Freitag, 22. Oktober 2010

Ein paar Worte zu Rudolf Steiner

Von der Anthroposophie geht eine seltsame, beinahe magische Wirkung aus: sie ist ungemein polarisierend. Manchmal habe ich den Eindruck, dass es nur drei Gruppen gibt: begeisterte Anhänger, angewiderte Gegner - und die, die noch nie etwas von Anthroposophie gehört haben. Wer nicht zu einer dieser drei Arten Mensch gehört, sitzt zwischen allen Stühlen. Wie ich. (Was mir, siehe das Motto dieses Blogs "Freiraum ist der Raum zwischen den Stühlen", nichts ausmacht.)

Da es aber offensichtlich Anthroposophen gibt, die mich für einen Anthroposophen-Fresser halte, halte ich es für angemessen, einmal in groben Zügen darzulegen, was ich vom Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, halte.
Auch wenn ich gerne Waldorf-Salat esse, macht mich das schwerlich zum Anthroposophen-Fresser.
"Friida" hielt es für Quatsch, dass ich Steiner als durchaus völkisch bezeichnete.
"Waldi", meiner Ansicht ein klassischer Troll, behauptete, ich würde die Anthroposophie "Ariosophie light" nennen.
Netter Versuch, aber offensichtlich hapert es da mit dem Textgedächtnis. Der entsprechende Abschnitt in Des “listigen Guidos” Erben (4) – Ariosophen heute: Unterwandern und Verbünden geht so (der falsch erinnerte Satz ist gefettet):
Das andere potentielle Einfallstor ariosophischen Denkens in die „Öko-Ecke“ könnten die Anthroposophen sein, die wesentliche Kernsätze der theosophischen Weltsicht – wie die „Wurzelrassenlehre“, der Glaube an eine globalen Urreligion und das hierarchische Weltbild – in abgeschwächter Form enthalten. (Einige Kritiker sprechen auch von „Theosophie light“.) Allerdings sollten die Anthroposophen, die als Vorkämpfer der ganzheitlichen Medizin und Erziehung und vor allem des ökologischen Landbaus („biologisch-dynamische Landwirtschaft“) mit Recht einen guten Ruf beim ökologisch und „alternativ“ gesonnenen Teil der Bevölkerung genießen, nicht als potentielle „Fünfte Kolonne“ der Ariosophie verdächtigt werden. Es wäre aber zu begrüßen, wenn die Anthroposophen mit ihrem problematischen geistigen Erbe deutlich kritischer umgehen würden. Das gilt natürlich auch für die heute noch aktiven theosophischen Vereinigungen.
Das ist, denke ich, zwar eine herbe Kritik, aber bei weitem nicht feindselig - denn meine Kritik richtet sich in ersten Linie an "versteinerte" Anthroposophen, die Steiner offensichtlich so lesen, wie Fundi-Christen ihre Bibel lesen.

Rudolf Steiner hat meiner Ansicht nach viele Verdienste. Er war ein ungewöhnlich vielseitiger Denker. Er betätigte sich als Reformpädagoge (Waldorf-Pädagogik), Sozialreformer (Soziale Dreigliederung), als Künstler (Architektur, Bewegungskunst, Sprachgestaltung),und begründete die Anthroposophische Medizin und die biologisch-dynamische Landwirtschaft. Was immer man von den den steinerschen Lehren halten mag, unbestreitbar waren und sind sie einflussreich.

Noch in seiner "theosophischen Zeit" übte Steiner scharfe Kritik an der Ariosophie, vor allem an deren Rassenlehre. Das wiegt umso schwerer, da Steiner die Hauptvertreter der Ariosophie, "von" List und Lanz "von Liebenfeld", persönlich kannte und sich intensiv mit deren Gedankengebäuden auseinander gesetzt hatte.
Steiner übernahm zwar die Wurzelrassenlehre Blavatskys, modifizierte sie später jedoch - in seinen späten Veröffentlichungen tauchten die Wurzelrassen nicht mehr auf. Steiner führte an ihrer Stelle die weniger problematischen Begriffe "Epoche", "Hauptzeitraum" bzw. "Zeitalter" ein. Zwar blieb das anthroposophische Menschenbild hierarchisch, aber gegenüber der meiner Ansicht nach eindeutig den Rassismus des Kolonialzeitalters widerspiegelnden Konzept Blavatskys (die das "Verschwinden" von "primitiven Völkern" für natürlich und gut hielt) ist das ein nicht zu vernachlässigender Fortschritt.
Steiner war entschiedener Anti-Antisemit. Anfang des 20. Jahrhunderts war Steiner Mitglied im "Verein zur Bekämpfung des Antisemitismus" und bezeichnete den Antisemitismus als eine "Kulturkrankheit", die aus einer Gesinnung hervorginge, gegen die nicht deutlich genug Stellung bezogen werden könne. Anderseits bezeichnete Steiner das Judentum als "überholt", war Antizionist, und forderte die Assimilation der Juden ein.

Es gibt, bei allen sympathischen Seiten, allerdings etwas, das mich sehr an Steiner stört:
Rudolf Steiner hielt sich sich offensichtlich für den größten Visionär aller Zeiten. Damit einher ging ein völliger Mangel an Selbstkritik.

Steiner änderte mehrmals die Richtung seines Denkens. Die deutlichste Zäsur war sein Übertritt zur Theosophie im Jahr 1900. Vorher war er Individualist, Positivist und scharfer Kritiker des Christentums - danach (im heutigen Sprachgebrauch) Esoteriker. Nicht ganz so ausgeprägt ist der Bruch, den sein Austritt aus der Theosophischen Gesellschaft und die Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft 1912 bedeutete. Steiner selbst sah sein theosophisch und anthroposophisch geprägte Spätwerk als konsequente Weiterentwicklung seiner frühen philosophischen Ansätze und bagatellisierte die offenkundigen Widersprüche als "scheinbar" oder "vordergründig". Das mag auf einige seiner Gedankengänge zutreffen. Es ist aber meines Erachtens nicht plausibel, dass die von Steiner gegründete "Christengemeinschaft", eine zwar deutlich mit den Traditionen der großen christlichen Kirchen brechende, nichtsdestotrotz aber eindeutig christliche Religionsgemeinschaft, eine konsequente Weiterentwicklung seiner an Nietzsche geschulten Ablehnung des Christentum sein soll.

Ich habe den Eindruck, dass Steiner jede Inspiration, die er hatte, für genial hielt. Schließlich hatte er, wie er behauptet, Einblick in die Akasha-Chronik.
Selbst wenn ich annehme, dass das wahr wäre - was ich nicht tue, ich halte Steiner zwar für inspiriert, die Idee einer allumfassenden und dennoch vom menschlichen Verstand erfassbaren "Weltenchronik" aber für naiv - heißt das noch lange nicht, dass er auch alles richtig verstand, was er in der Akasha-Chronik las.
Weil er Einblick in die Akasha-Chronik hatte, konnte Steiner nach eigener Angabe zu jedem Thema die Wahrheit verkünden. Das geht über das Dogma der "Unfehlbarkeit" der Papstes hinaus, der nach römisch-katholischer Auffassung allein in Fragen der Glaubens- (oder Moral-)Lehre unfehlbar sei, und auch das nur dann, wenn der Papst mit höchster Lehrgewalt (ex cathedra) spricht.
Diesen Anspruchs Steiners, alles für wahr zu halten, was er im Zustand der Inspiration erfahren hatte, halte ich für vermessen und wahrscheinlich wahnhaft. Um es deutlich zu sagen: das ist ein totalitärer Anspruch. Allerdings war Steiner der Ansicht, dass seine Wahrheiten nicht in einem Widerspruch zur empirischen Wissenschaft stünden. Sie seien vielmehr intersubjektiv überprüfbar. Damit öffnete Steiner seine Lehre dann doch wieder der Kritik und verzichtete auf die bei anderen Esoterikern so beliebte Immunsierungsstrategie nach dem Motto: "Wenn sich meine Lehre und die Wirklichkeit widersprechen, ist das um so schlimmer für die Wirklichkeit." Viele seiner Aussagen sind falsifizierbar und manche sind falsifiziert.
Auch deshalb habe ich wenig Verständnis für "versteinerte" Anthroposophen, die offensichtlich jedes Wort Steiners für eine Offenbarung halten.

Ich räume ein, dass ich nicht allzu viel von Steiner gelesen habe. Rudolf Steiners Werk umfasst 42 Bände mit Schriften und etwa 6.000 Vorträge. Es ist allerdings bei vielen Vorträgen umstritten, wie authentisch die Niederschriften sind.
Wenn ich behaupten würde, ich hätte auch nur einen ungefähren Überblick über sein Gesamtwerk, wäre das eine offensichtliche Lüge. (Einen Eindruck, wie produktiv Steiner war, gibt die Freie Verwaltung des Nachlasses von Rudolf Steiner.)
Allerdings fällt mir bei allen Schriften Steiners, die ich las, auf, wie oft er Unvereinbares und Widersprechendes einfach nebeneinander stehen lies. Z. B. stehen in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft sehr vernünftige und empirisch nachprüfbare Vorschriften neben Ratschlägen, die ich nur als befremdlich bezeichnen kann (und das obwohl ich das Konzept "Magie" keineswegs in Bausch und Bogen ablehne). Legt man, wie Steiner es selbst nahelegte, naturwissenschaftliche Maßstäbe an die biologisch-dynamische Landwirtschaft an, dann steckt sie voller Pseudowissenschaft.
Bei Steiner findet man rassistische und antirassitische Textstellen, Steiner erscheint manchmal als politisch "Linker", manchmal als "Rechter", manchmal als rationaler Verstandesmensch, manchmal als tiefer Mystiker - und manchmal als abgedrehter Spinner.
Noch komplizierter wird es, weil seine Anhänger (oder "gläubige Jünger"?) offensichtlich alles und jedes für aufbewahrenswert hielten, was Steiner äußerte. Auch dann, wenn Steiner anscheinend einen schlechten Tag hatte, offensichtlich Dinge durcheinander bekam, sich falsch erinnerte usw. usw. : Kein Wort sollte verloren gehen (und geredet hat Steiner viel).

Steiner hat viel Kluges, aber - was nur menschlich ist - auch viel Dummes von sich gegeben. Er ist als künstlerischer "Anreger" wichtig, aber es wäre übertrieben, ihm (wie einige Anthroposophen das tun) einen überragenden Einfluss auf die die Kunst der Moderne zuzuschreiben.
Auch die Bedeutung seiner naturwissenschaftlichen, landwirtschaftlichen, pädagogischen oder medizinischen Erkenntnisse werden meiner Ansicht nach gern überschätzt. Er war ein kreativer Denker, aber ein kreativer Denker, beim dem es mit der Selbstkritik nicht weit her war, muss, denke ich, unbedingt kritisch gesehen werden.
Ein Beispiel: Rudolf Steiner soll sechs Jahre vor Schrödinger selbst die Schrödingergleichung gefunden haben, womit er quasi der "Erfinder der Quantenmechnik" wäre. Offensichtlich schrieb Steiner eine Gleichung intuitiv an die Tafel, die der Schrödinger-Gleichung entsprach. Allerdings ist auch die (1920 längst bekannte) Wärmeleitgleichung formal äquivalent zur Schrödingergleichung. Solange die enthaltenen Größen nicht genau beschrieben sind - und das sind sie anscheinend nicht - könnte die Steinersche Formel alles mögliche beschreiben. Steiner mag einen genialen Einfall gehabt haben (oder eine geniale Inspiration), aber er hat meines Erachtens Schrödinger ebenso wenig vorweggenommen, wie Jules Verne das Apollo-Projekt, trotz vieler verblüffender Parallelen.

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