Medizin

Mittwoch, 14. Januar 2009

Rauschmittel Kaffee?

Jedenfalls könnte man das angesichts der Überschrift dieser Meldung auf dem Wissenschaftsportal spektrum.de vermuten: Halluzinogener Kaffee.

Wie bei solchen Meldung nicht unüblich, entpuppt sich die vermeintlich heiße Neuigkeit beim näheren Hinsehen als ziemlich kalter Kaffee: Simon Jones von der Durham University und seine Kollegen befragten 200 Studenten zu ihrem täglichen Konsum von Kaffee, Tee, Schokolade oder Koffeintabletten. Anschließend sollten die Probanden Angaben über halluzinatorische Erlebnisse machen. Dabei zeigte sich eine klare Korrelation: Wer viel Koffein zu sich nahm, halluzinierte öfter.

Damit gibt es strenggenommen nicht den geringsten Hinweis darauf, dass das Koffein selbst halluzinogen wirken würde. Jones selbst vermutet einen indirekten Effekt, der durch die stimulierende Wirkung des Koffeins hervorgerufen wird, sein Kollege Charles Fernyhough ist hingegen der Ansicht, dass Studenten mit Neigung zur Halluzinationen einfach mehr Kaffee trinken würden.

Pseudo-Halluzinationen (d. h. Sinnestäuchungen, bei denen sich der Betroffen klar darüber ist, dass es Sinnestäuschungen sind) sind sehr viel weiter verbreitet, als allgemein angenommen wird. Sie könnten für kreatives Denken wichtig sein - viele bekannte Künstler, Philosophen, Wissenschaftler und Schriftsteller neigen zu Pseudo-Halluzinationen, oder anders ausgedrückt, Visionen.

Dennoch darf man gespannt sein, in welcher Form die "Sensation" durch die Medien laufen wird. Denn bei "Halluzinogen" denken die meisten Menschen sofort an so potente Drogen wie LSD, und bei LSD an ein ganz, ganz übles Rauschgift. Was man bekanntlich auch ganz
anders sehen kann.

Nachtrag: Man kann sich auch online an der Untersuchung beteiligen: caffeine questionnaire. Ich habe das getan, und doch erhebliche Lücken im Fragenkatalog festgestellt, z. B. gibt es keine Fragen nach sonstigem Drogengebrauch. Bei einigen Fragen habe ich den Eindruck, dass jemand, der oder die nur eine lebhafte Phantasie hat und gut visualisieren kann, als "tendenziell halluzinierend" eingeordnet wird. Andererseits sind die Fragen, mit denen offensichtlich eine paranoide Haltung aufgespürt werden soll, so offensichtlich, dass sie kein halbwegs intelligenter Paranoiker wahrheitsgemäß beantworten dürfte ;-)
Für eine Studie, die im Rahmen der psychologischen Fakultät einer renommierten Universität läuft, ist der Fragenkatalog meines Erachtens erschreckend schlecht durchdacht - selbst wenn es ein Studentenprojekt sein sollte (worauf es keine Hinweise gibt).

Samstag, 13. Dezember 2008

Wann ist ein "psychisch Kranker" krank?

bzw. "Was ist normal?"

Diese Frage geht dieses sehr interessante Interview auf Zeit.de nach:
Psychiatrie: "Manche Leute hören Engel" Der niederländische Psychiater Jim van Os beklagt darin, wie willkürlich die Zuordnung von psychischen Krankheiten getroffen wird. Für ihn bestimmt der Leidensdruck den Therapiebedarf.
Ein pragmatischer und praxisnaher Ansatz: mit einer milden Form des Asperger-Syndroms ist in der Regel weder ein Leidensdruck für den Betroffenen verbunden, noch beeinträchtigt oder gefährdet er seine Mitmenschen. Tatsächlich müssen viele Genies, vor allem solche auf künstlerischem oder mathematischen Gebiet, als "Aspergis" gelten - gesamtgesellschaftlich ist diese "psychische Anomalität" wahrscheinlich nützlich. Das schreibe ich ausdrücklich, weil es leider üblich ist, "Krankheiten" oder auch nur bestimmte Syndrome sozusagen nach Euro und Cent aufzurechnen: "Allein in Deutschland verursachen (z. B. Depressionen) jedes Jahr einen gesamtwirtschaftliche Schaden von (n) Millionen Euro." - Was ich wieder als "gesellschaftliche Syndrom eines ins rein Ökonomische gewendeten Utilitarismus" umschreiben könnte: "Nützlich ist, was materielle Werte schafft."
Oder was im Alltag heißt, dass Krankheit mit "Arbeitsunfähigkeit" gleichgesetzt wird - wer sich durch acht Stunden am Arbeitsplatz irgendwie durchquält, ist eben "gesund", unabhängig vom Leidensdruck.
Man muss nicht Psychiatrie-Kritiker im Sinne Michel Foucault sein, um zu erkennen, dass "psychische Krankheiten" gesellschaftlich konstruiert" sind. Es hängt vom gesellschaftlichem Umfeld ab, ob jemand, der "Stimmen hört", ohne darunter zu leiden, dennoch respektiert (wie die "Stimmenhörer" Sokrates und Goethe), als "Spinner" ausgegrenzt, als "Kranker" zwangstherapiert, als "Besessener" verfolgt, oder als "Medium" verehrt wird.
Eine weiteres gesellschaftliches Phänomen, das van Os erwähnt, schließt unmittelbar daran an:
Dass Menschen wegen psychischer Probleme den Arzt aufsuchen, ist nicht sehr häufig. Aber ich gebe zu, dass es eine Tendenz gibt, normale menschliche Erfahrungen zu psychiatrisieren. Es geht immer darum, eine Diagnose aufzuschreiben. Aber eine Diagnose zu haben heißt nicht unbedingt, dass man eine Behandlung braucht. Die meisten Krankheiten im
ICD-10
verschwinden von selbst.
Klassisches Beispiel ist der gewöhnliche Schnupfen, der ohne ärztliche Behandlung 14 Tage und mit Arzt zwei Wochen dauert. Auf psychiatrischem Gebiet wäre die "saisonale depressive Verstimmung" das Gegenstück zum Schnupfen - erst wenn die Beschwerden über längere Zeit anhalten, wird eine behandlungsbedürftige Krankheit daraus. (Allerdings darf nicht verschwiegen werden, was an im Grunde überflüssigen Medikamenten gegen den einfachen Schnupfen verdient wird - und wie viele Antidepressiva nur aufgrund vorübergehender "Tiefs" verordnet werden.)
Ein anderes Problem besteht darin, dass "normale" Verhaltensweisen pathologisiert werden. Ein Beispiel: es ist völlig normal, dass jemand, der sich längere Zeit überarbeitet hat oder der am Arbeitsplatz dauernd überfordert wird, oder auch jemand, der aus Ehrgeiz oder Verantwortungsgefühl Selbstausbeutung betreibt "zusammenklappt", "fix und fertig" oder "ausgebrannt" ist. Macht man ein "Burn-Out-Syndrom" daraus, was ja im Wortsinn nicht anderes bedeutet, verschiebt sich Wahrnehmung ins "Medizinisch-Therapeutische", weg von den Arbeitsbedingungen, hin zum "kranken" Betroffenen. Nicht selten helfen dann Medikamente dabei, "durchzuhalten". Es gibt sogar Unternehmen, die eine "Burn-Out-Prophylaxe" betreiben - wozu in der Regel nicht "weniger Stress am Arbeitsplatz", sondern z. B. das (an sich sinnvolle) Erlernen von Entspannungstechniken gehört. In der Tendenz wird also der arbeitende Mensch an die Arbeit angepasst, und nicht umgekehrt.
Beim Wort "Prophylaxe" sind wir bei den Befürwortern eines Präventionsstaates - ein Staat, welcher die ihm zur Verfügung stehenden Informationen, die nicht zuletzt durch permanente Überwachung der Bürger gewonnen werden, massiv einsetzt, um unerwünschtes Verhalten der Bürger von vornherein zu verhindern. Die Unschuldsvermutung ist im Präventionsstaat ausgehebelt, einfach, weil ein "Gefährder" ja noch nicht schuldhaft oder auch nur fahrlässig gehandelt hat - es besteht lediglich die Gefahr, dass er gefährlich werden könnte - weshalb der Gefährder präventiv "ausgeschaltet" werden muss.

Der Eindruck, die Befürworter des Präventionsstaates verhielten sich paranoid, mag naheliegend sein, es ist aber falsch, Politiker oder Sicherheitsexperten, die sich, mehr oder weniger verbrämt, euphemistisch umschrieben oder demonstrativ panisch für mehr Prävention durch mehr Überwachung einsetzen, "Paranoiker" zu nennen.
Abgesehen davon, dass diese "Diagnose" in den meisten Fälle nicht zutreffen dürfte, trägt das zum achselzuckenden Fatalismus bei: "Die sind halt so, da kann man nichts machen." - Was ein ähnlich kontraproduktiver resignierender Spruch wie das berüchtigte "die da oben machen ja doch, was sie wollen" ist. Resignation stärkt unbeabsichtigt die autoritären Strukturen, unter denen der Resignierende leidet.

Noch eine Feststellung van Os ist bemerkenswert:
Wir Psychiater werden als die schlechten Kerle angesehen, weil wir bedrohliche Dinge mit Menschen anstellen, die wunderbar romantische Krankheiten haben.
Damit spiel er auf die problematische Neigung vieler Psychiatriekritiker an, Zustände wie Depression oder auch bestimmte Formen der Schizophrenie nicht nur verharmlosen, sondern regelrecht verherrlichen, ohne Rücksicht auf den Leidensdruck oder auch konkrete Gefahren für Mitmenschen.

Samstag, 6. Dezember 2008

Mobiltelefone beeinträchtigen im Tierversuch das Gedächtnis

Kann die Mikrowellen-Strahlung von Handys das Gedächtnis beeinflussen? Ja, zumindest deuten Versuche an Ratten, die in der neurochirurgischen Abteilung der Universität von Lund, Schweden, darauf hin. Henrietta Nittby untersuchte Ratten, die der Mobiltelefon-Strahlung für jeweils zwei Stunden täglich ein Jahr lang ausgesetzt waren. Diese Ratten erzielten bei einem Gedächtnis-Test schlechtere Ergebnisse als Ratten, die keiner Strahlung ausgesetzt waren.

Ausführliche Meldung (in englischer Sprache): Mobile phones affect memory in laboratory animals.

Studien über die Gefährlichkeit und Ungefährlichkeit von "Handy-Strahlung" gibt es viele, der Aussagewert der meisten ist eher fragwürdig.
Das interessante an den Erkenntnissen der Uni Lund ist, dass sie möglicherweise mit früheren Erkenntnissen, nach denen Mikrowellen die Blut-Hirnschranke beeinflussen kann, zusammenhängen. Diese Schranke bewahrt normalerweise das Gehirn vor nervenschädigenden Substanzen, die im Blut zirkulieren.
Ein Team unter Leif Salford hatte ebenfalls an der Uni Lund herausgefunden, dass Albumin, ein Protein, dass als als Transportmolekül im Blut fungiert, in das Gehirngeweben eindringt, wenn Versuchstiers der Strahlung von Mobiletelefonen ausgesetzt sind.

Die Ergebnisse sind kein Anlass zur Panik - allerdings einer zur Vorsicht. Es ist sicher nicht verkehrt, beim Kauf eines Handys auf die Strahlungsstärke (SAR-Wert) und die Antennencharakteristik des Telefons zu achten. (Die meisten modernen Handys strahlen z. B. "vom Kopf weg".) Vieltelefonierer sollten vielleicht besser mit Headset oder Freisprechanlage telefonieren.

Alle Handys im SAR-Ranking (xonio.com)

Mittwoch, 3. Dezember 2008

Innovationspreis: Herzklappen und Herzlosigkeit

Als die Kandidaten für den Deutschen Zukunftspreis 2008 nominiert wurden, da hatte ich einen eindeutigen Favoriten (Deutscher Zukunftspreis: die Kandidaten stehen fest):
Das Team um Professor Axel Haverich von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) wurde für die "mitwachsende Herzklappe" zunächst für den Zukunftspreis 2008 nominiert, und dann wieder ausgeladen - wegen patentrechtlicher Unklarheiten.

Nach eigenen Angaben hatten die Forscher herzkranken Kindern die Klappen weltweit. Doch Mediziner der Berliner Charité sahen das anders, denn die Klinik für Herzchirurgie hatte bereits im Jahr 2000 ein Biotechnologieunternehmen ausgegründet, das Patente für mitwachsende Klappen anmeldete.
Nun sollen Patentanwälte den Streit klären.

Bei "rein wissenschaftlichen" Prioritätsstreitigkeiten ist es nicht unüblich, die Preise einfach zu teilen. Zumal das Team in Berlin offenbar zuerst die Idee hatte, während das Team in Hannover sie als erste praktisch anwendetet.
Eine derartige "solomonische" Entscheidung ist angesichts der Tatsache, dass es um Patentrechte - und damit möglicherweise um viel Geld - geht, nicht möglich. Es kann sogar sein, dass die chirurgische Pionierleistung in Hannover mit lizenzrechtlichen Sanktionen geahndet wird. Geschenkt wird da nichts.

Das Erfinden und das patentrechtliche Aufwerten von Erfindungen ist nun einmal ein knallhartes Geschäft und der Bereich der Medizin ist leider keine Ausnahme. (Man denke z. B. an patent-geschützte AIDS-Medikamente, die aufgrund der Lizenzsabgaben an den Patentinhaber - der entgegen eine weit verbreiteten Vorstellung nicht immer das "forschende Pharmaunternehmen" ist - zu teuer für den Einsatz etwa im südlichen Afrika sind. Patentschutz behindert nach wie vor die Behandlung von HIV/Aids-Patienten in Entwicklungsländern.)

Das ist besonders schade, denn das Projekt hätte m. E. den Preis wirklich verdient: Bisher war Herzklappen-Ersatz bei Kindern wegen des Wachstums ein riesiges Problem. Sehr oft muss man so lange warten, bis das Kind ausgewachsen ist, um dann eine künstliche Klappe einzusetzen - wobei das "Abwarten" oft mit Folgeschäden und fast immer mit verminderter Lebensqualität einhergeht. Hinzu kommt, dass die "mitwachsende Herzklappe" ein biologisch vollwertiger Ersatz einer natürlichen Herzklappe mit nahezu unbegrenzter Haltbarkeit ist - während bei künstlichen Herzklappen lebenslang blutgerinnungshemmende Medikamente eingenommen werden müssen.

Die übrigen drei Vorschläge sind solide Ingenieurskunst, aber eben keine "großen Erfindungen" mit ermutigender Signalwirkung. Wahrschein hat der Patentstreit um die mitwachsenden Herzklappen eine negative Signalwirkung über den "Forschungsstandort Deutschland" hinaus: "Probiere bloß nicht Neues aus, es könnten irgendwo Patentrechte drauf liegen!"

Gewonnen hat übrigens:

Smarte Sensoren erobern Konsumelektronik, Industrie und Medizin
Dr. Jiri Marek (Sprecher)
Dr. Michael Offenberg
Dr. Frank Melzer
Robert Bosch GmbH, Reutlingen
Bosch Sensortec GmbH, Reutlingen

Donnerstag, 23. Oktober 2008

Warum die "negative Eugenik" nicht funktioniert

Die Eugenik entstand Ende des 19. Jahrhunderts als Zweig der noch jungen Humangenetik. Eugenik ist die Anwendung humangenetischer Erkenntnisse die auf Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik, mit dem Ziel, den Anteil positiv bewerteter Erbanlagen in der Bevölkerung zu vergrößern ("positive Eugenik", etwa Förderung besonders intelligenten Nachwuchses) und negativ bewerteter Erbanlagen zu verringern ("negative Eugenik", typischerweise auf die Ausrottung von Erbkrankheiten zielend).
Es geht also in der Eugenik nicht etwa um Wohlergehen und Gesundheit des Einzelnen, sondern um "Volkswohl" und "Volksgesundheit"!

Die "positive Eugenik" - verkürzt, aber treffend "Menschenzucht" genannt - ist im Großen und Ganzen gesellschaftlich diskreditiert. Hingegen ist die Idee eine "negativen Eugenik", die Vorstellung, etwa Erbkrankheiten "aus dem Genpool ausrotten" zu können, noch weit verbreitet. Die Möglichkeiten der Gen-Diagnostik fördern solche Vorstellungen.

Nun sieht es so aus, als ob gerade die Molekulärgenetik den Vorstellungen einer von Erbkrankheiten freien Menschheit oder eines "erbgesunden Volkes" den Garaus machen würde:
Über 4000 Erbkrankheiten bzw. ihre Ursachen stehen in der „Inheritance in Man“-Datei, bei der Hälfte ist im Detail bekannt, welches Gen durch welche Mutation Schaden genommen hat (und anrichtet). Diese Krankheiten – Chorea Huntington etwa, „Veitstanz“ – werden durch die Mutation je eines Gens verursacht, das weckte Hoffnungen, sie könnten irgendwann ausgerottet werden. Aber dieser direkte Weg steht nicht offen: „Wir können genetisch bedingte Krankheiten letztlich nie besiegen“, erklärt Diethard Tautz (MPI Evolutionsbiologie, Plön): „Denn sie betreffen Prozesse, die in der Evolution unveränderbar festgelegt wurden.“
Weiter auf die presse.com: Erbkrankheiten kommen von weit her
Die meisten "krankmachende" Gene kommen schon bei primitiven Einzellern vor. Da sie in Millionen Jahren Evolution nicht infolge der natürlichen Auslese ausgestorben sind, sind sie vermutlich "unausrottbar" - man kann nur spekulieren, dass sie vielleicht irgendeinen biologisch unverzichtbaren Vorteil haben.

Dienstag, 7. Oktober 2008

Nobelpreis gegen den Strom

Über den Nobelpreis für Medizin für den Krebsforscher Harald zur Hausen freue ich mich. Weniger, weil er ein deutscher Forscher ist, als deshalb, weil er, als er vor 25 seine Theorie, dass Viren Krebs auslösen können, erstmals vorstellte, damit der vorherrschenden Lehrmeinung aufs heftigste widersprach. Zur Hausen ist ein "Außenseiter", der ein medizinisches Dogma zum Einsturz brachte. "Zur Hausen hat zu früheren Zeiten mit seinem Ansatz sehr kontrovers dagestanden und musste manches Gelächter einstecken. Er hat sich gegen alle Widerstände durchgekämpft", sagt die Berliner Aidsforscherin Karin Mölling vom Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik. Der Mann der ein Medizin-Dogma zerstörte (Welt.de).
In Zeiten von Maulkörben, Anpassungsdruck, vorausseilendem Gehorsam und der Ausgrenzung von Aussenseitern (etc. etc.) ist ein Nobelpreis für einen hartnäckigen Querkopf eine sehr gute Nachricht!
Wenn alle "maßgeblichen Fachleute" einer Meinung sind, können sie trotzdem falsch liegen. Soviel zum Thema "Konsens in der Wissenschaft". (Leider gerade in der Medizin üblicher denn je!)

Das die andere Hälfte des Preisgeldes an Françoise Barré-Sinoussi und Luc Montagnier, die das Team leiteten, das den HI-Virus entdeckte und den ersten AIDS-Test erfanden, freut mich ebenfalls. Denn AIDS ist sehr zu Unrecht aus den Schlagzeilen verschwunden.

Dienstag, 26. August 2008

Resistente Keime profitieren von Antibiotika

Ein drängendes Problem der Hygiene sind Antibiotika-resistente Keime. Infektionen, die durch resistente Bakterien verursacht werden, sind besonders für Patienten in Krankenhäusern eine Gefahr. (In den USA sind etwa 70% der in Krankenhäusern erworbenen infektiösen Keime gegen mindestens ein Antibiotikum resistent.)
Wichtige Ursachen sind die unkritische Verschreibung von Antibiotika - beispielsweise sind Antibiotika bei den meisten Erkältungskrankheiten schlicht nutzlos, weil sie in 95 % aller Fälle von Viren verursacht werden, gegen die Antibiotika nutzlos sind, aber dennoch werden z. B. bei Bronchitis sehr oft Antibiotika verschrieben, Unterdosierung von Antibiotika und der Einsatz von Antibiotika in der Viehzucht. In allen Fällen sind die Resistenzen "Evolution live" - Bakterien, die auf Antibiotika reagieren, sterben, die wenige resistenten Bakterien können sich, unbehindert von Konkurrenz, munter vermehren, bis schließlich die ganze Bakterienpopulation "immun" ist.

Ein weiteres Problem beim Antibiotikaeinsatz ist, dass die Darmflora - unsere "Haustier-Keime", die bei der Verdauung nützlich sind - durch Antibiotika geschädigt wird. Diese Schädigung kann indirekt auch eine Infektion mit Bakterien begünstigen, die gegen Antibiotika resistent sind.
Bisher ging die medizinische Lehrmeinung dahin, dass diese resistenten Bakterien besonders gut gedeihen, da wegen der Schädigung der Darmflora durch das Antibiotikum eine nährstoffreiche Nische entsteht.

Offenbar stören die Antibiotika nicht nur die Darmflora, sie blockieren gleichzeitig die Produktion körpereigener Abwehrsubstanzen.

Darauf deuten Versuche eines Forschungsteams am Sloan-Kettering Institute, New York, mit Mäusen hin. Die Tiere wiesen nach einer Antibiotikabehandlung geringere Mengen eines Darmproteins auf, das solche Bakterien unschädlich machen kann. Nach Ansicht der Forscher könnte eine Therapie, die die Menge dieses nützlichen Eiweißes erhöht, künftig zur Abwehr von Infektionen mit resistenten Bakterien eingesetzt werden.

wissenschaft.de: Warum es Antibiotika resistenten Keimen doppelt leicht machen.

Freitag, 20. Juni 2008

Lobotomie: von der OP aus Verzweiflung zur systematischen Menschenrechtsverletzung

Mir war diese Operation zuerst nur als Redensart bekannt - als Redensart von Menschen, die im weitesten Sinne mit Psychologie, Psychiatrie und Neurologie zu tun haben (selten allerdings aus dem Munde von Psychologen, Psychiatern oder Neurologen): die Lobotomie. "Als ob er lobotomiert wäre ... " oder "wie lobotomiert". Ich kannte sie auch aus dem psychiatriekritischen Spielfim "Einer flog übers Kuckucksnest", in dem der Protagonist McMurphy am Ende einer Lobotomie unterzogen wird - eine Operation, die seine Persönlichkeit zerstört und ihn in ein antriebsloses, unselbständiges Wrack eines Menschen verwandelt.

Ich fragte mich, wieso eine offensichtlich so schreckliche Operation überhaupt erfunden wurde - und mehr noch, wieso sie in den 1940er bis in die 1960er Jahren millionenfach ausgeführt wurde. Erstaunt war ich, als ich las, dass einer der Erfinder der Lobotomie, Egas Moniz zusammen mit dem Schweizer Neurologen Walter Rudolf Hess 1949 den Nobelpreis für Medizin erhielt - "für die Entdeckung des therapeutischen Wertes der präfrontalen Leukotomie bei gewissen Psychosen" (Die präfrontale Leukotomie nach Moniz ist jene Operation, die meistens Lobotomie genannt wird.)
Egas Moniz, der auch Diplomat und Politiker war, galt keineswegs als skrupelloser Chirurg, sondern als ausgesprochener Philanthrop. Es war vermutlich reine Verzweiflung, die ihn dazu brachte, 1935 an einem Patienten mit unheilbarem Hirnschaden die erste Lobotomie durchzuführen. Sie wurde ursprünglich zur Schmerzausschaltung in extrem schweren Fällen angewendet, dann bei agitierten psychischen Erkrankungen wie Psychosen und Depressionen. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass es in den 1930er Jahren kaum wirksame Psychopharmaka gab, und in schweren Fällen den Psychiatern keine andere Wahl blieb, als schwer aggressive oder autoaggressive psychotische Patienten dauerhaft zu fixieren, also buchstäblich ans Bett zu fesseln, damit sie sich oder andere nicht verletzen. Jede Therapie, die Abhilfe versprach, wurde deshalb enthusiastisch aufgenommen. Da die Lobotomie anscheinend gut wirkte, wurde sie immer häufiger angewendet, und zwar auch bei Patienten, die keineswegs dauerhaft gefesselt werden mussten oder an extremen Schmerzen litten.
Bei einer Lobotomie werden die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Stirnhirn sowie Teile der grauen Substanz durchtrennt. Die von Moniz entwickelte Methode wurde auch Präzisionsmethode genannt, obwohl sie verglichen mit modernen sterotaktischen Hirnoperationen grobschlächtig wirkt. Sie war relativ aufwendig und erforderte mindesten zwei Ärzte, einen Neurologen und einen Neuro-Chirurgen. Dabei wurden Teile des Gehirns einfach "zerschnitten", wobei wenigstens darauf geachtet wurde, das Gehirn so wenig wie möglich zu verletzen.
Dabei wurden durchaus Erfolge berichtet. Viele Patienten konnten aus den Anstalten entlassen werden, manche sollen nach Jahren der Krankheit wieder berufstätig geworden sein. Es gibt allerdings kaum empirische Belege für die Wirksamkeit der Methode - und keine systematischen, neutral kontrollierten Studien.
Auch bei geglückten Operationen traten oft unübersehbare Nebenwirkungen auf, meistens Persönlichkeitsstörungen. Die Opfer - anders kann man es nicht nennen - von missglückten Lobotomien wurden oft nach der OP völlig apathisch und willenlos und waren nicht selten auf lebenslange Pflege angewiesen.
Die anfangs gefeierte Methode hat etwa ab 1955 stark an Bedeutung verloren und wird seit ca. 1970 nicht mehr angewendet, Psychopharmaka und verfeinerte stereotaktische Hirnoperationen wie die Thalomatomie haben sie völlig abgelöst. Heute wird sie als "Irrtum der Medizin" gesehen.

Ihren schrecklichen Ruf verdankt die Lobotomie allerdings ihrem massenhaften Missbrauch, und zwar fast weltweit.
Der "Lobotomie-Boom", der von den USA ausging, ist untrennbar mit dem Namen Walter Freeman verbunden. Auch Freeman war kein vorsätzlicher böser, ignoranter oder gar sadistischer Arzt. Die Sorge um psychiatrische Patienten trieb ihn um, sein Mitgefühl mit den Kranken soll ehrlich gewesen sein. Trotzdem brachte er unendliches Leid über zahllose Patienten und deren Angehörige.
Freemann entwickelte die "transorbitale Operationsmethode", weniger vornehm "Eispickelmethode" genannt. Auf den ersten Blick eine geniale Neuerung: die OP konnte unter örtlicher Betäubung vorgenommen werden und der Schädel des Patienten musste auch nicht mehr aufgebohrt werden. Das tatsächlich einem Eispickel ähnelnde Instrument wurde durch die Orbita (Augenhöhle) nach Durchbruch des dünnen Knochens am Orbitadach in das Schädelinnere getrieben und durch rotierende Bewegungen die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Stirnhirn durchtrennt - wobei unweigerlich Teile des Gehirns zerstört wurden. Beim Patienten blieben keine äußeren Narben zurück, nur ein vorübergehend zugeschwollenes "blaues Auge" zeugte von der brutalen OP.
Die Operationsmethode war so einfach, dass sie von einem einzigen Chirurgen durchgeführt werden konnte, der nicht einmal neurochirurgische Qualifikation haben musste.
Da der Patient (wie bei modernen Hirnoperationen) bei Bewußtsein bliebt, konnte die Wirkung der Operation sofort abgeschätzt werden. Allerdings dachte Freeman dabei nicht an ein die Hirnfunktionen möglichst schonendes Vorgehen - im Gegenteil: er hielt nur dann das Ausmaß der Substanzzerstörung im Gehirn für ausreichend, wenn seine Patienten ernsthafte kognitive Probleme, z. B. bei Rechenaufgaben, zeigten. Er glaubte beobachtet zu haben, dass nur bei Patienten, welche zumindest vorübergehend derlei Beeinträchtigungen aufwiesen, auch wirklich die Symptome ihrer psychischen Beschwerden gelindert wurden.
Mit der der zeit- und kostengünstigen "Eispickel"-Methode setzte Anfang der 1940er-Jahre der "Boom" der anfangs sogar von vielen Fachärzten als "Wundermittel" gepriesenen Lobotomie ein.
(Lobotomie: Tiefe Schnitte ins Gehirn GEO-Artikel über die drastische Operationsmethode Freemans.)

Freeman war der Hoffnungsträger für unzählige Familien mit psychisch kranken Angehörigen und Liebling der Presse. Seine Propaganda fiel wahrscheinlich deshalb auf so fruchtbaren Boden, weil sie versprach, soziale Probleme preisgünstig und schnell "aus der Welt zu schaffen". Sein Werbeslogan war: "Lobotomie bringt sie nach Hause."
Die Lobotomie: Wie ein Relikt aus finsterer Zeit (Deutsches Ärzteblatt).

Nach Angaben von P. R. Breggin (Elektroschock ist keine Therapie, 1989, Urban & Schwarzenberg) beschönigte Freeman die Auswirkungen seiner Therapie nicht: "Die Psychochirurgie erlangt ihre Erfolge dadurch, dass sie die Phantasie zerschmettert, Gefühle abstumpft, abstraktes Denken vernichtet und ein roboterähnliches, kontrollierbares Individuum schafft."
Auch wenn dieser Zynismus im krassen Kontrast zum bezeugten Mitgefühl Freemans mit seinen Patienten steht, kann ich mir leicht vorstellen, dass das "Therapieziel" "roboterähnliches, kontrollierbares Individuum" vor allem in Hinsicht auf die "forensische Psychiatrie" ausgesprochen verlockend klang: Wozu einen straffällig gewordenen "Geisteskranken" vielleicht lebenslang wegsperren und auf Staatskosten versorgen, wenn er, mit einer schnellen, preiswerten Hirnoperation "harmlos" gemacht, auch zuhause leben und womöglich einer nutzbringenden Erwerbsarbeit nachgehen kann?
Hat man sich erst einmal an diesen Gedanken gewöhnt, dann liegt der nächste Schritt verlockend nahe: Wieso sollte man nur schwerwiegende "Geisteskrankheiten" mit einer Lobotomie behandeln, wieso nicht auch z. B. hyperaktive, sexuell auffällige, notorisch kriminelle oder einfach nur renitente Menschen mit einem kleinen Schnitt ins Gehirn "resozialisieren"? In den 1950er Jahren wurde sogar versucht, Homosexualität oder eine kommunistische Einstellung mittel Lobotomie zu "kurieren". Solche menschenverachtenden "Therapien" waren nicht nur in den USA populär. In der UdSSR wurde z. B. die Psychiatrie systematisch politisch missbraucht, vor allem indem Systemkritiker für "geisteskrank" erklärt wurden und in geschlossenen Anstalten "verschwanden" - es sind aber auch "politisch motivierte" Lobotomien bekannt geworden. Es entbehrt nicht einer bitteren Ironie, dass sowohl Kommunismus wie Anti-Kommunismus mit Lobotomie "behandelt" wurden. (In der Sowjetunion wurde der Eingriff allerdings schon 1951 offiziell verboten.)
Weltweit werden die durchgeführten Operationen auf etwa eine Million geschätzt.

Infolge einer weiteren bitteren Ironie der Geschichte bleib Deutschland vom "Siegeszug der Lobotomie" weitgehend verschont - nach den grausamen Menschenversuchen durch Nazi-Ärzte und dem offenen Missbrauch der Psychiatrie in Nazideutschland schreckten die meisten Neurochirurgen im Nachkriegsdeutschland vor drastischen psychochirurgischen Eingriffen, die auch noch damit begründet wurden "gefährliche Irre" chirurgisch in "nützliche Mitglieder der Gesellschaft" zu verwandeln, glücklicherweise zurück - und sei es nur aus "Imagegründen".

In Deutschland war das Verfahren also nie wirklich etabliert, sehr im Gegensatz zu den etablierten Demokratien des europäischen Nordens wie Schweden, Finnland oder Norwegen.

Die "Hochburg" der Lobotomie war, jedenfalls gemessen an der Bevölkerungszahl, Schweden. Laut einem Bericht des staatlichen schwedischen Fernsehsenders SVT vom April 1998 wurden bis 1963 etwa 4500 Menschen lobotomiert, viele davon gegen ihren Willen. Mindestens 500 von ihnen waren nach heutiger Lesart keine psychiatrisch Erkrankten, sondern u.a. hyperaktive oder zurückgebliebene Kinder. Ein großer Teil der Lobotomierten stammte aus "unerwünschten Randgruppen" (namentlich Alkoholiker und Homosexuelle).

Der Sozialwissenschaftler Kenneth Ögren stellt in seiner Dissertation fest, dass in Schweden die Lobotomie in den 1940er und 1950er stärker akzeptiert wurde als in den USA. Ögren sieht eine mögliche Erklärung darin liegen, dass die medizinische Kultur Schwedens paternalistischer ist als die der USA - dass also Ärzte und andere Experten für die Patienten entscheiden, anstatt sie selbst entscheiden zu lassen.
Ögrens untersuchte die Diskussion um die damalige Psychochirurgie in Schweden, indem er den Diskurs innerhalb des Faches, die Darstellung dieser Methode in den Medien, und die Rolle der Regierung und der nationalen Gesundheitsbehörde untersuchte.
In der schwedischen Psychiatrie wurde die Diskussion über die Wirksamkeit und die Risiken der Lobotomie lange Zeit unterdrückt, bis als eine Reihe von Todesfällen an die Öffentlichkeit kam. In der Presse wurde die Lobotomie meistens positiv oder neutral dargestellt, obwohl die drastische Gehirnoperation fraglos vielen Journalisten und Lesern befremdlich erschien. Die US-Medien berichteten zu dieser Zeit generell kritischer über die Lobotomie.
Sowohl die Gesundheitsbehörden wie die Medien stellten die vielversprechenden Aussichten der Methode in den Vordergrund, und zwar ohne kritische Nachfragen oder eigenen Erkundigungen.
Möglicherweise drückte sich in der unkritischen Presse die paternalistische Haltung im schwedischen Gesundheitssystem aus: wenn ein Facharzt sagte, eine drastische Therapie sei das Beste für den Patienten, dann wurde das einfach nicht hinterfragt. Wenn ein Chefarzt sich für die Lobotomie aussprach, dann lobte auch die Lokalzeitung die Lobotomie.

Allgemein lässt sich sagen, dass sich die Medizin nicht in einem luftleeren Raum bewegt. Eine riskante (und wenig hilfreiche) Methode wie die Lobotomie kann durch unkritische Medien und durch die Methode verteidigende Aufsichtsbehörden legitim erscheinen.

Swedish Big Brother behind lobotomies in the 1940s and 1950s

Ögren, Kenneth - Psychosurgery in Sweden 1944 - 1958: the practice, the professional and media discourse

Meines Erachtens verstärkte die schwedische Autoritätsgläubigkeit nur die schon in den USA sichtbaren Tendenz, Lobotomie als Mittel zur Zwangsanpassung "störender" Menschen zu missbrauchen.
Dass es in Deutschland (West wie Ost) anders war, lag meines Erachtens einzig und allein an den Erfahrungen der Nazizeit, denn die Autoritätsgläubigkeit dürfte bei den Deutschen ähnlich ausgeprägt gewesen sein wie bei den Schweden. Man darf auch nicht vergessen, dass dem schwedischen Modell des "Volksheimes" damals noch eine sozialdemokratische, abgeschwächte Variante einer Volksgemeinschaftsideologie zugrunde lag, die zugunsten der Volksgesundheit und zwecks Entlastung des Wohlfahrtsstaates sogar Zwangssterilisierungen gerechtfertigt erschienen ließ. Erst ab den 1960er Jahren gab es, begleitet und gefördert von Jugendprotesten, eine Wende zu mehr Bürgerrechten und mehr innerer Demokratie (eine genaue Parallele zur BRD).
Es wäre aber interessant, einmal zu untersuchen, wie es sich mit dem "sozialtechnischen" Gebrauch weniger drastischer Methoden der Psychiatrie verhält. Z. B. habe ich den Eindruck, dass Psychopharmaka sehr oft nicht nur an wirklich an der Psyche erkrankte Menschen verabreicht werden, sondern auch an Menschen, die nur "nicht richtig funktionieren".

Nachtrag: Artikel aus der "Jungle World" über die Lobotomie in Norwegen: "Wir meinen es doch gut". In Norwegen wurde die Lobotomie bis 1974 (!) angewendet, die meisten Opfer waren Frauen.

Freitag, 13. Juni 2008

Homöopathie und Immunisierung (gegen Kritik)

Mein Verhältnis zur Homöopathie ist, vorsichtig gesagt, zwiespältig.
Modernen Anforderungen genügende Studien zeigen recht eindeutig, dass homöopathische Behandlungen nicht signifikant wirksamer sind, als die zur Kontrolle eingesetzten Placebos.

Dass heißt nun nicht, dass Homöophatie therapeutisch sinnlos wäre - denn der "Placebo-Effekt" besteht ja nicht darin, dass der Patient sich nur einbildet, dass es ihm besser ginge. Wie komplex das Thema ist, erkennt man z. B. daran, dass Homöopathie auch bei Tieren und kleinen Kindern wirkt. Auch gibt es einige homöopathische Präparate, die mehr sein dürften als reine Placebos.

Was ich allerdings für ausgemachte Pseudowissenschaft halte, ist die hahnemannsche Lehre. Hahnemann gründete vor gut 200 Jahren seine Homöopathie auf zwei Grundsätzen. Zum einen sollen Krankheiten durch Medikamente behandelt werden, welche ähnliche Symptome hervorrufen wie die Krankheit selbst: "Ähnliches werde durch Ähnliches geheilt" (similia similibus curentur). Es gibt tatsächlich Therapien, wie etwa Impfungen oder Desensibilisierungen gegen Allergene, die diesem Prinzip zu entsprechen scheinen - aber Hahnemanns Idee, dass ein Heilmittel an Gesunden ähnliche Symptome hervorrufen soll, wie die, an denen der Kranke leidet, ist in verallgemeinerter Form nicht haltbar.
Das andere Problem ist die sprichwörtliche homöopathische Verdünnung - ab etwa D 12 sind kaum noch Wirkstoffmoleküle im Präparat zu finden. Dementsprechend begründete Hahnemann die Wirksamkeit der "Hochpotenzen" in seinem Standardwerk "Organon der Heilkunst" nicht mit der Wirkung der körperlichen Substanz oder physischen Wirkung eines Arzneistoffes, sondern er schreibt sie einer immateriellen, beim Verschütteln oder Verreiben aus den Wirkstoffen freigewordenen, "spezifischen Arzneikraft" zu. Mit anderen Worten: Homöopathie beruht auf Magie.

Das entscheidende Kriterium, die hahnemannsche Lehre als Pseudowissenschaft zu bezeichnen, ist allerdings die Art und Weise, mir der Hahnemann seine Hypothese gegen ihre Widerlegung immunisierte: Wirkt ein hömöopathisches Medikament nicht oder nicht wie gewünscht, dann gibt es eine lange Reihe Einflüsse, die Hahnemann für die Nichtwirkung der Homöopathie verantwortlich machte. Ich zitiere aus der Fußnote zu § 260 des "Organon", was alles laut Hahnemann die Wirkung einer homöopathischen Arznei stören kann:
Kaffee, feiner chinesischer und anderer Kräuterthee; Biere mit arzneilichen, für den Zustand des Kranken unangemessenen Gewächssubstanzen angemacht, sogenannte feine, mit arzneilichen Gewürzen bereitete Liqueure, alle Arten Punsch, gewürzte Schokolade, Riechwasser und Parfümerieen mancher Art, stark duftende Blumen im Zimmer, aus Arzneien zusammengesetzte Zahnpulver und Zahnspiritus. Riechkißchen, hochgewürzte Speisen und Saucen, gewürztes Backwerk und Gefrornes mit arzneilichen Stoffen, z. B. Kaffee, Vanille u.s.w. bereitet, rohe, arzneiliche Kräuter auf Suppen, Gemüße von Kräutern, Wurzeln und Keim-Stengeln (wie Spargel mit langen, grünen Spitzen), Hopfenkeime und alle Vegetabilien, welche Arzneikraft besitzen, Selerie, Petersilie, Sauerampfer, Dragun, alle Zwiebel-Arten, u.s.w.; alter Käse und Thierspeisen, welche faulicht sind (gemeint sind fermentierte Fleischprodukte wie z.B. Salami M. M.), (Fleisch und Fett von Schweinen, Enten und Gänsen, oder allzu junges Kalbfleisch und saure Speisen; Salate aller Art), welche arzneiliche Nebenwirkungen haben, sind eben so sehr von Kranken dieser Art zu entfernen als jedes Uebermaß, selbst das des Zuckers und Kochsalzes, so wie geistige, nicht mit viel Wasser verdünnte Getränke; Stubenhitze, schafwollene Haut-Bekleidung, sitzende Lebensart in eingesperrter Stuben-Luft, oder öftere, bloß negative Bewegung (durch Reiten, Fahren, Schaukeln), übermäßiges Kind-Säugen, langer Mittagsschlaf im Liegen (in Betten), Lesen in wagerechter Lage, Nachtleben, Unreinlichkeit, unnatürliche Wohllust, Entnervung durch Lesen schlüpfriger Schriften, Onanism oder, sei es aus Aberglauben, sei es um Kinder-Erzeugung in der Ehe zu verhüten, unvollkommner, oder ganz unterdrückter Beischlaf; Gegenstände des Zornes, des Grames, des Aergernisses, leidenschaftliches Spiel, übertriebene Anstrengung des Geistes und Körpers, vorzüglich gleich nach der Mahlzeit; sumpfige Wohngegend und dumpfige Zimmer; karges Darben’ u.s.w. Alle diese Dinge müssen möglichst vermieden oder entfernt werden, wenn die Heilung nicht gehindert oder gar unmöglich gemacht werden soll. Einige meiner Nachahmer scheinen durch Verbieten noch weit mehrer, ziemlich gleichgültiger Dinge die Diät des Kranken unnöthig zu erschweren, was nicht zu billigen ist.
Da ich mich ein wenig mit zeremonieller Magie befasst habe, fällt mir die Parallele zu einer bestimmten Sorte magischer Rituale ein, deren Urheber gleich einen langen Katalog von Begründungen, oder besser Entschuldigungen, angeben, wieso dieses mächtige Ritual normalerweise überhaupt nichts bewirkt - der Magier kann schrecklich viel falsch machen, und wenn er das Ritual doch richtig durchgeführt hat, gibt es viele böse, böse störende äußere Einflüsse.

Allerdings: Homöopathie hilft oft, vielleicht sogar über den Placeboeffekt hinaus. Meiner Ansicht nach ist die pseudowissenschaftliche Lehre hinter der Homöopathie kein Grund, homöopathische Präparate, die sich in der Praxis bewährt haben, aus der Medizin zu verbannen.

Ein Beispiel für eine in vielen Fällen wirksame Therapie, deren "theoretische Grundlage" wissenschaftlichen Ansprüchen in keiner Weise gerecht wird, ist die Akupunktur. Die von der traditionellen chinesischen Medizin angenommenen Wirkmechanismen konnten nicht nachgewiesen werden, sie widersprechen sogar wissenschaftlichen Erkenntnissen über Funktion und Aufbau des menschlichen Körpers. Es ließ sich bisher auch kein anderer Wirkmechanismus stichhaltig nachweisen (außer dem bei jeder Therapie wirksamen Placeboeffekt). Trotzdem ist die Akupunktur erstaunlich wirksam.

Mittwoch, 30. April 2008

Albert Hofmann (1906 - 2008)

Vor gut zwei Jahren bloggte ich das erste Mal von ihm und seinem "Sorgenkind" Albert Hofmann zum 100. Geburtstag, dann immer wieder mal von diesem "Sorgenkind", dem LSD.
Gestern starb Albert Hofmann im Alter von 102 Jahren an einem Herzinfarkt, wobei er noch bis vor einiger Zeit wissenschaftlich gearbeitet hatte. (Kein Argument für die Anhebung des Rentenalters, aber eines dafür, dass Denken - als "geistige Arbeit" und als Meditation - das Gehirn fit hält - und z. T heftige Selbstversuche mit Hallozinogenen ihm nicht weiter schaden.)

Via: cynx.

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Geheimauftrag MARIA STUART...
Krisenfall Meuterei Der dritte Roman der Reihe "Geheimauftrag...
MMarheinecke - 9. Apr, 19:42
Urlaubs-... Bräune
Das "Coppertone Girl", Symbol der Sonnenkosmetik-Marke...
MMarheinecke - 1. Aug, 08:34
Geheimauftrag MARIA STUART...
Ahoi, gerade frisch mit dem Postschiff eingetoffen. Der...
MMarheinecke - 26. Mär, 06:48
Kleine Korrektur. Man...
Kleine Korrektur. Man kann/sollte versuchen die Brille...
creezy - 11. Nov, 11:29
strukturell antisemitisch
Inhaltlich stimme ich Deinem Text zwar zu, aber den...
dummerle - 5. Jun, 11:12

Suche

 

Status

Online seit 6732 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:08

Credits


doof-aber-gut
Gedankenfutter
Geschichte
Geschichte der Technik
Hartz IV
Kulturelles
Medien, Lobby & PR
Medizin
Persönliches
Politisches
Religion, Magie, Mythen
Überwachungsgesellschaft
Umwelt
Wirtschaft
Wissenschaft & Technik
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren