Gedankenfutter

Mittwoch, 18. Juli 2007

Es ist so schön "Opfer" zu sein ...

Da das leidige Thema "deutsch-polnische Beziehungen" ein wenig aus den Schlagzeilen verschwunden ist, ist es vielleicht die richtige Zeit, den Blick auf die grundsätzlichen Fragen hinter diesen immer wieder aufbrandenden politischen Querelen zu richten.
Auffällig an den periodisch aufflammenden Streitereien sind zwei Tatsachen. Sie werden immer von Gruppen entfacht, deren Identität sich auf den Status "Opfer der Geschichte" stützt. Auf deutscher Seite waren das lange Zeit die Vertriebenenverbände, inzwischen verlagert sich die Rolle des Anspruchsstellers auf noch kleinere Sonderinteressenvereine, wie die sich die so nennende "Preußischen Treuhand".
Obwohl diese Gruppen in der Tat winzige Minderheiten sind, wird von polnischer Seite nicht ganz zu Unrecht darauf hingewiesen, dass diese Gruppen nur das aussprechen, was sich andere Deutsche nur nicht offen zu sagen trauen: Dass nämlich die Vertriebenen unschuldige Opfer einer Politik waren, die sie nicht zu verantworten hatten.
Der polnischen Seite steht historisch betrachtet weitaus mehr Recht zu, sich als "Opfer der Deutschen" zu sehen. Immerhin wurde Polen von Deutschland unter der Billigung der Mehrheit der Deutschen überfallen, annektiert, seine Städte zerstört, sein Industrie ausgeplündert, und seine "Intelligenz" und alle, die auch nur im Verdacht standen, Widerstand leisten zu können, rücksichtslos ermordet. Die deutschen Pläne sahen vor, einen Teil der Polen "einzudeutschen" - was weit über die "Germanisierung" alten Stils hinausging - den weitaus größeren Teil dauerhaft zu Versklaven und die "Unbrauchbaren" kurzerhand umzubringen. Ob auch diese Forderungen mehrheitsfähig gewesen wären, ist eine akademische Fragen; aus polnischer Sicht ist entscheidend, dass es diese Pläne gab - und es anscheinend niemanden gab, der dagegen Widerstand leistete. (Selbst die Verschwörer des 20. Juni 1944 wollten nicht auf Annektionen polnischen Territoriums völlig verzichten.) Aus polnischer Sicht sind die umgesiedelten Deutschen noch sehr gut weggekommen.
Dennoch ist die Instrumentalisierung eines - vermeintlichen und realen - Opferstatus durch die Kaczynski-Regierung nur als bizarr zu bezeichnen. Und einiges deutet darauf hin, dass der Status eines Opfers für Polen nicht weniger attraktiv ist, als für Deutsche - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Deutsche erhoffen sich vom "Opferstatus" (von materiellen Interessen kleine Sondergruppen abgesehen) eher eine "Erleichterung historischer Schuld", Polen eher "historische Gerechtigkeit" - was immer das im Einzelfall auch heißen mag.

Diskussionen, wer wirklich Opfer ist und wer nicht, sind ein müssiges Unterfangen - nicht nur wegen der "Opferkonkurrenz" - ("Wir haben aber mehr gelitten als Ihr!") - sonders auch, weil es zu Aufrechnungen dessen führen kann, was nicht aufgerechnet werden *kann*: Menschenleben, Kulturgüter, Schmerzen, verlorene Lebenszeit, Heimat, Identität, persönliche Integrität usw. von "Schuld" ganz abzusehen. Das sind alles Werte, die sich auf wirkliche, lebendige, individuelle Menschen beziehen, nur auf Menschen bezogen Sinn machen, auf "natürliche Personen", nicht auf abstrakte Konstrukte wie Nationalstaaten, Religionsgemeinschaften, "etnische Gruppen", juristische Personen wie Stiftungen usw..
Ich fürchte, wer mit "erbrachten Opfern" argumentiert, steht schon mit einen Bein in Kollektivschuld-Projektionen - und möglicherweise mit dem anderen in der für totalitäre Ideologien typischen Überhöhung des persönlichen "Opfers" zugunsten der "Gemeinschaft".
Nein, es ist keine sprachliche Schlamperei, wenn ich hier "Opfer" (z. B. im Sinne von "Kriegsopfer"), "Opfer" zugunsten einer Gemeinschaft (im Sinne von "Aufopferung") und Opfer als religiöse Praktik gleichsetze. Jedes "Opfer" wird - für etwas - erbracht, am einfachsten ist dieses "Gabe - Gegengabe"-Prinzip beim Dankopfer (bzw. christlich: der Votivgabe) zu sehen: ein Gott hat mir Gutes getan, also gebe ich ihm / ihr etwas als Gegengabe. (Bzw. entziehe es dem menschlichen Gebrauch.) Sicher, im Falle der Verkehrs- oder Verbrechensopfer ist "Opfer" längst auf eine übertragene Bedeutung reduziert, beim "Kriegsopfer" ist das aber schon fraglich: "Es geht nicht ohne Opfer!" - und wenn man sich einen "Opferstatus" zuschreibt, dann steht dahinter stets das Denken: ich habe etwa hingegeben, geopfert, dafür will ich Ausgleich. Die Analogie zum "Blutrachegedanken" ist naheliegend.

Die Selbststilisierung zum "Opfer" ist wohl deshalb so beliebt, weil sie *wirksam* ist. (Sogar im Umfeld der Einführung der oktroierten EU-Verfassung, die nicht "Verfassung" genannt wird, weil sie auf sauber-demokratischem Wege wohl nicht durchsetzbar ist. Ich spiele auf die Spielchen den Kaczynski-Brüder an. Die zumindest innenpolitisch sehr gut funktionieren.)

Wenden wir uns der deutschen Seite zu, der es heute kaum noch um die Revision der Oder-Neiße-Linie oder materielle "Entschädigungen" geht - sondern um eine "Erleichterung von historischer Schuld".

Seit der deutschen Vereinigung ist es in Deutschland erkennbar "schick" geworden, sich als Mitglied oder "Erbe" einer "Opfergesellschaft" zu sehen. Während gegenüber den wahren NS-Opfern nach wie vor und nicht nur von den "üblichen Verdächtigen" im rechtsextremen Lager immer noch einen "Schlußstrich" fordern, wenden sich die Deutschen selbst zu. Es sieht manchmal so aus, als ob alle auf einmal Opfer Hitlers gewesen sein wollen. Die Vertriebenen sollen, so der Titel einer ZDF-Produktion, Hitlers letzte Opfer gewesen sein. (Eine historisch problematische Aussage, nicht nur wegen der überdurchschnittlich breiten Unterstützung, die die Nazis in den Ostgebieten genossen.)
Es hat zahlreiche deutsche Opfer gegeben, kein Zweifel. Im Bombenkrieg starben 600.000 Deutsche, und nach modernen Schätzungen starben 500.000 bis 600.000 Menschen bei der Umsiedlung und Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa.

Sind diese Toten Opfer der Allierten, Opfer des NS-Regimes oder "selber schuld", also gar keine Opfer? In "antideutschen" Kreisen macht man sich die Antwort leicht - Deutsche waren Täter, und Täter können keine Opfer sein. Auf der "übergeordneten" historische Ebene ist es ebenso klar: ohne den von Deutschland entfesselten Krieg wären diese Menschen nicht gestorben. Damit dürfte die Frage nach der "Schuld" - die meiner Ansicht nach ohnehin überflüssig und für eine pragmatische Problemlösung äußerst kontraproduktiv sind - hinreichend beantwortet sein.
Die Ursache, weshalb die Opferzahlen auch auf Deutscher Seite sehr hoch waren, liegt ebenfalls auf deutscher Seite: das NS-Regime sorgte für eine Vermischung von Militär und Zivilem (Stichwort „Heimatfront“), so dass eine Unterscheidung oft schwer bis unmöglich war. Auf dem Schiff „Wilhelm Gustloff“ befanden sich zum Beispiel nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Militärpersonal. Vom Kriegsrecht her gesehen, war die Torpedierung durch ein sowjetisches U-Boot also durchaus legitim.

Die Ursache dafür, dass Deutsche dazu neigen, die deutschen Toten des Bombenkrieges als "Opfer der Allierten" zu sehen, also eine Schuldzuweisung zur eigenen moralischen Entlastung vornehmen, liegt in der Zeit des untergehenden "Großdeutschen Reiches".
Der Bombenkrieg bestätigte die Schuldgefühle der Deutschen und spielte Goebbels' Propaganda unbeabsichtigt in die Karten. Viele Deutsche wussten (oder ahnten wenigstens) welche Verbrechen Deutsche begangen hatten. In den Luftangriffen erkannten sie den Willen zur gewaltigen Vergeltung. Diese Erkenntnis führte bei vielen zu einem blinden Weitermachen, um bloß nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Nach dem Ende des Krieges kippte die Haltung um, aber der Bombenkrieg wurde nach wie vor, wie auch die Vertreibung, (historisch gesehen falsch) als "vollzogene Rache" der "Anderen" gesehen. Oder auch als kollektive Strafe für "im deutschem Namen" begangenen Verbrechen.
Erst dieser Irrtum ermöglicht die ersehnte "historische Entlastung". Die "Strafe" blieb den meisten für die Verbrechen Verantwortlichen - den Nazis, ihren Helfern und ihren Nutznießern - erspart. So wie von einer "allierten Rache" an Deutschland keine Rede sein konnte.

Freitag, 13. Juli 2007

Versuch, Antworten an Europa zu finden

Manchmal sind einige Wochen Abstand recht nützlich, um zu einem Thema Zugang zu finden. Vor allem, wenn es um etwas geht, das kurzzeitig im Fokus der Massenmedien stand. Europa will Kreationismus nicht verbannen.
Es ging um einen Bericht des Europarats-Ausschusses für Kultur, Wissenschaft und Bildung, verfasst unter Federführung des französischen Sozialisten Guy Lengagne, der in dem Satz gipfelte:
"Wenn wir nicht aufpassen, könnte der Kreationismus eine Bedrohung der Menschenrechte werden."
Dass der Europarat sich nicht entschließen konnte, sich Lengangnes Besorgnis anzuschließen, fand erstaunlich (besorgniserregend?) viel Beifall, weit über die "üblichen Verdächtigen", fundamentalistische bzw. erzkonservativen Christen, hinaus.

Ich persönlich finde den Kommentar zur Meldung auf dem schweizerischen evangelischen Portal "Jesus.ch" besonders interessant:
Jesus.ch: Europarat will Kreationismus nicht verdammen.
Genauer gesagt: der Artikel stellt - buchstäblich - Fragen, durch die ich mich, obwohl ich nicht zur Gruppe Lenganges gehöre und noch nicht einmal Atheist bin - angesprochen fühle.

Vorweg: Lengagne ging es bei seinem Antrag nicht darum, den "Kreationismus zu verdammen" - sondern ihn aus Bereichen zu verbannen, in denen er (und jede andere religiös oder ideologisch begründete Tatsachenbehauptung) nichts zu suchen hat.
Es wäre interessant, von Monsieur Lengagne und seiner Gruppe Antworten auf die folgenden Fragen zu erhalten:

- Inwiefern hat der Glaube an die Evolution des Menschen die Mentalität gefördert, dass wir auf Kosten der folgenden Generationen die natürlichen Ressourcen des Planeten verbrauchen können - weil diese, evolutionär fortgeschritten, Lösungen finden werden?
Diese Frage erkenne ich als "Retourkutsche" auf die von Kritikern des Christentums aufgestellte Frage, inwiefern der (fehlübersetzte!) Bibelsatz: "Und macht Euch die Erde untertan" zur ... Entlarvend ist die Formulierung: "Glaube an die Evolution" - wer an die "Evolution" im religiösen Sinne "glaubt", versteht sie nicht. Jede wissenschaftliche Theorie stellt einen vorläufigen Stand des Wissens dar, an den man höchsten im umgangsprachliche Sinne von "ich vermute, dass es wahr ist" "glauben" kann.
Nach meinen Beobachtungen ist es so, dass Menschen mit darwinistischem Weltbild eher bereit sind, sich und die Menschheit als Teil "der Natur" zu sehen, als solche, die einem Weltbild anhängen, dem gemäß die Menschen "Krone der Schöpfung" sind. (Wobei es durchaus Atheisten und Anhänger eines Evolutionistischen Weltbildes gibt, die den Menschen für den "Endzweck der Evolution" halten - und Christen, die nicht daran glauben, die Welt sei allein des Menschen wegen geschaffen worden.) Es ist kein Zufall, dass die Wissenschaft der Ökologie von einem glühenden Darwin-Verehrer und entschiedenem Materialisten, Ernst Haeckel, begründet wurde.
Die "nach uns die Sintflut"-Mentalität, der folgende Generationen schlicht egal sind, wie die Mentaliät des technokratischen Hyper-Optimismus, die davon ausgeht, dass "der Mensch" für jedes Problem schon eine Lösung finden wird, findet sich sowohl bei gläubigen Christen wie bei entschiedenen Atheisten.
Es ist historisch mühelos nachweisbar, dass die in der Frage beklagte Ausbeuter-Mentalität gegenüber "der Natur" lange vor Darwin einsetzte (nämlich schon in der Jungsteinzeit) - und dass sie ihre entscheidende Verschärfung in der europäischen Frühen Neuzeit erfuhr - vor Darwin und auch vor der Aufklärung und vor der Industriellen Revolution. Ideologien des "unaufhaltsamen Fortschritts" und der quasi "Allmächtigkeit" des Menschen haben viel zur Mentalität beigetragen, dass wir auf Kosten der folgenden Generationen die natürlichen Ressourcen des Planeten verbrauchen können. Diese Ideologien von der Sonderrolle des Menschen können sowohl religiös, aus einem missverstandenen Bibelwort, wie materialistisch, aus missverstandenem Darwinismus begründet sein.
- Was hat der Wildwuchs der säkularen, Gott-losen Fortschrittsgläubigkeit im 20. Jahrhundert - kein Gott im Himmel, kein Schöpfer, der Rechenschaft einfordert - zum Grössenwahn und zur Umweltzerstörung beigetragen?
Ich erkenne hier eine gängige Denkstruktur wieder, die in Gott tatsächlich jenes "unsichtbare Alphamännchen" sieht, gegen dass Atheisten wie Michael Schmidt-Salomon so gern polemisieren (und dabei großzügig andere Gottesvorstellungen übersehen - nun gut, die meisten Christen, Moslems und sogar Juden werden sich Gott tatsächlich als "allwissenden Übervater und Über-Boss" vorstellen). Mehr noch: dahinter steckt nicht nur ein problematisches Gottesbild, sondern ein noch problematischeres Menschenbild: der Mensch handelt nur dann "richtig" und "gut" im Bewusstsein drohender Strafe. Entkommt er der irdischen Gerechtigkeit, dann zieht ihn der allwissende himmlische Ermittler, Richter und Scharfrichter in Einem schon zur Rechenschaft - unter Drohung der grauenerregenden Strafe der "ewigen Verdammnis".
Unbestritten: der Größenwahn hat im 20. Jahrhundert extrem üble Folgen gezeigt. Allerdings war der Größenwahn, selbst im Falle des sich "atheistisch" nennenden Stalinismus oder des Maoismus, nicht wirklich "säkular". Auch in seiner stalinistischen Form hatte der Größenwahn eine die übliche transzendente Komponente: der Größenwahnsinnige glaubt, dass Gott (die Vorsehung, der Weltgeist, oder, auf vulgärmaxistisch: das Gesetz der Geschichte) auf seiner Seite steht und ist sich absolut sicher, "gottgefällig" (im Interesse der Arbeiterklasse) zu handeln. In der Praxis paart sich Gottesfurcht durchaus mit einer naiver Technikgläubigkeit - der Fundamentalismus in den USA liefert hierzu reichlich Anschauungsmaterial. Größenwahn und Umweltzerstörung führe ich auf eine unaufgeklärte, nicht die eigenen Motive und die möglichen Folgen des eigenen Handels hinterfragende, Weltsicht zurück. Die Angst vor der Strafe Gottes lehne ich, selbst wenn sie zu "bescheidenes" und "umweltgerechtes" Verhalten führt, als selbstverschuldete Unmündigkeit ab.
- Wie schafft es der Mensch, der sich als "Zigeuner am Rande des Universums", als Zufallsprodukt eines blinden Prozesses ohne Ende verstehen muss, Sinn im Leben zu finden und sich vernünftig, verantwortungsbewusst und zukunftsoffen zu verhalten?
Hier antworte ich als "naturreligiöser" Mensch: Der Mensch ist, obwohl er nicht das Ergebnis zielgerichteter Planung ist, ist kein Zufallsprodukt. Noch nicht einmal dann, wenn man sich auf die reine Darwin'sche Theorie in ihrer ursprünglichen Form beschränkt: es gibt, in Form der natürlichen Auslese ("Struggle for Life") ein Element der "Notwendigkeit" in Form der Naturgesetze (die ihrerseits Modelle sind, in der wie das, was wir von der Struktur des Universums erfahren konnten, ordnen).
Dass wir auf dem dritten Planeten eines recht durchschnittlichen Typ G-Sternes in einem unbedeutenden Seitenarm einer recht durchschnittlichen Galaxie leben, diese Erfurcht gebietende Konsequenz aus der "Kopernikanischen Wende", mahnt uns zur Bescheidenheit: "Hallo, das Universum ist nicht für uns alleine entstanden." Dass der Prozess der Evolution offen ist (nicht "ohne Ende" - nichts in diesem Universum ist unendlich), weist in die selbe Richtung: wir sind weder "Krone der Schöpfung" noch "Endziel der Evolution". Das Universum hat ebenso wenig die Erde einen "Rand", von dem man abstürzen könnte - übrigens aus dem selben Grunde, nur mit einer Dimension mehr. Außerdem zeugt der Gebrauch der Metapher "Zigeuner am Rande des Universums" von einen unbegründeten kulturellem Vorurteil gegenüber "fahrendem Volk" - nämlich: das der Wurzellosigkeit. Gerade die "kosmische Nebenrolle" des "Zigeuners am Rande des Universums" bietet uns die Chance, unser Leben ständig mit neuem Sinn zu versehen. Die Fragen nach Vernunft, Verantwortungsbewusstsein und Zukunftsoffenheit sind buchstäblich Überlebensfragen. Wir müssen sie immer wieder aufs Neue stellen, ein für alle mal gültige Antworten gibt es nicht. Diese Fragen resultieren aus der Frage: "Wie schaffe ich es, zu überleben?" Bezogen auf "andere Menschen" "die Menschheit" und "die Erde" ist unsere Fähigkeit, uns gedanklich in die Lage Anderer zu versetzen, mitzufühlen, mitzudenken, Empathie, inneres Verständnis, auch für Menschen, die ich nicht persönlich kenne und nie kennen lernen werden, auch für Tiere, Pflanzen, Kulturen, Wesenheiten, die Erde als Ganzes, entscheidend. Dazu sind Atheisten, Agnostiker und Gläubige gleichermaßen fähig - zur Nächstenliebe und sogar zur Feindesliebe.
- Wenn der Mensch das Mass aller Dinge ist, sich aber als ständig evoluierendes Wesen sieht, wie kann er Werte setzen, die der Gesellschaft Stabilität verleihen?
Der Satz "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" ist der Kernsatz des Humanismus. Er ist eine ethische Handlungsanweisung, den "Menschen" im Mittelpunkt allen menschlichen Tuns zu sehen. Jeden Menschen. Auch und grade jene, die sich nicht wehren können, auch und gerade jene "folgenden Generationen", den Menschen, die heute, übermorgen oder in 36000 Jahren geboren werden. Auch wenn das Universum nicht allein unseretwegen gemacht ist, und wir nur eine Affenart mit hypertrophiertem Großhirn sind - die Menschheit ist unsere Spezies. Ich übersetze "der Mensch ist das Maß aller Dinge" mit Karl Popper als "Lasst Ideen sterben, nicht Menschen!". Da "der Mensch" wie "jeder Mensch" ein sich ständig wandelndes Wesen ist, müssen Werte und Sinn immer wieder aufs Neue gefunden werden. Die Stabilität einer Gesellschaft ist kein Wert an sich, sondern eine Gesellschaft muss sich nach den Lebensinteressen der Menschen, aus der sie besteht, richten und sich gegebenenfalls wandeln. Der Mensch kann sich selbst Werte für den Aufbau einer Gesellschaft setzen, so wie er selbst Stangen für ein Zelt anfertigen kann - er kann es, weil er ein schöpferisches, einfühlsames und mit eigenem Willen ausgestattetes Wesen ist. "Ewige", transzendente, religiöse Werte haben den Nachteil, dass sie den notwendigen Wandel verhindern und eine Gesellschaft erstarren lassen.

Übrigens, wenn Lengagne behauptet: "Wenn wir nicht aufpassen, könnte der Kreationismus eine Bedrohung der Menschenrechte werden", dann hat er völlig recht. Jede Doktrin, die keinen Zweifel zulässt, bedroht die Menschenrechte.

Mittwoch, 6. Juni 2007

Besserwisserei aus gutem Grund: Was heißt "strukturell antisemitisch"?

Aus mehr oder weniger aktuellem Anlass schreibe ich ein wenig zum im bestimmten Kreisen viel verwendeten - und oft falsch verwendeten Begriff "struktureller Antisemitismus". Tatsächlich habe ich mich aus schon dabei ertappt, den Begriff falsch verwendet zu haben.

Also: "struktureller Antisemitismus" ist etwas anderes als "latenter", "verdeckter", "heimlicher" oder "getarnter" Antisemitismus. "Strukturell antisemitisch" heißt: einer bestimmten Anschauung oder Handlungsweise liegt eine gedankliche Struktur zugrunde, die dem Antisemitismus entspricht.

Verwirrt? Macht nichts, steigen wir mit einem einfacheren Beispiel ein. Dem "strukturellen Rassismus.

Rassismus geht davon aus, dass die "eigene Rasse" in irgendeiner Weise "hochwertiger" sei als andere "Rassen".
Strukturell rassistisch ist es, zwar auf den Begriff der rassischen Überlegenheit zu verzichten, aber troztdem die aus dem Rassismus bekannte Denkstruktur zu verwenden. Deutsche sind für einen "strukturellen Rassisten" nicht deshalb "Kanakern" überlegen, weil die "Kanaker" keine Weißen (Europäer, "Arier") sind, sondern weil die "Kanaker" nun mal aus einer "primitiven (mittelalterlichen, religiös fanatisierten, nomadischen, streng patriarchalischen, zerrütteten usw. ) Kultur" stammen und deshalb keine vollwertigen Mitmenschen sein können. (Für "Kanaker" kann eine beliebige Einwanderergruppe oder Minderheit eingesetzt werden.)
Diese Form des "struktuellen Rassismus" kann man auch "Kulturalismus" nennen, wenn man Wert auf passend beschriftete Schubladen legt.
Anderes Beispiel: die Pseudowissenschaft "Metagenetik" (in der von McNallen begründeten Form) entspricht in ihrer Struktur der älteren "Blut und Boden"-Lehre, verwendet aber ein modernes und auf den ersten Blick wissenschaftlich-neutrales Vokabular. Weil ein "Metagenetiker" aber in exakt den selben Bahnen argumentiert wie ein "Blut und Boden"-Theoretiker, und weil die Lehre von "Blut und Boden" eindeutig rassistisch ist, kann man mit Fug und Recht die "Metagenetik" als strukturell rassistisch bezeichnen. Zugleich ist sie ein Beispiel für "verdeckten Rassismus".

Der Antisemitismus teilt Merkmale des Rassismus, ist aber ein Sonderfall: Kein Antisemit würde auf die Idee kommen, etwa Juden nach dem üblichen rassistischen Muster als faul oder dumm zu bezeichnen. Tatsächlich trauten Antisemiten wie Wilhelm Marr, Jörg Lanz "von Liebenfels" und sogar Adolf Hitler "den Juden" einige geradezu "übermenschliche" Fähigkeiten zu. Stattdessen gelten Juden dem Antisemiten als zwar schlau, intelligent, geduldig, sogar gebildet usw. - aber dabei immer auch als feige und hinterhältig, als gierig und verlogen.
Allesamt Attribute, die für den Antisemiten klar machen, dass Juden typischerweise eher im Hintergrund die Fäden ziehen und davor zurückschrecken, sich selber die Finger schmutzig machen.
Eine für Demagogen sehr praktische Methode. Denn dies ermöglicht es beliebige Fehlschläge darauf zu schieben, dass die Juden die Sache heimlich sabotiert hätten. So geschehen z. B. nach dem für Deutschland verlorenem ersten Weltkrieg. "Die Roten" hätten an "der Heimatfront" Verrat an den heldenhaft kämpfenden deutschen Soldaten geübt, ihnen "den Dolch in den Rücken gestoßen". Und weil die "Roten" nun mal verhetzte, aber im Grunde gutwillige "deutsche Arbeiter" waren, müssen die wahren Drahtzieher der schändlichen Niederlage "die Juden" gewesen sein - man weiß ja, denen kann man alles zutrauen ...
Bei der Weltwirtschaftskrise wiederholte sich das üble Spiel, und für die Nazis waren die Juden an allem, aber wirklich allem Schuld, was einem aufrechten Nazi nicht in den Kram passte.

Nun ist diese Methode durchaus auch ohne Juden möglich. Das Großunternehmen XY-AG geht also nicht deswegen in den Konkurs - und einige tausend Arbeitsplätze flöten - weil die Konkurrenz am Markt einfach besser wäre, oder die Unternehmensleitung schwere Fehler gemacht hätte, oder die Rahmenbedingungen nicht günstig waren - oder, was auch vorkommt, ein Konkurrent schlicht weniger Skrupel z. B. bei Betriebverlagerungen in Billiglohnländer gehabt hätte usw. - oder, meistens, viele dieser Faktoren zusammen - sondern deswegen, weil eine kleine Handvoll gieriger Manager oder skrupelloser Investment-"Heuschrecken" (gern Ausländer, gern in New York, London, Hongkong oder Singapur sitzend) sich bereichern wollten.
Die Vorstellung, dass ein "kerngesundes Unternehmen" durch die "Machenschaften" fieser "Drahtzieher" mutwillig "gegen die Wand gefahren" wird, damit sich ein paar "kriminelle Manager" oder "geldgeile Heuschrecken" bereichern können, entspricht in ihrer "Erzählstruktur" einer klassischen antisemitischen Verschwörungstheorie. Das macht das Ganze "strukturell antisemitisch" - auch wenn niemand "die Abzocker" oder "die Heuschrecken" für Juden hält oder absichtlich mit "den Juden" gleichsetzt.

Wenn man z. B. der NPD "strukturellen Antisemitismus" nachsagt, ist das falsch - weil die NPDler typischerweise "echte" Antisemiten sind, die ihre Gesinnung aber mehr oder weniger geschickt tarnen. (Aber die NDP hat, um die Verwirrung komplett zu machen, sehr wohl "antisemitische Strukturen" - z. B. internes antisemitisches Schulungsmaterial, ihre Propaganda enthält antisemitische Deutungsmuster für Krisen, ihre Funktionäre haben haufenweise antisemitische Vorurteile und Klischees und verbreiten diese usw. usw. .)

Daher ist es auch kein Grund zur Empörung, wenn demographische Studien z. B. ergeben, rund 40 % aller Deutschen hätten ein "strukturell antisemitisches Weltbild". Viele der Befragten haben keine oder nur wenige antijüdische Vorurteile - aber sie denken z. B. in den Bahnen ursprünglich antisemitischer Verschwörungstheorien.

Antizionisten können sowohl strukturelle wie uneingestandene Antisemiten sein - im ersten Falle wird die Rolle, die traditionell "den Juden" zugeschrieben wird, einfach auf eine Untergruppe der Juden, eben die Zionisten, beschränkt. Im zweiten Falle ist der "Antizionist" einfach ein Antisemit, der sich nicht gerne Antisemit nennen lässt.

Und wer das mit der Struktur kapiert hat, der begreift auch, wieso ich manche Antifas für "strukturell faschistoid" halte.

Samstag, 26. Mai 2007

Aufmerksamkeitsökonomie und Realitätsverzerrung

Manchmal ist es erstaunlich, welche Themen in unseren Massenmedien Vorrang genießen.
Damit meine ich jetzt nicht den breiten Raum, den klassische Boulevard-Themen zwischen knatschigen Schauspielerehen und flauschigen Jungeisbären einnehmen. Das fällt mehr oder weniger unter Unterhaltung. Es geht auch nicht um kulturelle Themen zwischen Opernpremieren und verbrennenden Museumsschiffen. Das fällt mittlerweile auch in den Bereich Unterhaltung / angenehmes Werbeumfeld. Wie übrigens auch der Bereich des Wissenschaftsjournalismus (außer bestimmten Umweltthemen und einigen neuen Technologien).

Nein, es geht um ernsthafte Themen. Denen mit 20-Uhr-Tagesschau- oder Titelseiten-Potenzial.

Wie hieß es neulich so schön auf NPD-Blog.Info:
m Mai 2007 war bekannt geworden, dass ein hochrangiger Beamter der Polizeidirektion Dessau versucht haben soll, die Bekämpfung rechtsextremer Straftaten zu bremsen. Wie die Nachrichtenagentur ddp mit Bezug auf den Tagesspiegel berichtete, soll der Dessauer Vize-Polizeichef Hans-Christoph Glombitza drei Staatsschützern der Direktion im Februar 2007 bei einer Besprechung nahe gelegt haben, dass man diesbezüglich nicht alles sehen müsse. Glombitza soll gewarnt haben, dass das Ansehen des Landes Sachsen-Anhalt nachhaltig geschädigt werden könnte.

Offenbar waren seine Befürchtungen übertrieben, die bundesdeutsche Öffentlichkeit interessiert sich zurzeit mehr für angebliche Terroristen beim G8-Gipfel als für verbrannte Flüchtlinge und Rechtsextremismus in Sachsen-Anhalt.(...)
Hervorhebungen von mir. Quelle - NPD-Blog: Eingesperrt, gefesselt, verbrannt - was geschah in Dessau?.

Warum ist das so? Ein Beispiel aus dem April, aus Hamburg. Ein von Neonazis gesprengter Briefkasten eines Antifa-Aktivisten schaffte gerade mal einen Dreizeiler in der Lokalzeitung und eine Notiz auf "indimedia" (bei immerhin erheblicher Personengefährdung): Naziatterror in Hamburg-Harburg, über einen im direkten Vergleich der Folgen "harmlosen" Anschlag auf ein Hotel in Hamburg, bei dem es lediglich Glasbruch und eine durch Farbbeutel verunzierte Fassade gab, wurde ausführlich überregional berichtet.
An sich ist auch das Thema "militante Nazis" immer für eine saftige Schlagzeile gut. Sieht man sich aber das jeweilige Opfer an, dann springt ein gewaltiger Unterschied ins Auge: Ziel des Neonazi-Sprenganschlages war ein unbekannter Antifa-Aktivist. Also ein "medialer Niemand" (ein "uninteressanter Typ!") der sich außerdem direkt mit Rechtsextremisten anlegt (hier setzt gern der "Selber Schuld!"-Reflex ein). Außerdem wird das peinliche Thema "Neonazis" gern seitens der (Lokal-)Politik gern verdrängt. (Siehe oben!)
Der Farbbeutel-Fall steht im Umfeld der ohnehin im Fokus der Medien stehenden Proteste gegen den G8-Gipfel, ist damit automatisch "Thema", die "Opfer" sind u. A. Gäste eines Hotels der gehobenen Kategorie (5 Sterne), also potenziell "wichtig" - und das Thema "Linksextremistische Gewalt" passt in die politische Agenda sowohl des Hamburger Innensenators Nagel wie des Bundesinnenministers Schäuble.

Anderes Beispiel, via Zwischenspeicher. Im Klinikum Essen gibt es einen ungeheuerlichen Verdacht, der sich aber nur in der Regionalpresse niederschlägt: RP: Verdacht auf Organhandel, wogegen der Skandal um Doping-Ärzte im Radsport breiteste Aufmerksamkeit einschließlich Sondersendungen im Fernsehen genießt.

Lange Zeit habe ich angenommen, es gäbe irgendwelche Drahtzieher im Hintergrund, Politiker, Interessenvertreter usw. die dafür sorgen, dass bestimmte Nachrichten unterdrückt und andere dafür gehypet werden. Also: Zensur durch Druck und Korruption. In Einzelfällen mag das so sein, aber inzwischen bin ich mir sicher, dass meistens gar keine äußere Einflüsse auf die Redaktionen mehr vonnöten sind. Es reicht in privatwirtschaftlichen Medien der Seitenblick auf die Anzeigenkunden.
Sehr schön hat MomoRules diese Mechanismen hier skizziert: Das Sagbare und das Unsägliche.
Zurück zu den Sonnenbrillen im Magazin von DIE ZEIT: Klar, im Umfeld einer solchen Story fühlen sich Anzeigenkunden wohl. Qualität? So konzipiert man auch beim Fernsehen ganze Sendungen - eben anhand potenzieller Zielgruppen für Werbung. Berichterstattung als Umfeld für Werbung ist das, was vermeintlichen "Meinungsjournalismus" ersetzt.

So sind einst die Erotik-Magazine aus dem Privatfernsehen verschwunden: Sie hatten gute Quoten, aber die die Werbeblöcke verkauften sich nicht gut, weil Titten und Ärsche offenkundig dem beworbenen Produkt nicht gut bekommen. "Titten und Ärsche" wäre mir übrigens bei annähernd jeder Zeitung aus dem Text redigiert worden im Namen der Qualität, weil's nach Gosse riecht für den gemeinen Bildungsbürger und es dessen Dünkel ist, der eben auch über Sagbares und Unsägliches bestimmt. Und noch hat der ja Geld, der Bildungsbürger.

Im Gegensatz zum unappetitlichen Hartz IV-Empfänger, a priori unter Sozialbetrugsverdacht gestellt - ein zentrales Motiv aktueller Quasi-Journaille, die Verdächtigung. Spitzel-Schreiberlinge und -Filmer von Schäubles Gnaden, sozusagen. Die dann als Protagonisten im sogenannten "Unterschichtenfernsehen" sich Sozialamtsschnüffler wählen - würde man sie aus sich heraus verstehen wollen, diese Objekte der Berichterstattung da auf ihren Otto-Katalog-Sofas, könnten ja ebenfalls Werbekunden ausbleiben.

Weil das eben gegen aktuelle Selektionskriterien verstieße, wie man solche Leute zu behandeln hat. Bei Entscheidern in den Sendern löste sowas Unbehagen aus, das käme nicht durch, weil's eben nicht mehr bunt wäre. Da brauchte noch nicht mal ein Werbekunde anzurufen, das passiert schon ganz von selbst.
Bei öffentlich-rechtlichen Sendern mag das mit den Werbekunden nicht ganz so schlimm sein, dafür müssen dann eben Rücksichten auf die im Rundfunkrat vertretenen "gesellschaftlichen Gruppen" genommen werden. Also: Kritik und Sendezeit immer schön gleichmäßig auf die politischen Parteien verteilen - und ja kein zu böses Wort über den Papst. (Letzteres war letztens anlässlich einer skandalösen Rede, die Ratzinger in Brasilien hielt, sehr auffällig.) Und egal ob öffentlich-rechtlich oder privat: es ist klar, auf wen "man" Rücksicht nehmen muss - und wen man ruhig mal gepflegt in die Pfanne hauen darf.
Der einzige Grund, warum Schwule in Deutschland nicht mehr so offenkundig diskriminiert werden, ist wohl, daß sie als werberelevante Zielgruppe gelten. Für Kanacken, Asylanten und Flüchtlinge gilt das nicht. Die sind allenfalls als "Schicksalsbericht" erlaubt. Oder als antagonistisches Prinzip zur je eigenen Kultur. Willkommen in Zettels und di Lorenzos schöner, neuer Welt der Qualität und Scheinprobleme!
Das ist das Stichwort: Scheinprobleme! Medienphantome. Wobei es im Effekt nur wenig Unterschied macht, ob es um einen politischen Jurasic Park geht (wo aus einer Mücke ein Tyrannosaurier gemacht wird), oder es ob die "große Katastrophe" real im befürchteten Verlust von Werbeeinahmen besteht.

Donnerstag, 10. Mai 2007

"Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen"

Heute, am 10. Mai, ist der "Tag des Buches". Anlaß dieser Tages waren die öffentlichen Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933: Wikipedia:Bücherverbrennung 1933 - Shoa.de:Bücherverbrennung 1933.

Sie waren ein Höhepunkt der organisierten und systematisch vorbereiteten Verfolgung "unbequemer" Schriftsteller. In erster Linie marxististische, pazifististische und jüdischer Schriftsteller, aber nicht nur. Es konnte jeden Schriftsteller treffen, der Rückgrad zeigte, der darauf beharrte, selber zu denken, der seine Gedanken nicht vorzensierte. Jeden "Nicht-Opportunisten".

Und es war keine Kampagne des Propagandaministeriums, keine Inszenierung des diabolischen Dr. Goebbels, auch wenn er begeistert mitmachte. Die Aktion wurde von der Deutschen Studentenschaft geplant und durchgeführt. Und sie war kein historischer Einzelfall. Bei Weitem nicht! Ich empfehle den sehr ausführlichen Artikel Bücherverbrennung in der Wikipedia. Auch heute werden Bücher verbrannt. In den letzten Jahren mit steigender Tendenz. Und es bewahrheitet sich immer wieder auf's Neue, was Heinrich Heine schrieb:
"Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen."
(Almansor. Eine Tragödie, 1821) Seine Worte beziehen sich auf eine Verbrennung des Koran während der Eroberung des spanischen Granada durch christliche Ritter. Sie werden aber auch im Zusammenhang mit der Bücherverbrennung auf dem Wartburgfest 1817 gesehen, zu dem Heine schrieb:
Auf der Wartburg krächzte die Vergangenheit ihren obskuren Rabengesang, und bei Fackellicht wurden Dummheiten gesagt und getan, die des blödsinnigsten Mittelalters würdig waren! (…) Auf der Wartburg herrschte jener beschränkte Teutomanismus, der viel von Liebe und Glaube greinte, dessen Liebe aber nichts anderes war als Haß des Fremden und dessen Glaube nur in der Unvernunft bestand, und der in seiner Unwissenheit nichts Besseres zu erfinden wußte als Bücher zu verbrennen! Ich sage Unwissenheit, denn in dieser Beziehung war jene frühere Opposition, die wir unter dem Namen "die Altdeutschen" kennen, noch großartiger als die neuere Opposition, obgleich diese nicht gar besonders durch Gelehrsamkeit glänzt. Eben derjenige, welcher das Bücherverbrennen auf der Wartburg in Vorschlag brachte, war auch zugleich das unwissendste Geschöpf, das je auf Erden turnte und altdeutsche Lesarten herausgab: wahrhaftig, dieses Subjekt hätte auch Bröders lateinische Grammatik ins Feuer werfen sollen!
(Heinrich Heine: Ludwig Börne. Eine Denkschrift. Viertes Buch, 1840)
Heine erkannte richtig: die Konsequenz aus dem Versuche, "unerwünschtes" und "unbequemes" Denken durch Vernichtung der Schriften der "unerwünschten" und "unbequemen" Denker zu eliminieren, führt zum Wunsch, auch die Denker selbst zu vernichten - und mit ihnen all jene, denen man auch nur "unbequemes" und "unerwünschtes" Denken zutraut. Eliminatorisches Denken ist in der Konsequenz immer möderisch.
Sein zweites Zitat deckt auf, in welcher Tradition die bücherverbrennenden Studenten des Jahres 1933 standen. Es zeigt deutlich: der Nationalsozialismus war kein historischer Betriebsunfall, und es war kein Zufall, dass der systematische, millionenfache Mord an "unerwünschten" Menschen, genannt "Holocaust" oder "Shoa" - wobei es wirklich kein Zufall war, dass Juden den Nazis-Mördern und ihren vielen willigen Helfern als besonders unerwünscht galten - von Deutschen verübt wurde.
Auf der Wartburg wurde gewissermaßen die Krematorien von Auschwitz angeheizt.
Damit man mich nicht falsch versteht: es gibt keine geschlosse Kausalkette, keine "historische Zwangsläufigkeit", keine "historische Schuld" (und schon gar keine "karmische Bestimmung") zwischen den Nationalromantikern des 19. und den Völkermördern des 20. Jahrhunderts. Aber damals wurden die geistigen Strukturen geschaffen, die "Denke" geprägt, die "Auschwitz" möglich machte.

Mit dieser Struktur meine ich die "Nationalromantik", die Idee vom "organisch gewachsenen Staat", die vom "deutsche Blut" und vor allem auch die Idee der "Kulturnation". Die Bücherverbrennungen auf der Wartburg ensprangen nicht zuletzt der Idee des einigende Bandes deutscher Kultur - und wer nicht dazugehören will, dessen Bücher werden verbrannt.

Typisch für die deutsche Nationalromantik ist, wie schon Heine wußte, ihr Hang, nationale Utopien in die ferne Vergangenheit zu projezieren. Zum Beispiel die "Varusschlacht" - im Jahre 9, als die Cherusker unter Arminius gegen drei römische Legionen siegten.
Für patriotische Deutsche war völlig klar, dass die “alten Germanen” durch die Bank “Deutsche” (und zwar national gesinnte Deutsche) waren. Und dass die bösen "Franzmänner" unter Napeoleon usw. zumindest die "Nachkommen" der "alten Römer" sind. Die Schlacht geriet geradezu zum Gründungsmythos Deutschlands - immerhin fast 900 Jahre, bevor zumindest einen Vorgängerstaat dessen, was man später "Deutschland" nennen sollte, gab.
Der Sieg war deshalb so “herrlich”, weil er ein Vernichtungssieg war. Generationen von Schulkindern wuchsen mit der Vorstellung auf, sie seine ein seit der grauen Vorzeit einheitliches Volk, in das “Uneinigkeit” nur durch äußere Einflüsse getragen wurde - ein “Fremder” ein “Einwanderer”, der nicht “vom richtigen Blute” ist, kann kein “wahrer Deutscher” sein.
Die "deutsche Indentität" wurde - und wird! - fast ausschließlich durch Abgrenzung gegenüber "den anderen" und durch "äußere Bedrohungen" hergestellt.

Im deutsche Nationalismus gilt nur die Vernichtung des Feindes wirklich als “Sieg” - “Hermann” (nicht zu verwechseln mit dem historischen Cheruskerfürsten Arminus) “lehrt uns, dass Kompromiss, Verständigung und sogar Gnade nichts als gefährliche Schwäche sind” und dass “wir Deutsche nur unsere Uneinigkeit fürchten müßen”.
Es gibt eine Tradition des “eliminatorischen Denkens”, gegenüber allen, die als “Volksfeinde”, als “außerhalb der Volksgemeinschaft” wahrgenommen werden. Die leider noch nicht gebrochen oder durch etwas Besseres ersetzt worden ist.

Auch nach dem Ende des Hitlerfaschismus bleib dieses Denken virulent. Sowohl die DDR wie die BRD funktionierten nur mittels Feindbilder, angsteinflößender äußerer Gegner, gegen die “wir” zusammenhalten müssen.
Seit 1989 sind die Feindbilder aus dem "Kalten Krieg" weg - und ich habe den Eindruck, dass sie vielen Deutschen fehlen.
Feindbildsuche gibt es auch in anderen Ländern, auch in solchen, die sich auf ihre liberale Tradition zurecht viel zugute halten. Aber ich habe den Eindruck, dass sie hierzulande besonders neurotische Züge annimmt. Am Auffälligsten ist das auf dem Feld der “Sicherheitspolitik” - ja, auch in anderen Ländern wird der “Krieg gegen den Terror” zum Vorwand genommen, Bürgerrechte ab- und einen Überwachungsstaat aufzubauen. Der Unterschied: in Deutschland ist das offensichtlich konsensstiftend.

Anläßlich der Bücherverbrennung vor 74 Jahren weise ich auf eine Veranstaltung in München hin: Brandfleck auf dem Königsplatz - MÜNCHEN liest - aus verbrannten Büchern. - München hat (im Gegensatz zu einigen anderen "Brandstädten") bis heute kein dauerhaftes Zeichen der Erinnerung an die in der ehemaligen "Hauptstadt der Bewegung" groß inszenierte Bücherverbrennung.

Leider gehört auch das zum Umfeld des "Tages des Buches": Ziel der Großrazzien gegen Gegner des G8-Gipfels waren unter anderem auch drei autonome Kulturzentren, die Rote Flora in Hamburg, das Künstlerhaus Bethanien und das Kulturzentrum Mehringhof in Berlin.
Ich bin kein Gegner des G8-Gipfels an sich, allerdings ein entschiedener Gegner des bizarren Angst-Abwehr-Apparates, genannt "Sicherheitsmaßnahmen".

Im Falle der "Roten Flora" kann ich sagen: Randale an der Roten Flora - das war mal. Und wer heute behauptet, die "alternativen Kulturzentren" seien Zentren der "gewaltbereiten Linken", der lebt geistig in den 80er Jahren, als die Hafenstraßenhäuser noch keine alternative Wohngenossenschaft waren. Da werden überholte Feindbilder reaktiviert. Weil "man" sich offenbar braucht - siehe oben!
Es ist auch kein Zufall, dass es gerade Kulturzentren trifft, denn
Kultur ist subversiv. Kultur ist gefährlich. Vor allem "alternative", "autonome", nicht staatlichen oder kommerziellen Vorgaben gehorchende Kultur. Wenn ein Staat das nicht mehr aushällt, dann werden nicht unbedingt Bücher verbrannt. Aber möglicherweise bald im Interesse der Sicherheit verboten.
Die Aktionen dienen, vemute ich, nicht in erster Linie der "Sicherheit des G8-Gipfels". Sie sind vor allem Machtdemonstrationen. Einschüchtern, damit "Ruhe im Land" herrscht. Teil der Erziehung zum Duckmäusertum.

Donnerstag, 19. April 2007

Neidinge - was ein altgermanischer Begriff mit dem Überwachungsstaat zu tun hat

Wenn ich mir die Argumentation diverser Innenminister und der ihnen zuarbeitenden / sie beeinflussenden Sicherheitsexperten ansehe, und Artikel zu einschlägigen Themen in der Presse nachlese, dann stelle ich fest, dass es für viele politische Entscheider zwei Kategorien der Kriminalität gibt: "normale" Kriminalität und "Sonderverbrechen". Für "Sonderverbrecher" gelten "normale" Bürgerrechte nicht - Innenminister Schäuble stellt sogar die Unschuldsvermutung zur Disposition.
Interessanterweise kommen diese politischen Entscheider damit bei großen Teilen der Bevölkerung durch. Warum?

Die "Sonderverbrechen", die Einschnitte in Bürgerrechte nach sich ziehen, sind derzeit in Deutschland (in abnehmender Reihenfolge der "Schrecklichkeit") Terrorismus, Sexualdelikte gegen Kinder, mit einigem Abstatand organisierte Kriminalität und - mit deutlichem Abstand und längst nicht bei allen politischen Entscheidern - rechtsextreme Straftaten. Dass es sich um besonders verabscheuenswürdige Delikte handelt, die energisch bekämpft werden müssen, bestreite ich nicht. Dass für die Bekämpfung dieser Delikte Bürgerrechte eingeschränkt werden müssen, bestreite ich hingegen sehr.

Was unterscheidet einen Terroristen von einem "normalen" Mörder, oder einen "Kinderschänder" von einem "normalen" Sexualstraftäter und einen Sexualstraftäter von, sagen wir mal, einem Dieb?

Ich beschäftige mich intensiv mit der Gesellschaft der vorchristlichen Germanen. Dabei stieß ich auf den Begriff "Neiding".

Der Neiding (althochdeutsch nidding, altnordisch níðing) war bei den
Germanen ein besonders boshafter Mensch, der sich durch seinen nid(d) (anord. níð) außerhalb der menschlichen Gesellschaft stellte. "Neid" leitet sich von "nid" ab, allerdings mit stark abgeschwächter Bedeutung - nid bedeutet außer (verzehrendem) Neid soviel wie Bosheit, Arglist, Heimtücke. Eine "Neidingstat" führte zur Verbannung aus der menschlichen Gesellschaft, ein Neidung wird für friedlos erklärt (angelsächsisch ûtlah [engl. outlaw], mittelniederdeutsch uutlagh, nordisch utlagr). Friedlosigkeit bedeutet die Feindschaft allen Volkes. Niemand darf ihn unterstützen, beherbergen und nähren. Er ist vogelfrei und muß im Walde Schutz, gleich dem Wolfe und wird deshalb auch "varc", "vearg", "varg" genannt. Der Friedlose gilt als für das Recht tot, seine Frau (oder ihr Mann) rechtlich als verwitwet und seine Kinder als Waisen, sein Hab und Gut wird entweder durch die Sippe eingezogen oder wird zerstört.

Auf die mythologischen Bedeutungen von Neiding, z. B. der damit verbundenen Bessesenheits- und Werwolfvorstellunge gehe ich hier nicht ein; dass führt zu weit. Wichtiger ist, dass die Art eines Verbrechens und die Art und Weise der Ausführung darüber entscheid, ob jemand ein "Normalstraftäter" oder ein Neiding war.

Ein Beispiel: tötete jemand einen Menschen absichtlich, dann war das nicht in jedem Fall "Mord": außer, wie heute noch, bei Tötung im Affekt (Totschlag) und in Selbstverteidigung galten Tötungen aus Rache, im Duell oder nach massiver Provokation nicht als "Mord". Mord wird heimlich, unter Ausschluss des Volkes bzw. der Sippe, und vorsätzlich, planvoll, verübt. "Einfacher" Mord, etwa mit einer Stichwaffe auf offener Straße, ist keine "Neidingstat", Giftmord oder Ermordung eines Hilfslosen dagegen ist eine - "Arglist".

Auch die Anwendung von Schadenzauber galt als Neidingstat, was z. B. auch in den frühneuzeitlichen Hexereivorstellungen in abgewandelter Form weiterlebte. (Es gibt nach germanischen Vorstellung zwei Arten der Zauberei oder Magie, Seidr [Seiðr] und
Galdr - Seidr wird meist in der Abgeschiedenheit ausgeübt, weshalb ein Seidrtreibender leicht des Schadenzaubers bzw. des Nid verdächtig werden konnte. Tatsächlich waren im Hochmittelalter Seidr und Schadenzauber nahezu gleichbedeutend.)

Es wäre ein kühne (und wahrscheinlich unzutreffende) Annahme, dass die germanische Neiding-Vorstellung einen direkten Einfluß auf die heutige deutsche Mentalität hätten.
Aber die Vorstellung, dass bestimmte Verbrechen Menschen zu Un-Menschen, zu Vargen, machen, scheint in der Öffentlichkeit weit verbreitet zu sein.

Für eine Stammesgesellschaft, in der praktisch jeder jeden kannte und jeder auf jeden angewiesen war, war der Neiding und seine Friedlosigkeit noch eine praktikable "Rechtskonstruktion" des Volksrechtes. Schon in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft war das nicht mehr der Fall: wer "Neiding" war, bestimmten in solchen Gesellschaften die Autoritäten - auch "unsoldatisches" Verhalten, zunehmend auch "unmännliche" Verhaltensweise, in christlichen Zeiten auch "sündiges" Verhalten - galten von nun an als "nid". Im Zuge der zunehmenden Obrigkeitsstaatsbildung Irgendwann waren dann "gesellschaftsfeindliche" und "staatfeindliche" Aktivitäten "Neidtaten". Wie schon erwähnt, spielten auch bei der Hexenverfolgung defomierte Neidings-Vorstellungen eine große Rolle. Und Schwule werden bis in die Gegenwart mit Vorurteilen konfrontiert, die durchaus dem alten Neiding-Begriff ähneln.

Weil die Idee, eine bestimmte Art "Superverbrechen" müsse einen Menschen "friedlos" machen, analog der Neidungs-Vorstellung in einer anonymen Massengesellschaft mit gut funktionieremden Desinformationsapparat nur Un-Heil anrichten kann, darf sie bei der Strafverfolgung keine, aber wirklich keine, Rolle spielen.
Es darf keine Abstriche von den Grundsätzen der Humanität, des Rechtsstaates, der rechtlichen Gleichheit aller Menschen, der grundsätzliche Gleichbehandlung aller Delikte, geben. Und erst recht keine Einschränkungen der Menschen- und Bürgerrechte - für niemanden!
Wir sind nun einmal keine Stammesgesellschaft mehr.

Auf spirituellem Gebiet und dem der persönliche Ehre sehe ich das allerdings anders. Da sehe ich Nazis schon mal als arge Varge und mache schon einen Unterschied zwischen einem "normalen" und einen "heimtückischen" Verbrechen. Aber das ist Sache der Moral - und Moral sollte nicht Gegenstand des Strafrechtes sein!

Mittwoch, 11. April 2007

Wie man Intoleranz herstellt

Regelmäßige Geniesser meines Senfs wissen es längst: ich gehöre nicht zu jenen, die meinen, dass das Klima des Anpassungsdrucks und der Angst vor und der Intoleranz gegenüber "Außerseitern", das wir in den letzten Jahren beobachten, Zufall, naturgegeben oder "Schuld" der Außenseiter bzw. Minderheiten sei. Wenn ich auch gern einräume, dass es Minderheiten innerhalb von Minderheiten gibt, die kräftig daran arbeiten, dass die Mehrheitsgesellschaft diesen Minderheiten mißtraut. Die islamische Minderheit ist dafür nur ein Beispiel.

Ich bin immer wieder verblüfft, mit welcher Frechheit Meinungen und Vermutungen als Fakten und Wahrheiten herausposaunt werden. Vor allem dann, wenn es um Außenseiter, Minderheiten oder auch nur Exentriker geht. Und nicht nur in den viel gescholtenen Mainstream-Medien.

Es ist der einfache Mechanismus: Erst kommt ein "Äh - was macht der denn da?", dann "Darf der denn das?", dann "Wenn das jeder täte....", schließlich "So geht das aber nicht!" Unabhängig übrigens von jeder Rechtslage.
Ein harmloses Beispiel: vor einigen Jahren machte ich mit ein paar Freunde auf einer sandigen Waldlichtung ein Grill-Feuer - und zwar in einer selbstgebauten Blech-Feuerschale und weitab von aller brennbaren Vegetation. Einig Passanten holten die Polizei - denn: siehe oben! Die Polizei kam, sah sich um - und fand nichts Ordnungswidriges an unserem Verhalten: so, wie wie das machten, war Feuermachen erlaubt.
Was besagte Passanten nicht verstehen konnten. Es gibt kein einziges Argument dagegen. Aber irgendetwas muss schließlich doch dagegen möglich sein!

Ein Mittel, um "Abweichler" zu "Außenseitern" zu stempeln, kennt man schon aus dem Kindergarten: Den Gruppendruck. Grade unter Kindern kann der grausam sei. Am grausamsten - und am einfachsten zu manipulieren - ist er allerdings unter Jugendlichen.
Jungens Menschen, noch ohne gefestigtes Selbstvertrauen, ist es extrem unangenehmen, sich in ihrer Peer-Gruppe - ihrer Clique, ihrer Klasse, ihrer Freizeitgruppe oder was auch immer - lächerlich zu machen und verspottet zu werden. Dieser Spott gegen "Abweichler" - was beim "falschen" Kleidungsstil anfängt - ist aber ist genau der Angriff, mit dem eher unsicher und gehemmt vorgeprägte Kinder und Jugendliche ihre Position verteidigen. Unter lauter "Lesemuffeln" fühlt sich ein wegen seiner Leseschwäche unsicherer Schüler stark, wenn er einen in der großen Pause lesenden Mitschüler als "Streber" denunziert: Der unsichere Schüler münzt so sein Unterlegenheitsgefühl in "Stärke" bzw. Meinungsführerschaft um.

Unter Erwachsenen ist dieses Spiel nicht so offensichtlich. Aber es läuft täglich ab. So gut, dass ich manchmal den Verdacht habe, solche Schulhofmechnanismen würden zum "heimlichen Lehrplan" unseres Bildungssystems gehören.

Wer sich Dinge traut, die erlaubt sind, die sich andere aber, aus welchen Gründe auch immer, nicht trauen, auch wenn sie vielleicht gerne wollten, der findet sich schnell in der Position des angefeindeten Außenseiters wieder.

Freitag, 30. März 2007

Gedanken über die gefühlte Gefährlichkeit von Drogen

Vor einigen Tagen ging eine Meldung durch die Presse: Britischen Wissenschaftlern zufolge sind Alkohol und Tabak gefährlicher als Cannabis und Ecstasy. Dies geht aus einem Ranking von legalen und illegalen Rauschmitteln hervor, in dem sowohl die körperlichen und sozialen Folgen des Missbrauchs als auch das Suchtpotenzial der Drogen berücksichtigt wurde. wissenschaft.de:Die Rangliste der gefährlichsten Drogen. süüdeutsche.de:Alkohol und Tabak gefährlicher als LSD und Ecstasy
focus: Die 20 gefährlichsten Drogen. Typisch focus: gute Graphik, schlechte Überschrift - es handelt sich nicht um die "20 gefährlichsten Drogen", sondern um 20 willkürlich aus den 40 untersuchten Stoffen ausgewählte Substanzen (Anabolika sind z. B. keine Drogen im klassischen Sinne) "4-MAT" ist übrigens 4-MTA, ein den Serotonin-Spiegel hebender Stimmungsaufheller, im Jargon "Flatliner".

Auffällig dabei ist, dass die offizielle Einstufung der Drogen - von Heroin und Kokain abgesehen - wenig mit dem in der Studie ermittelten Gefahrenprotenzial zu tun hat. Überraschend ist das für mich nicht - irgendwelche Illusionen hinsichtlich der potenziellen Gerfährlichkeit von Alkohol (dem ich, in der Form von Bier, Wein und Met durchaus nicht abgeneigt bin) oder des enormen Suchtprotenzials von Nikotin hatte ich schon lange nicht mehr. (Ich kenne jemanden, der es schaffte, im "kalten Entzug" vom Heroin wegzukommen. Aber er schafft es einfach nicht, sich das Rauchen abzugewöhnen.) Über die relative (!) Harmlosigkeit von Haschisch war ich mir schon längst im Klaren.

Eines ist klar: sowohl die übliche Gefahreneinschätzung wie die Gesetzgebung hängen schief - wozu Volkmar dankenswerterweise schon einiges in seinem Blog schrieb, das ich deshalb hier nicht wiederholen brauche: Drogengesetzgebung: Schieflage.

Vergleicht man die offizielle Gefahreneinstufung mit der ermittelten Rangliste, dann fällt auf, dass "psychoaktive Drogen" bzw. Psychodelika - Halluzinogene im weitesten Sinne - tendenziell vom Gesetzgeber als gefährlicher eingestuft werden als andere Drogen. Das berüchtigte LSD und das viel diskutierte Ecstacy, beide in Großbritannien als "A" (besonders gefährlich) und in Deutschland als "nicht verkehrsfähig" eingestuft, liegen in der Gefahreneinschätzung noch unter dem relativ harmlosen milden Psychedelikum (und in Deutschland ebenfalls "nicht verkehrsfähigen") Cannabis.
("Nicht verkehrsfähig" bedeutet: auch die medizinische Anwendung und die Anwendung zu wissenschaftlichen Zwecken sind verboten.)

Warum ist das so? Ein Blick ins Jahr 1966, als in den USA das LSD verboten wurde, liefert einen möglichen Hinweis:
Spätestens im Herbst 1966 deuteten dann Gegner an, dass LSD wahrscheinlich langfristige Schädigungen des Gehirns hervorrufe. Ihre Beweisgundlage? Die Tatsache, dass so viele Jugendliche, nach LSD-Erfahrung, wenig Verlangen zeigten, sich dem koropativ-provinziellen Lebensstil anzupassen, den ihre Eltern sich zu Eigen gemacht hatten.
aus: Jay Stevens: Storming Heaven - zitiert nach: Daniel Pinchbeck: Den Kopf aufbrechen (Breaking Open the Head)

Tatsächlich war es so: Mitte der 1960er verstanden viele Eltern ihre heranwachsenden Kinder nicht mehr - sowohl in den USA wie in (West-)Deutschland. Obwohl der gesteigerte "Generationenkonflikt" eindeutig benennbare soziale Ursachen hatte, wurde ein Symtom der "Rebellion" - das Experimentieren mit "ungewohnten" Drogen - als Ursache aufgefasst. Oft wird es gar nicht die Droge gewesen sein, die die jungen Konsumenten nicht mehr auf den spießigen Lebensstil ihrer Eltern klarkommen ließen, sondern die Erfahrung mit dem "alternativen" Umfeld, in dem damals LSD konsumiert wurde - Stichwort: Hippie-Kultur.
Da kam es sehr gelegen, dass der unvorsichtige Umgang mit LSD - übrigens auch in der Psychotherapie - tatsächlich einigen Menschen die geistige Gesundheit gefordert hatte.
Dem Ruf nach sofortigem Verbot wurde stattgegeben, um 1970 waren praktisch alle Halluzinogene weltweit geächtet.

Ich bin außerdem der Ansicht, dass es noch eine tiefere kulturelle Ursache dafür gibt, dass unsere Zivilisation sich mit halluzinogenen Drogen schwer tut.
Neben "etablierten" Drogen wie Tabak und Alkohol werden solche Drogen, die die "berufliche und soziale Funktionstüchtigkeit" des Einzelnen (scheinbar) fördern, eher toleriert als Psychedelika. Das gilt sogar für das gefährliche Kokain oder Amphetamine ("Speed").

Psychedelika sind, das vermute ich, nicht deshalb illegal, weil es irgend jemanden stört, dass der Drogenkonsument ein paar "heftige Träume" hat, sondern weil sie etwas an sich haben, dass die Gültigkeit der "offiziellen" Wirklichkeit in Zweifel ziehen läßt. Sie bringen den Konsumenten auf "andere Gedanken", zumindest auf den, dass Wahrnehmungen - und damit das Bild der Wirklichkeit - relativ sind. Besonders ärgerlich ist das meines Erachtens für autoritären Menschen mit ausgeprägt "sittenchristlichem" Weltbild. Für einen Materialisten ist es hingegen klar, dass unser geistig-seelisches Leben materiellen Grundlagen hat, und für einen Anhänger "östlicher" Religionen (Hinduismus, Buddhismus) ist es ausgemacht, dass das, was wir "Wirklichkeit" nennen, durchaus illusionär ist. Das "neuzeitlich-christlich-abendländische" Weltbild - auch bei Nicht-Christen - verbindet hingegen naiven Realismus mit der Annahme der Unantastbarbar und der ontologischen Sonderrolle der menschlichen Seele. Das Ego ist autonom, jederzeit für alles verantwortlich; es gibt nur die beiden Bewußtseinszustände "voll da" (nüchtern) oder "voll" (berauscht, nicht bei Verstand).
Autoritäre Persönlichkeiten, für die "feste Leitbilder" eine Notwendigkeit sind, empfinden schon die Idee "alternativer Bewußtseinszustände" als beunruhigend. Sie werden folgliche automatisch als "krankhaft" klassifiziert, egal, ob sie durch Drogen, Zufall oder Lebenseinstellung hervorgerufen werden.
Er recht gilt das für Ideologen, denen nicht nur abweichende Wahrnehmungen der Wirklichkeit, sondern schon abweichende Meinungen als "Geisteskrankheiten" erscheinen.

Montag, 26. März 2007

Man kann nur Verlieren

Jeder, der auch nur oberflächliche Kenntnisse der Wahrscheinlichkeitsrechnung hat, weis es längst: bei jedem Glücksspiel wird ein Spieler auf längere Sicht immer verlieren, und Lotterien sind Steuern, die auf Dummheit erhoben werden.

Ist man gar Langzeitsarbeitsloser, ist es - das schreibe ich ohne jede Ironie und ohne jede Nachsicht - hirnverbrannte, selbstzerstörerische Dummheit, auch nur einen kostbaren Cent bei Gewinnspielen zu verzocken.
Denn verliert man als ALGII-Empfänger, verschwendet man "nur", obwohl man nun wirlich nichts zu verschwenden hat.
Gewinnt man, wird man bestraft.
Netzzeitung: Auto-Hauptgewinn kostet Arbeitslosengeld II.
Gewinnt ein Langzeitarbeitsloser in einem Gewinnspiel ein Auto, hat er Pech gehabt: Ihm darf das Arbeitslosengeld (ALG) II so lange gestrichen werden, bis der Wert des Wagens verbraucht ist. Das hat das Sozialgericht Dortmund in einem am Montag veröffentlichten Urteil entschieden.
Bei einem Geldgewinn war die Rechtslage schon bisher klar: Kein ALG II, bis das Geld aufgebraucht ist. Womit sich rein rechnerisch alles , was nicht gerade ein Lotto-Hauptgewinn ist (der bei kluger Geldanlage für eine gewisse Zeit finanziell unabhängig macht), sich für ALG II-Empfänger schlicht nicht lohnt. Ein Sachgewinn, der sich nie zum Nominalwert "zu Geld machen läßt", wirkt sich hingegen stets negativ für den Langzeitarbeitslosen aus.

Nachtrag, 27. März: lawblog: Arbeits-Los.
Einem arbeitslosem Familienvater in Iserlohn ist von der Arbeitsgemeinschaft Märkischer Kreis (ARGE) das Arbeitslosengeld II gestrichen worden, weil er bei einer Baumarktkette einen neuen VW Golf “Goal” im Wert von 17 610 Euro gewonnen hatte.

Das Sozialgericht Dortmund hat gestern diese Entscheidung bestätigt. Das Auto falle nicht unter das geschütze Vermögen, sondern sei „als einmaliges Einkommen anzurechnen“. Der Familienvater bleibt deshalb für zehn Monate ohne Arbeitslosengeld. (pbd)

Samstag, 17. März 2007

Zukunftsvisionen? - Das ich nicht lache ...

Von heute abend an präsentiert arte die dreiteilige Reihe 2057- Die Welt der Zukunft . (Jeweils am folgenden Sonntag wird die Sendung im ZDF wiederholt.)
Wie sieht unser Leben, unser Alltag in 50 Jahren aus? Diese Frage stellt die 3-teilige Dokumentation und schafft in fiktionalen Spielszenen ein realistisches Abbild des Lebens in 50 Jahren.
Ich sehe die Reihe mit gemischten Gefühlen. Es geht nämlich nicht um "das Leben in 50 Jahren", also um eine Prognose, sondern schlicht um Science Fiction. Zwar SF auf der Grundlage handfester Forschungsergebnisse, aber dennoch, aus der simple Tatsache heraus, dass die Entdeckungen, Erfindungen und Entwicklungen der Zukunft noch nicht gemacht sind, hochgradig spekulativ.
Wie spekulativ kann man ermessen, wenn man sich z. B. "Zukunftsvisionen" aus den 50er und 60er Jahren ansieht, die das Leben im frühen 21. Jahrhundert zum Thema hatten.
(Ein amüsantes Beispiel aus dem Jahr 1950: Miracles You’ll See In The Next Fifty Years.
Ein interessanter Artikel aus dem Jahr 2000 zum Thema "Zukunftsvisonen von gestern": So sollten wir leben.)

Wenn sich eine Prognose stellen läßt, dann die, dass die Welt im Jahre 2057 sehr wahrscheinlich völlig anders aussehen wird als in "Die Welt der Zukunft".

Allerdings regen solche Zukunftszenarien die Phantasie und Neugier an, zeigen, dass Probleme dazu da sind, gelöst zu werden. Deshalb freue ich mich darüber, dass "Die Welt der Zukunft" gesendet wird. Mit wäre es aber sehr viel lieber, wenn sie als "ehrliche" Science Fiction ohne pseudokumentarisches Drumherum präsentiert würde. Es mangelt nicht an guten Vorbildern, wie den "Science Thrillern"
Rainer Erlers aus den 70er und 80er Jahren. Erlers Filme befassten sich oft mit brisanten gesellschaftlichen Themen wie Atomkraft, Atommüll, Ethik in der wissenschaftlichen Forschung, Genmanipulation, Organhandel. Obwohl sie klar als Fiktionen erkennbar waren, lösten sie kontroverse Reaktionen und lebhafte Diskussionen aus.

Aber vermutlich liegt es daran, dass Science Fiction im deutschen Fernsehen (angeblich) "nicht gut läuft" und "Infotainment" ("Sendung mit der Maus" für Erwachsene plus opulente Bilder - wobei sich die Themenwahl danach richtet, das es sich gut visuell darstellen läßt) gute Einschaltquoten bringt.

Weiterer Senf zum Thema "Prognosen und Zukunftsvisionen":
Ausreden
Orakelzeit
Warum wir süchtig nach Prognosen sind - auch wenn sie in die Hose gehen
Das Ende eines Verkehrsmittels?
Divination zum Jahreswechsel

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