Wechselwirkung.

Religiosität, verstanden als Verhalten zu "übernatürlichen" Akteuren ist gemäß Vaas/Blume (und ich stimme da völlig mit ihnen überein) nicht identisch mit dem Monotheismus. Ahnen, Tier-, Natur- und Menschengeister, die Götter der polytheistischen Religionen, Heilige, Bodhisatvas, aber auch geglaubte Kontakt-Außerirdische werden als wirkmächtige und ggf. rituell zu beeinflussende Personalitäten geglaubt, ohne dass sich deren Existenz verifizieren oder falsifizieren ließe. Dieser Hinweis ist wichtig, da sowohl Religionsverteidiger wie Religionskritiker oft dazu neigen, sich Religionsbegriffe je nach Vorliebe zurechtzubasteln.

Spiritualität beschreiben Vaas und Blume, nachdem sie darauf hinwiesen, dass sich in der interdisziplinären Evolutionsforschung zur Spiritualität ein Konsens herausgebildet hätte, so:
Spiritualität sei die Fähigkeit zu Transzendenzerfahrungen, biologisch unterschiedlich stark veranlagt und kulturell ausprägbar. Unter Transzendenzerfahrung sind hierbei Erweiterungserfahrungen zu verstehen: Die Betreffenden erfahren sich als Teil eines "größeren Ganzen", in dem "keine Grenzen mehr sind", ja, "alles als Eines" erkannt werde. Etwas weniger anspruchsvoll: Spiritualität beschreibt das Verhalten zu "außeralltäglichen" Erfahrungen, wie Entgrenzungs- und Alleinheitserfahrungen, Visionen etc..

Dabei gäbe es Menschen, die sich als tief religiös verstehen, ohne jemals spirituelle Erfahrungen gesucht zu haben und andere, die sehr spirituell orientiert sind, ohne religiös zu sein.

Erste, aber noch vorläufige Befunde z.B. unter Kirchenmitgliedern und auch Pfarrern deuten sogar auf eine Glockenverteilung der Spiritualität hin. Im Buch wird ein 20-Fragen-Ausschnitt des TCI-Tests von Robert Cloninger vorgestellt, den Blume und Vaas z.B. bei (evangelischen) Pfarrerseminaren testeten. Dabei kam tatsächlich eine Glockenkurve heraus - oft lag eine gewisse oder auch stärkere Spiritualität vor, selten eine völlige Abkehr oder aber massive Ausprägung.
Demnach kann sehr wenig Spiritualität ein Hinderungsgrund für religiöse Vergemeinschaftung sein - weil das Ritual, der Gottesdienst ggf. "stumm" bleiben. Das ist es vermutlich, was Max Weber meinte, als er sagte, er sei "religiös unmusikalisch": es fehlt einfach der Sinn fürs Transzendente. .
Umgekehrt kann auch eine sehr ausgeprägte Spiritualität ein Grund sein, sich keiner Religionsgemeinschaft anzuschließen. Intensive, individuelle Spiritualität lässt sich nur schwer in einen gemeinschaftlichen und lehramtlichen Rahmen einpassen. Die großen christliche Kirchen tun sich mit Mystikern und Charismatikern in der Regel sehr schwer. Der Umgang der Religion mit Spiritualität schwankt zwischen Verfolgung und Integration (z.B. in Form kontemplative Orden). Traditionen wie dem Buddhismus fällt die Integration in der Regel leichter. Monotheistische Traditionen stehen dabei vor dem Problem, dass "zuviel" All-Einheit die Gottheit in einem Pantheismus auflöst und damit ihrer Majestät und Handlungsrelevanz entkleidet.
Blume vermutet, dass der religionshistorische Umgang mit Spiritualität ebenfalls die Annahme einer Glockenverteilung untermauert.

Das ist im Grunde nicht überraschend. Bemerkenswert erscheint mir aber, dass genetische und neurobiologische Befunde darauf hindeuteten, dass es zwar Verschränkung, nicht aber eine Gleichsetzung religiöser und spiritueller Veranlagungen gäbe.
Mir ist bei solchen Forschungsergebnissen nicht ganz wohl, denn die Gefahr ist, dass die Folgerungen aus evolutionsbiologischen, genetischen, und neurobiologischen Erkenntnissen in eine biologistische Ideologie umkippen, ist groß. Sogar daran beteiligte Wissenschaftler neigen zu voreiligen und weltanschaulich befangenen Schlüssen. Noch größer ist die Gefahr, dass z. B. Rassisten und Möchtegern-Sozialingenieure sich auf "objektive biologische Erkenntnisse" berufen, wenn sie ihre Ideologie verbreiten. Vaas und Blume jedenfalls maßen sich erfreulicherweise keine vorschnellen und eindeutigen Antworten an.

Ich halte die von Vaas / Blume angeführte Definition von Spiritualität nicht nur für brauchbar und sinnvoll; ihr wissenschaftlich-nüchterner Begriff von Spiritualität stimmt völlig mit meinen Erfahrungen überein.
Künstler sind meistens sehr spirituell - auch wenn sie überzeugte Atheisten sind. Ich gehe so weit, zu behaupten, dass Kunst, die diesem Namen verdient, eine spirituelle Tätigkeit ist: In dem Moment, in dem so etwas wenig Fassbares wie Inspiration oder Intuition ins Spiel kommt, ist der schöpferische Prozess spirituell.
Zwischen Inspiration und kreativem Schaffen besteht ein ähnliches Verhältnis wie zwischen Spiritualität und Religion. Zwischen beidem gibt es einen Zusammenhang, der allerdings nicht zwingend ist. Nicht jeder, der Inspiriert ist, schafft großartige Kunstwerke oder geniale Erfindungen - und nicht jeder Künstler und Erfinder ist inspiriert.
Dennoch bin ich der Ansicht, dass es ohne Inspiration keine wirkliche Kreativität gibt - auch wenn kreatives Schaffen, wofür Einiges spricht, tatsächlich zu 99 % Transpiration und nur zu 1 % Inspiration ist, "ganz ohne" geht es nicht - jedenfalls dann nicht, wenn das Endergebnis in irgend einer Weise originell sein soll.
Hingegen scheinen mir sehr religiöse, "fromme", Menschen, vor allem Fundamentalisten, oft auffallend phantasielos und "unkreativ" zu sein.

Spirituelle Praktiken sind nicht immer an Religiosität, geschweige denn eine konkrete Religion gebunden. Gute Beispiele dafür sind Yoga und Zen-Meditation. Sonst hätten sie den indischen bzw. ostasiatischen Kulturraum niemals verlassen können. Es ist z. B. auch möglich, dass gregorianische Gesänge außerhalb eines christlichen Kontextes "funktionieren". (Mit fällt leider kein besseres Wort ein.)

Eine weitere spirituelle Praxis, die nicht an eine konkrete Religion gebunden ist, ist der Schamanismus - so etwas wie eine "schamanische Religion" gibt es einfach nicht. Ein Schamane (ich meine jetzt einen "echten" Schamanen aus einer traditionellen Stammeskultur) kann in der Praxis z. B. Polytheist, Buddhist, Hindu, Christ, Agnostiker oder sogar Moslem sein.

Nach meiner Erfahrung - und der Erfahrung von Menschen, die spirituelle Erlebnisse, etwa "Visionen", mystische Gipfelerlebnisse usw. hatte, ist "starke Spiritualität" nicht etwas, worauf man abzielt, sondern etwas, was einem zustößt.

Das Ziel der Spiritualität - wen es denn ein erkennbares Ziel gibt - ist meiner Ansicht nach keine Selbstoptimierung.
Das steht im Widerspruch zu vielen Angeboten auf dem "spirituellen Supermarkt". Aber der Drang, spirituelle Erfahrungen mindestens zur "Selbstverwirklichung" oder ganz direkt zur "Verbesserung der eigenen (auch beruflichen) Leistungsfähigkeit" nutzbar zu machen, wird von außen, von einer leistungsorientierten Gesellschaft, in der die Vorstellung, jeder sei "seines Glückes Schmied", prägend ist, angestoßen.

Stellt sich die Frage, ob Spiritualität nicht einen religiösen (im weiteren Sinne, also nicht auf quasi-kirchliche Religion bezogenen) Halt braucht, um wirklich vollständig funktionieren zu können.
Diese Frage kann ich nur für mich selbst beantworten: für meine Spiritualität ist das nur teilweise richtig. Ich wäre auch spirituell, wenn ich Agnostiker wäre - tatsächlich war das einige Zeit bei mir der Fall - und noch länger versuchte ich, agnostisch zu sein.

(Linktipp für an Religionswissenschaft im Zusammenhang mit Evolution Interessierte: das SciLogs Blog von Dr. Michael Blume: Natur des Glaubens.)

Mittwoch, 25. August 2010

Der böse, böse "neue" Atheismus

Ein Vortrag von Dr. Kissler:
Galle, Gift und Gotteswahn. Der Neue Atheismus auf dem Vormarsch.
Der Bund der Konfessionslosen und Atheisten e.V. kritisierte den Bundespräsidenten für seine öffentliche Wertschätzung der Bibel scharf und Richard Dawkins will Papst Benedikt wegen Verletzung der Menschenrechte festnehmen lassen. Die Aktionen des „Neuen Atheismus“ werden immer aggressiver und medienwirksamer.
Ein durchaus hörenswerter Vortrag, weniger, weil Kissler die Tricks des neuen Atheismus entlarvt, als dadurch, dass er ungewollt die Tricks der alten Theologen entlarvt.
Es ist meiner Ansicht bezeichnend, dass Dr. Alexander Kissler den "Neoatheismus" als "politisches" oder "quasi-religiöse" Bewegung bezeichnet. Damit hebt er diese Denkrichtung auf einen Ebene, die Kissler vertraut ist, mit der er umgehen kann.
Eine scheinbare Nebensächlichkeit ist bezeichnend: Kissler nennt Robert M. Pirsing, der von Richard Dawkins in dessen Buch Der Gotteswahn zitiert wird, einen "Buddhisten, also Atheisten". Denn Pirsing lehnt sich in seiner Philosophie zwar an den Zen-Buddhismus (und den Daoismus) an, damit ist aber noch lange nicht gesagt, dass er tatsächlich Buddhist war. Ob er Atheist war, ist ebenfalls fraglich. Es ist Dawkins, der das Zitat Pirsings
Leidet ein Mensch an einer Wahnvorstellung, nennt man es eine Krankheit. Leiden viele Menschen an einer Wahnvorstellung, nennt man es Religion.
in einen atheistischen Kontext stellt.
Ich kenne zu viele tief gottgläubige Menschen, die sich zur Religion ähnlich äußern, als das ich darin ernsthaft einen Beweis für Atheismus sehen könnte. (Typischer Spruch: "Mit Gott habe ich keine Schwierigkeiten - aber umso mehr mit seinem Bodenpersonal.") Bissiger Spott über organisierte Religion und Atheismus sind nicht dasselbe. In diesem Missverständnis gleichen sich Dawkins und Kissler.

Das Buch Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, aus dem das Zitat stammt, enthält eine deutliche Kritik an den dualistischen Philosophien, die laut Pirsing auf Platon und noch mehr Aristoteles zurückgehen.
Es ist genau dieses, von Augustinus noch erheblich verschärftes und schematisiertes, dualistische Denken, dass meiner Ansicht nach viele "neue Atheisten" und fast alle kirchliche Kritiker des "neuen Atheismus" auszeichnet. Nur in diesem Denken ist jemand, der sich vom christlich geprägten, "abendländischen" dualistischen Denken abgewandt und dem Zen Buddhismus zugewandt hat, automatisch Buddhist, und der Buddhismus ist, da er die Existenz eines ewigen, allmächtigen und personalen Gottes bezweifelt, eben atheistisch.
Ich vermute aber, dass Dr. Kisslers auf mich streckenweise in seiner Schwarz-Weiß-Logik absurd wirkender Vortrag für Menschen, die es gewohnt sind, alles in Gegensätzen zu sehen, völlig folgerichtig wirkt. Übrigens denkt Dawkins, ich vermute, weil er als Naturwissenschaftler schon berufsbedingt Zweifel an endgültigen und ewigen Wahrheiten hat, im Großen und Ganzen nicht dualistisch: "Der Gotteswahn" hat Grautöne.

Schon die Abgrenzung zwischen "altem" und "neuen" Atheismus ist meiner Ansicht nach völlig willkürlich. Denn militante Atheisten gab es schon lange vor Dawkins et al., und worin die besondere Militanz zum Beispiel der Girdano-Bruno-Stiftung liegen soll, müsste man mir erst einmal erklären.
Vergleiche ich die tatsächliche Militanz fanatischer Moslems, fanatischer Christen und fanatischer Atheisten miteinander, dann ergibt sich ein Bild, das ziemlich genau dieser Karikatur entspricht:
Miltants
Der gern gebrachte Hinweis auf die angeblichen Atheisten Hitler, Stalin und Mao stimmt nicht. Bei Hitler, der ständig von der "Vorrrsähungg" und dem "Härrrgottt" redete und ausdrücklich sagte, dass die Ausrottung der Juden ein gottgefälliges Werk sei, von vornherein nicht. Stalin und Mao waren zwar Athetisten, aber der Atheismus war nicht die treibende Kraft und nur ein Bestandteil unter vielen in ihrer völkermörderischen Ideologie. Tatsächlich haben Stalinismus und Maoismus stark religionsähnliche Züge.

Was "neu" ist - und von Dr. Kissler auch benannt wurde - ist das breite Medienecho, das die neuen Atheisten genießen. Das dürfte aber nicht allein an Autoren wie Dawkins, Hitchins oder Schmidt-Salomon liegen, sondern daran, dass militanter religiöser Fundamentalismus seit einigen Jahren an Bedeutung gewinnt.

Trotz allem gebe ich Dr. Kissler in einem Recht: beim "neuen Atheismus" steht nicht die Religionskritik im Mittelpunkt. Wenn es sie gibt, wirkt sie nur da schlüssig, wo es um konkrete Missstände, etwa in den Kirchen, geht. Ich vermute, weil viele neue Atheisten sich gar nicht vorstellen können, wie ein religiöser oder spritueller Mensch - das ist nicht dasselbe - eigentlich denkt. (Außer, dass einige von ihnen gläubigen Menschen einen massiven Dachschaden zuschreiben.)
Bei der Auseinandersetzung mit religiösen Fanatismus und dem Phänomen des Fundamentalismus ist Dawkins jedenfalls ebensowenig hilfreich oder erhellend wie z. B. Schmidt-Salomon.

Das Buch Heilige Einfalt von Olivier Roy könnte, wenn ich "Gregor Keuschnigs" ausführlichen Rezension folge, vielleicht genau die Religionskritik sein, die ich in der hektischen Auseinandersetzung mit dem religiösen Fanatismus so sehr vermisse.

Sonntag, 18. Juli 2010

"Rückkehr der Religion": eine Vermutung und zwei alte Zitate

Die "Rückkehr der Religion" ist, zumindest in Westeuropa, eine leere Behauptung: nach wie wächst der Anteil der Konfessionslosen (was nicht das selbe ist wie "Atheisten"). Anderseits blühen Formen der Spiritualität und Religiosität abseits der "großen Religionen".
Wenn es eine "Renaissance des Glaubens" gibt, dann geht sie an den beiden großen Kirchen fast völlig vorbei. Der reale gesellschaftliche Einfluss der Kirchen schrumpft nach wie vor.

Weshalb gibt es eine regelrechte Medienkampagne, um die Funktion der Großkirchen als "moralische Instanz" zu stärken?
Warum gibt es ständig Versuche, eine "christliche Leitkultur" zu (re-)etablieren?
Wobei es ja nicht irgendein Christentum ist. Es ist ein von protestantischer Ethik, von innerweltlicher Askese, dem Einhalten vom Regeln, Selbstdisziplin und Unterordnung geprägtes Christentum - was sogar für den deutschen Katholizismus gilt, der im Zuge der jesuitischen Gegenreformation viele Elemente prostestantischer Ethik übernahm. "Sinnenfroh und tolerant" ist der der deutsche Katholizismus nur in wenigen Regionen - so wie der deutsche Protestantismus auch nur selten so "aufgeklärt, abgeklärt und nüchtern" ist, wie es das Klischee will. Nach wie vor gefallen sich viele deutsche Christen beider großer Konfessionen (vor allem die mit Macht und Einfluss) gern als Sitten- und Tugendwächter. (Bei gleichzeitiger Doppelmoral.)

Und wieso trägt das System der gegenseitigen Instrumentalisierung von Kirchen und (Partei-)Politik nach wie vor?

Ich vermute: Das ist so, weil unser Staat, so wie er ist, und unser Wirtschaftssystem, so wie es ist, auf einer bestimmten, "sitten-protestantischen", Form der Religion aufbaut, und weil unsere Gesellschaft auch deshalb funktioniert, weil sie nach wie vor "sittenchristlich" geprägt ist.
Eine Aufweichung dieser "christlichen Leitkultur", sei es durch einen wachsenden Anteil an Agnostikern und Atheisten, sei es durch einen wachsenden Anteil an Nichtchristen (vor allem Moslems), sei es durch einen Wertewandel, der "sittenchristliche" Normen in Frage stellt, ist daher eine durchaus reale Bedrohung für den gesellschaftlichen Status Quo.
Wohl deshalb gibt es einen "Kirchenstaat Deutschland", eine unzureichende Trennung zwischen Staat und Kirche (Kirchensteuern sind für eine Demokratie ein schlechter Witz!), und einen überproportional großen Einfluss der Kirchen auf Medien, Schule und Kultur.

Der "klassische Kapitalismus" des Industriezeitalters hätte ohne religiöse Grundlage nicht funktioniert - und umgekehrt wiederum die Religion nicht ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse. Wieso, das erkannte und beschrieb Marx schon 1844:
Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben, oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, ausser der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Societät. Dieser Staat, diese Societät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Compendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d'honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.

Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.

Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.
Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Einleitung), 1844

Auch wenn es unbequem und schrecklich materialistisch ist: Ich denke, Marx hat im Großen und Ganzen recht! Die Kirchen sind so wie sie sind, weil die Gesellschaft so ist, wie sie ist. Das gilt auch für den "spirituellen Supermarkt" - Esoterik-Kritik ist wichtig, aber ohne gesellschaftlichen Strukturwandel, ohne Emanzipation, werden die "Seelenverkäufer" nach wie vor ihren Markt finden.
Heute ist es so, dass ein Zustand aufrecht erhalten werden soll, der, weil die Gesellschaft sich wandelt, möglicherweise in ein paar Jahren nicht mehr bestehen wird.

Es gibt aber eine Lücke bei Marx - folgt man ihm, dann könnte die Religion auch eine reine Inszenierung sein, in der das "dumme Volk" hinters Licht geführt wird - und in der die Drahtzieher entweder lügen oder wenigstens sich selbst belügen. Allerdings ist es m. E. wichtig, im Auge zu behalten, was das "christliche-protestantische" Glauben und Denken auch bei den "Drahtziehern" bewirkt - denn sie sind ja oft tief und aufrichtig gläubig.
Mit dem Bewußtsein, in Gottes voller Gnade zu stehen und von ihm sichtbar gesegnet zu werden, vermochte der bürgerliche Unternehmer, wenn er sich innerhalb der Schranken formaler Korrektheit hielt, sein sittlicher Wandel untadelig und der Gebrauch, den er von seinem Reichtum machte, kein anstößiger war, seinen Erwerbsinteressen zu folgen und sollte dies tun. Die Macht der religiösen Askese stellt ihm überdies nüchterne, gewissenhafte, ungemein arbeitsfähige und an der Arbeit als gottgewolltem Lebenszweck klebende Arbeiter zur Verfügung.
Max Weber: Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus, 1904

Leicht überspitzt: was haben der Niedriglohnsektor, die Selbstgerechtigkeit gegen Langzeitarbeitslose und das gute Gewissen der Besserverdienenden gemeinsam? Ohne asketischen Protestantismus gäbe es das nicht!

Mittwoch, 7. Juli 2010

Psychologie der sexuellen Askese - ein historisches Beispiel

Augustinus von Hippo (354 - 430) ist einer der bedeutendsten christlichen Kirchenlehrer und einer der einflussreichsten Philosophen und Theologen (das lässt sich bei Augustin nur selten trennen) der "christlich-abendländischen" Tradition. Seine Theologie beeinflusste sowohl die katholische wie die protestantisches Lehren. Zum Beispiel sind die theologischen Schriften Joseph Ratzingers (Benedikt XVI.) wesentlich von seiner Lehre durchdrungen.

Für die Geschichte des Christentums so entscheidende Begriffe wie "Erbsünde" und "Prädestination" begründete Augustin in seiner umfangreichen theologischen Schrift De civitate Dei (Der Gottesstaat).
Im 14. Buch des "Gottestaates" befasst er sich eingehend mit seinem "Lieblingsthema", der Sünde, vor allem in Hinblick auf das, was wir erst seit dem 19. Jahrhundert "Sexualität" nennen.

Adams "Sündenfall" würde den ewigen Tod, das heißt, die ewige Verdammnis (in der Hölle) aller Menschen bedeuten, hätte Gottes unverdiente Gnade nicht viele davon ausgenommen. Die Ursache der Sünde ging aus der Seele hervor, nicht aus dem Fleisch. Die ganze Menschheit für die Sünde Adams zu bestrafen, wäre gerecht, denn Gott hätte Adam nicht mit zahlreichen oder ungeheuerlichen oder schwierigen Geboten beladen, sondern ihm lediglich mit einem ganz einfachen und leichten Gebot unter die Arme gegriffen, um das Geschöpf daran zu erinnernd, dass Gott der Herr sei. Zu seinem eigenen Besten hätte der Mensch freiwillig unterwürfig sein sollen. Infolge seiner Sünde wurde der Mensch, der geistig im Fleisch hätte sein sollen, fleischlich im Geiste.

Dass wir der geschlechtlichen Lust (libido) unterworfen sind, gehört nach Augustins Ansicht zu unserer Bestrafung für Adams Sünde. Er räumt ein, dass der Geschlechtsverkehr in der Ehe keine Sünde wäre, aber nur dann, wenn er dazu dienen soll, Kinder zu zeugen. Ein tugendhafter Mensch wird aber den Wunsch haben, dabei ohne Lustempfindung auszukommen. Aber selbst in der Ehe, wo Geschlechtsverkehr erlaubt und ehrbar ist, haben wir das Verlangen, ihn ohne Zeugen zu vollziehen. Warum? Augustin meint: Weil das, was von Natur aus völlig in Ordnung ist, doch bei seinem Vollzug aus Strafe zugleich die Scham (über Adams Tat) zur Begleiterin hat.

Nach der Lehre der Kyniker - über die sich Augustin in markigen Worten empört - sollte man keine Scham über als natürlich empfundene Gegebenheiten haben. Diogenes hätte angeblich keine Scham empfunden und aus Eitelkeit den Beischlaf öffentlich vollzogen, aber die Kyniker hätten nach diesem einen Versuch davon Abstand genommen. Augustin vermutet, dass Diogenes und andere, von denen das behauptet wird, das nur vorgetäuscht hätten. Sie hätten nicht wirklich unter den Augen von Menschen die geschlechtliche Lust auszuüben vermocht. (Ich kann mir die Bemerkung nicht verkneifen: man merkt, dass es zu Augustins Zeit noch keine Pornovideos gab.)

Das Beschämende an der geschlechtlichen Lust sei, dass der Wille darauf keinen Einfluss hat. Vor dem Sündenfall hätten Adam und Eva ohne Lustempfinden miteinander verkehren können - laut Augustin taten sie das übrigens nicht. Ohne den Sündenfall würden die Menschen sich der Zeugungsglieder zur Gewinnung von Nachkommenschaft in derselben Weise bedient haben, wie der übrigen Glieder, nämlich nach dem Machtspruch des Willens.
Handwerker empfinden beim Gebrauch ihrer Hände ja auch keine Lust, und wenn uns der Gebrauch der Hände Freude bereitet, dann könnten sie wir immerhin noch willkürlich beherrschen. (Augustins gibt das beeindruckende Beispiel eines Priester namens Restitutus, der sich willkürlich in einen todesähnlichen Zustand versetzen konnte, in dem er keinen Kniff und Stich spürte und sich sogar ohne Schmerzgefühl, vom Feuer brennen lassen konnte, nur dass nachher die Wunde schmerzte.) Anders als etwa die Hände oder die Zunge hätten die Geschlechtsorgane die Lust sozusagen in Eigenrecht genommen, in einem Maße, dass sie nicht in Bewegung gesetzt werden können, wenn die Lust sich versagt und wenn sie nicht von selbst oder auf Anreiz hin sich erhebt.

Dass zum Geschlechtsverkehr Lust gehören muss, ist also eine Strafe für Adams Sünde. Ohne Sündenfall hätte das Geschlecht von der Lust getrennt werden können.

Psychologisch gesehen ist diese Begründung für sexuelle Enthaltsamkeit - denn darauf zielt Augustin ja ab - bemerkenswert. Offensichtlich ist er der Ansicht, dass zur Tugend die vollständige willkürliche Kontrolle über sich selbst gehört. Dem Ausspruch "der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach" hätte Augustin nicht zugestimmt: ein williger, moralisch denkender, Gott gehorsamer Geist hat gefälligst das Fleisch zu beherrschen! Dass das auf der sexuellen Ebene nicht funktioniert, ist ein Zeichen für Sündhaftigkeit und eine verdiente Strafe Gottes. Weil das bei allen Menschen so ist, muss wohl die ganze Menschheit Adams Sünde geerbt haben.

In seiner Autobiographie (Confessiones) ergeht er sich sieben Kapitel lang in heftigsten Selbstanklagen, weil er als Junge zusammen mit einigen gleichaltrigen Freuden Birnen vom Baum des Nachbar geklaut hätte, obwohl er nicht hungrig war und seine Eltern bessere Birnen daheim hatten. Es wäre nicht schlimm gewesen, wenn er Hunger oder keine andere Möglichkeit gehabt hätte, zu Birnen zu kommen. Deshalb ist der Birnendiebstahl ein Akt der reinen Schlechtigkeit, eine unsagbar böse Tat, eine Bosheit der Bosheit willen, inspiriert von der Liebe zum Bösen.
Was ihn nach Jahrzehnten heftig beschämt, ist offensichtlich die Erinnerung daran, nicht vernünftig, kontrolliert und im Einklang mit den moralischen Regeln gehandelt zu haben.

Aus all dem folgt, dass der Geschlechtsakt und alles, was damit zusammenhängt, mit einem vollkommen tugendhaften Leben nicht vereinbar ist. Jedenfalls wenn man wie der "Kirchenvater" denkt.

Zusatz, da ich nach meiner Meinung gefragt wurde
Augustins Einfluss auf die "abendländische Geschichte" und die heute auch bei nichtchristlichen "Abendländern" übliche sittenchristliche Mentalität halte ich für verheerend.
(Die völlig verkorkste Sexualmoral der katholischen Kirche ist meines Erachtens ohne den Einfluss Augustins genauso wenig erklärbar, wie der verklemmte Puritanismus vieler Protestanten.)

Was ihn selbst angeht: ich denke manchmal in ähnlichen Bahnen wie er. Er hatte (wie ich auch) eine Neigung zur gegen sich selbst gerichtete Aggressivität, einen Hang zur Selbstanklage und offensichtlich ständig ein schlechtes Gewissen - mit und ohne Grund.

Bei ihm mündete diese Neigung in - anders kann ich es nicht nennen - Versündigungswahn. Augustins Wahn schlug in eine ungeheuerliche Selbstgerechtigkeit um. Ich nehme an, dass er sich vom quälenden Gefühl, sich versündigt zu haben, entlastete, indem er die ganze Menschheit zu schlimmen Sündern erklärte. Mir fällt auch auf, wie selbstverständlich er davon ausging, dass sein (im Alter) extremes Schamgefühl der Normalfall sei - und das, obwohl er in seiner Jugend sehr viel weniger schamhaft war.

Da er außerdem hochintelligent war, sämtliche rhetorische Tricks der langen römischen Rednertradition beherrschte, und gute Beziehungen zu den Mächtigen seiner Zeit hatte, setzten sich seinen Furcht erregenden theologischen Doktrinen (Erbsünde, ewige Verdammnis aller ungetauften Kinder, Prädestination bei gleichzeitiger Möglichkeit, aus freiem Willen schuldig zu werden, extremer moralischer Dualismus, die Lehre vom gerechten, moralisch und theologisch gebotenen Krieg, um nur einige zu nennen) gegen weniger fanatische Auffassungen durch.

Wegen des Bildungsmonopols des katholischen Klerus bis zum hohen Mittelalter gab es in Westeuropa jahrhundertelang keine Alternative zur Theologie und Philosophie des Kirchenvaters Augustinus. Außerdem waren und sind viele seiner Positionen für politische Machthaber ausgesprochen nützlich.

Montag, 24. Mai 2010

Nachtrag zu: Warum ich kein "Eso" wurde

Damals, 1982, da erlebte ich Einiges, das mich davon abbrachte, die damals anbrandende "New Age"-Welle zu surfen, obwohl das an und für sich für mich nahe gelegen hätte. 1982 - Im Labyrinth der Eiszeit.
Wenn es nicht ganz klar geworden sein sollte: ob man mich als "Esoteriker" ansieht oder nicht, hängt ganz entscheidend davon ab, wie man "Esoteriker" definiert. Ich hänge keiner Lehre an, die nur für einen begrenzten, "inneren" Personenkreis zugänglich ist (ursprüngliche Bedeutung). Ich ertrage die Tatsache, dass uns Menschen vieles unbekannt und verborgen ist, recht gut. Ich vertraue auf die klassischen Lehrsätze der Logik, rasierte mich regelmäßig mit "Ockhams Rasiermesser" (die einfachste Annahme ist in der Regel die beste), schätze die Denker der Aufklärung, und habe die skeptische Nachprüfung (oder den "konstruktiven Skeptizismus") zu so etwas wie meiner Alltagsphilosophie erhoben. Ich halte nichts von der Idee, dass die Planetenbahnen mein Schicksal lenken, und nicht viel von jenen Wunderheilern, die ihren Patienten grundsätzlich erst mal finanzielle Schlankheitskuren verordnen. An spiritistischen Sitzungen nehme ich ebenso wenig teil wie an schwarzen Messen.
Meine besondere Verachtung gilt, neben der "braunen Esoterik" und der Theosophie im Sinne Helena Blavatsky mit ihrer "Wurzelrassen"-Ideologie (die auch der "blinde Fleck" und zugleich der dicke Schmutzfleck der Anthroposophie Steiners ist), der "Kommerz-Esoterik". Ich verstehe darunter eine regelrechte Industrie, die Menschen mit Sehnsucht nach Spiritualität, die nach Sinn und Lebenshilfe suchen, hinters Licht führt und nach Strich und Faden ausnimmt.

Dennoch könnte man mich mit Fug und Recht "Esoteriker" nennen, weil ich ein "esoterisches Weltbild" hätte. Laut Rainer Kakuska beruht es auf vier Grundannahmen:
  1. Die Welt wird als völlig geordnet betrachtet. Alles hängt mit allem auf eine sinnvolle Weise zusammen, wobei der Zusammenhang weit über das hinausgeht, was wir Ursache und Wirkung nennen. Der Mensch ist allerdings nicht imstande, diese Ordnung vollständig zu durchschauen.
  2. Der Mensch hat an zwei Ebenen oder Zuständen der Wirklichkeit teil, der materiellen und der geistigen. Diese Zustände stehen in enger Wechselwirkung, sind letztlich zwei Aspekte einer Realität.
  3. Es ist die natürliche Tendenz der Seele, zu wachsen, sich weiterzuentwickeln, immer umfassender und differenzierter zu werden. Dazu sind viele Erfahrungen nötig, auch unangenehme. Je mehr Einsicht jemand in die universellen Zusammenhänge gewinnt, desto mehr wird er die scheinbaren Gegensätze als zwei Extreme einer Polarität sehen, die nicht unabhängig voneinander existieren können.
  4. Das Universum ist freundlich für den, der seine Gesetze kennt und sie respektiert. Wahres Glück entsteht dadurch, dass man das tut, was notwendig ist, und akzeptiert, was geschieht.
Im Großen und Ganzen kann ich dem Zustimmen. Folglich bin ich "Esoteriker" - zumindest aus der Perspektive eines radikalen Naturalismus (wie ihn die "Brights" vertreten).

Seitdem sind 28 Jahre vergangen. Jahre, in denen es mir, zurückhaltend formuliert, nicht immer gut ging. Die Versuchung, sich einer Lehre anzuvertrauen, die die Wechselfälle des Lebens mit "Karma" "erklärt" oder auch persönlichem Leid einen "tiefen Sinn" gibt, war groß.
Außerdem gibt es für einen Menschen mit "paranormalen Fähigkeiten" (so würde es die "Eso-Tante" nennen - ich halte sie für durchaus normal, und nebenbei halte ich "übernatürlich" für ein leeres Wort) stets die Versuchung, aus diesen Talenten irgendwie Vorteile zu schlagen. Ganz im Sinne der "Kommerz-Esoterik".
Um es gerade heraus zu sagen: was mich daran hinderte, waren meine ständigen Selbstzweifel. Wäre ich meiner völlig sicher gewesen, hätte ich in einer finanziellen Klemme wenig Skrupel gehabt, meine "Weisheiten" auf dem spirituellen Markt anzubieten und mir etwas "monetäre Energie" zuzuführen.
(Das wäre nebenbei auch der Fall gewesen, wenn ich irgendwann "eingesehen" hätte, dass an meiner "Spökenkiekerei" nichts dran wäre. Jemand, der weiß, wie ein "spiritueller Sinnsucher" tickt, aber selbst keine Sekunde an den "Spinnkram" glaubt, ist der ideale Eso-Geschäftemacher.)

Über Lars Fischers "Fischblog" (Esoterik ist eben nicht harmlos) stieß ich auf ein besonders drastisches Beispiel, wie schäbig es auf dem "esoterischen Straßenstrich", konkret dem "Telefon-Tarot", zugeht.
Eine Anruferin, ehemals Telefon-Kartenlegerin, schildert bei Domian, wie es hinter den Kulissen der "telefonischen Lebensberatung" zugeht. Die Frau ist dabei sogar psychisch krank geworden.
Teil 1:


Teil 2:


Übrigens hat Lars Fischer vollkommen recht, wenn er schreibt:
(...) Ich vermute, für die große Masse der Wahrsager-Geistheiler-Telepathie-Heinis wäre eine real existierende "Esoterik-Ebene" wenig attraktiv, weil in der eben nicht alles nach belieben ginge, was man gerne hätte - nach meiner Erfahrung das hervorstechende Merkmal jedweder Realität. (...)
Meine Erfahrung mit der "Esoterik-Ebene", die ich mit dem neo-schamanischen Begriff "nicht-alltägliche Wirklichkeit" nenne, zeigt eindeutig, dass da eben nicht nach Belieben geht, was man gerne hätte. Ob diese Ebene real ist, und wenn, in welchem Sinne, lasse ich bewusst offen - weil ich es selbst nicht weiß.

Notwendiger Nachtrag:
"Esoterischer Straßenstrich" ist eine Metapher, die die Zustände beim Telefon-Kartenlegen beschreibt, keine moralische Verurteilung der dort arbeitenden "Beraterinnen" und "Berater". Ich halte Prostitution für ein legitimes Mittel des Gelderwerbs - kriminell ist der Zuhälter, nicht die Hure, und auch nicht ihre Kundschaft.

Samstag, 8. Mai 2010

Warum ist der tibetische Buddhismus "in"?

Viele Sozialwissenschaftler und noch weitaus mehr Politiker, Publizisten und - unvermeindlicherweise - Kirchenvertreter reden gern von einer "Rückkehr der Religionen". Allerdings geht diese angebliche "Rückkehr" hierzulande an den großen christlichen Kirchen vorbei. (Auch wenn die jüngste dramatische Austrittswelle aus der römisch-katholischen Kirche am allerwenigsten mit einer "Abwendung vom Christentum" zu tun haben wird. Ich vermute, dass viele Katholiken nun austreten, gerade weil diese Kirche die Werte, die sie predigt, offensichtlich nicht lebt. Wobei, das sei mir als Heide erlaubt, der "Fisch" vom Kopf her stinkt - aber gewaltig! Ich verstehe, dass Menschen, die die christliche Ethik - oder überhaupt eine Ethik - ernst nehmen, es in diesem scheinheiligen Verein nicht mehr aushalten.)

Die "Rückkehr der Religion" ist eben keine Renaissance "des Glaubens" in seiner bekannten und gewohnte Form. Die, vor allem und im Besonderen in Deutschland, auf eine enge Verfilzung von Staat und "offiziellen" Kirchen gegründete bestehende Ordnung verfällt nach wie vor. Nicht erst seitdem moderne Verkehrs- und Kommunikationsmittel die "Globalisierung" vorantreiben, löst sich die früher üblichen Einheit von "Nation", "(Leit-)Kultur" und "(Volks-)Religion" auf: dieser Prozess begann schon in der Aufklärung und in der Romantik, vor über 200 Jahren. Seit dieser Zeit ist es nicht mehr selbstverständlich, dass es ein quasi "natürliches" Religions- und Spiritulatitätsmonopol der am Ort vorherrschenden Kirche gibt, obwohl es zuerst nur Intellektuelle und Künstler waren, die die freie Religionswahl auch wirklich praktizierten. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist das ein Massenphänomen.
Da seitdem viele Menschen sich nicht mehr an die traditionellen religiösen Milieus gebunden fühlen, in die zufällig hineingeboren wurden, begannen spirituell interessierte Menschen und andere Sinnsucher, sich ihre eigene "Religion" zu konstruierten. Kritiker, vor allem aus dem kirchlichen Umfeld, sprechen gerne abwertend von "Patchwork-Religionen" und einem "spirituellen Supermarkt".(Obwohl auf Teile der "Esoterik-Szene" das Bild eines letztendlich kommerziell orientierten Marktes auch meiner Ansicht nach zutrifft.)
Damit gibt es etwas Ungewohntes: Konkurrenz zwischen "Transzendenzanbietern". In den USA gibt es diese "Kirchenkonnkurrenz" schon lange, was nicht nur zur, auf der positiven Seite, zu einer enormen religiösen bzw. weltanschaulichen Vielfalt führte, sondern auch zu so fragwürdigen Erscheinungen wie quasi kommerziellen Kirchen und dem Vormarsch der Fundamentalisten.

Im "Westen" sind neben den evangelikalen "Fundies" es vor allem die Buddhisten, vor allem der tibetischen Richtung, die sich besonders gut auf dem "Religionsmarkt" behaupten. Dafür kann man viele mögliche Gründe anführen, für die die charismatische und sympathische Persönlichkeit des Dalai Lama nicht der Unwichtigste sein dürfte. Auch der Widerstand gegen die chinesische Okkupation Tibets und der Respekt vor der trotz allem pazifistischen Haltung der Exilregierung trägt sicherlich zur Beliebtheit des tibetischen Buddhismus bei. Auch die (scheinbare) Kompatibilität zwischen tibetischem Buddhismus und "westlicher" Esoterik, vor allem der "theosophischen" Richtung spielt beim "Buddhismusboom" eine wichtige Rolle.

Aber vielleicht sind auch bei erwachsenen "Sinnsuchern" solche Kriterien entscheidend:
Herzdamengeschichten: Sohn I und die Religionen
In dem Tibetladen bei uns um die Ecke hängen geschnitzte Dämonenmasken an der Wand, fürchterliche Fratzen. Sohn I steht beglückt davor und sagt anerkennend: „Monster!“ Jeden Morgen bleibt er auf dem Weg zur Kita kurz bei dem Laden stehen und staunt verträumt lächelnd sein Lieblingsmonster an. Monster sind nicht zu schlagen, etwas Tolleres kann es gar nicht geben. Außerdem gibt es Rasseln in dem Laden, Rasseln mit sehr vielen Glöckchen dran, und auch kleine Steinfiguren, die richtige Elefanten darstellen, mit vier Beinen, wie es sich gehört. Und wenn der Laden geöffnet ist, dann stehen metallene Zierdrachen davor, auf denen man reiten kann, zumindest wenn der Inhaber gerade nicht guckt. Der Sohn liebt diesen Laden. Monster! Elefanten! Drachen! Mit anderen Worten, die anderen Religionen können einpacken.

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