bzw. "Was ist normal?"
Diese Frage geht dieses sehr interessante Interview auf Zeit.de nach:
Psychiatrie: "Manche Leute hören Engel" Der niederländische Psychiater Jim van Os beklagt darin, wie willkürlich die Zuordnung von psychischen Krankheiten getroffen wird. Für ihn bestimmt der Leidensdruck den Therapiebedarf.
Ein pragmatischer und praxisnaher Ansatz: mit einer milden Form des
Asperger-Syndroms ist in der Regel weder ein Leidensdruck für den Betroffenen verbunden, noch beeinträchtigt oder gefährdet er seine Mitmenschen. Tatsächlich müssen viele Genies, vor allem solche auf künstlerischem oder mathematischen Gebiet, als "Aspergis" gelten - gesamtgesellschaftlich ist diese "psychische Anomalität" wahrscheinlich nützlich. Das schreibe ich ausdrücklich, weil es leider üblich ist, "Krankheiten" oder auch nur bestimmte Syndrome sozusagen nach Euro und Cent aufzurechnen: "Allein in Deutschland verursachen (z. B. Depressionen) jedes Jahr einen gesamtwirtschaftliche Schaden von (n) Millionen Euro." - Was ich wieder als "gesellschaftliche Syndrom eines ins rein Ökonomische gewendeten Utilitarismus" umschreiben könnte: "Nützlich ist, was materielle Werte schafft."
Oder was im Alltag heißt, dass Krankheit mit "Arbeitsunfähigkeit" gleichgesetzt wird - wer sich durch acht Stunden am Arbeitsplatz irgendwie durchquält, ist eben "gesund", unabhängig vom Leidensdruck.
Man muss nicht Psychiatrie-Kritiker im Sinne
Michel Foucault sein, um zu erkennen, dass "psychische Krankheiten" gesellschaftlich konstruiert" sind. Es hängt vom gesellschaftlichem Umfeld ab, ob jemand, der "Stimmen hört", ohne darunter zu leiden, dennoch respektiert (wie die "Stimmenhörer" Sokrates und Goethe), als "Spinner" ausgegrenzt, als "Kranker" zwangstherapiert, als "Besessener" verfolgt, oder als "Medium" verehrt wird.
Eine weiteres gesellschaftliches Phänomen, das van Os erwähnt, schließt unmittelbar daran an:
Dass Menschen wegen psychischer Probleme den Arzt aufsuchen, ist nicht sehr häufig. Aber ich gebe zu, dass es eine Tendenz gibt, normale menschliche Erfahrungen zu psychiatrisieren. Es geht immer darum, eine Diagnose aufzuschreiben. Aber eine Diagnose zu haben heißt nicht unbedingt, dass man eine Behandlung braucht. Die meisten Krankheiten im
ICD-10 verschwinden von selbst.
Klassisches Beispiel ist der gewöhnliche Schnupfen, der ohne ärztliche Behandlung 14 Tage und mit Arzt zwei Wochen dauert. Auf psychiatrischem Gebiet wäre die "saisonale depressive Verstimmung" das Gegenstück zum Schnupfen - erst wenn die Beschwerden über längere Zeit anhalten, wird eine behandlungsbedürftige Krankheit daraus. (Allerdings darf nicht verschwiegen werden, was an im Grunde überflüssigen Medikamenten gegen den einfachen Schnupfen verdient wird - und wie viele Antidepressiva nur aufgrund vorübergehender "Tiefs" verordnet werden.)
Ein anderes Problem besteht darin, dass "normale" Verhaltensweisen pathologisiert werden. Ein Beispiel: es ist völlig normal, dass jemand, der sich längere Zeit überarbeitet hat oder der am Arbeitsplatz dauernd überfordert wird, oder auch jemand, der aus Ehrgeiz oder Verantwortungsgefühl Selbstausbeutung betreibt "zusammenklappt", "fix und fertig" oder "ausgebrannt" ist. Macht man ein "Burn-Out-Syndrom" daraus, was ja im Wortsinn nicht anderes bedeutet, verschiebt sich Wahrnehmung ins "Medizinisch-Therapeutische", weg von den Arbeitsbedingungen, hin zum "kranken" Betroffenen. Nicht selten helfen dann Medikamente dabei, "durchzuhalten". Es gibt sogar Unternehmen, die eine "Burn-Out-Prophylaxe" betreiben - wozu in der Regel nicht "weniger Stress am Arbeitsplatz", sondern z. B. das (an sich sinnvolle) Erlernen von Entspannungstechniken gehört. In der Tendenz wird also der arbeitende Mensch an die Arbeit angepasst, und nicht umgekehrt.
Beim Wort "Prophylaxe" sind wir bei den Befürwortern eines
Präventionsstaates - ein Staat, welcher die ihm zur Verfügung stehenden Informationen, die nicht zuletzt durch permanente Überwachung der Bürger gewonnen werden, massiv einsetzt, um unerwünschtes Verhalten der Bürger von vornherein zu verhindern. Die Unschuldsvermutung ist im Präventionsstaat ausgehebelt, einfach, weil ein "Gefährder" ja noch nicht schuldhaft oder auch nur fahrlässig gehandelt hat - es besteht lediglich die Gefahr, dass er gefährlich werden
könnte - weshalb der Gefährder präventiv "ausgeschaltet" werden muss.
Der Eindruck, die Befürworter des Präventionsstaates verhielten sich paranoid, mag naheliegend sein, es ist aber falsch, Politiker oder Sicherheitsexperten, die sich, mehr oder weniger verbrämt, euphemistisch umschrieben oder demonstrativ panisch für mehr Prävention durch mehr Überwachung einsetzen, "Paranoiker" zu nennen.
Abgesehen davon, dass diese "Diagnose" in den meisten Fälle nicht zutreffen dürfte, trägt das zum achselzuckenden Fatalismus bei: "Die sind halt so, da kann man nichts machen." - Was ein ähnlich kontraproduktiver resignierender Spruch wie das berüchtigte "die da oben machen ja doch, was sie wollen" ist. Resignation stärkt unbeabsichtigt die autoritären Strukturen, unter denen der Resignierende leidet.
Noch eine Feststellung van Os ist bemerkenswert:
Wir Psychiater werden als die schlechten Kerle angesehen, weil wir bedrohliche Dinge mit Menschen anstellen, die wunderbar romantische Krankheiten haben.
Damit spiel er auf die problematische Neigung vieler Psychiatriekritiker an, Zustände wie Depression oder auch bestimmte Formen der
Schizophrenie nicht nur verharmlosen, sondern regelrecht verherrlichen, ohne Rücksicht auf den Leidensdruck oder auch konkrete Gefahren für Mitmenschen.