Samstag, 25. Oktober 2008

Aus der Wunderwelt der gut-doofen Filme, heute: Steampunk, familien-kompatibel: Der goldene Kompass

"Der goldene Kompass" ist eigentlich kein "gut-doofer" Film - jedenfalls in dem Sinne, in dem z. B. "Barbarella" "gut-doof" wäre.

Ich habe den Film seinerzeit im Kino gesehen, nun habe ich ihn mir noch einmal auf DVD angetan. Und ich finde den "Den goldenen Kompass" immer noch richtig gut. Aber zugleich noch ein Stück "doofer" als damals im Kino. (Die große Leinwand hat eben ihre eigene Magie - allerdings macht der von Kate Bush interpretierte Titel "Lyra", der den Abspann unterlegt, und der im Kino in Füssegetrappel und Aufsteh-Unterhaltung unterging, Einiges wett ... )

Die literarische Vorlage, der erste Teil der Trilogie His Dark Materials von Philip Pullman, gehört meiner Ansicht nach zu den originellsten Werken der neueren Fantasy bzw. Science Fiction - die Grenzen der Genres gehen in dieser Trilogie fließend ineinander über. Wobei ich persönlich der Ansicht bin, dass "His Dark Materials" Science Fiction ist - und zwar, was manche überraschen wird, zumeist recht realitätsnahe!
Genau so fließend ist der Übergang zwischen "Jugendbuch" und "Erwachsenenbuch". Ähnlich wie bei "Harry Potter" wird der Text mit zunehmender Reife der Hauptperson, Lyra, "erwachsener" - wobei auch der dritte Band für einen aufgeweckten jungen Leser verständlich sein dürfte. (Nicht so aufgeweckte junge Leser kapitulieren möglicherweise schon am Anfang. Im Gegensatz zu "Harry Potter" ist "His Dark Materials" wahrscheinlich nicht der Stoff, mit dem man junge Lesemuffel zum Bücherlesen bringt. Sehr wohl aber ein Stoff, der junge Leser jeden Alters fesseln kann.)

Für "Jugendbücher" typisch ist, dass es um aufregende Abenteuer eines jungen Protagonisten - in diesem Fall dem Mädchen Lyra - geht. Lyra lebt in einer Parallelwelt, die sich von unserer dadurch unterscheidet, dass jeder Mensch einen sichtbaren Dæmonen, einen ständigen Begleiter in Tiergestalt hat, der Teil der Seele seines Menschen ist und sich nie von ihm entfernt. In Lyras Welt ist Brittanien eine strenge Klassengesellschaft mit z. T. feudalen Zügen, die von einer sehr strengen Kirche und einer Behörde namens Magisterium beherrscht wird, die wie eine Mischung aus frühneuzeitlicher Inquisition, dem "Wächterrat" der islamische Republik Iran, dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR und einer von Kafka beschriebenen Bürokratie anmutet. Lyras Welt steht in etwa auf dem selben wissenschaftlichem und technischen Erkenntnisstand wie unsere, allerdings unterscheidet sich die Anwendung der Technik in mancher Hinsicht: Autos sind z. B. selten, da sie der Oberschicht vorbehalten sind, Zeppeline haben sich als das bevorzugte Lufttransportmittel erhalten. Der zweite Protagonist, der im ersten Band "Der goldene Kompass" noch nicht auftaucht, ist der Junge Will, der in "unserer" Welt geboren wurde.

Pullman vermischt humanwissenschaftliche Einsichten und naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit philosophischen Spekulationen und vor allem mit seinen Ansichten über Religion und Spritualität, wobei der Schamanismus eine wichtige Rolle spielt - das Konzept des Seelenbegleiters in Tiergestalt ist z. B. schamanisch. Dass die Romane als Jugendbücher, mit Protogonisten im Pubertätsalter, konzipiert sind, tut ihnen gut, da damit ein leicht nachvollziehbarer "roter Faden" - die Entwicklung Lyras und Wills, ihr Erwachsenwerden - die Romane zusammenhält. Außerdem müssen Jugendbuchautoren in klarer, einfacher Sprache schreiben - pseudointellektuellem "Schwurbeln" und dem bei SF-Schreibern so beliebten "Technobabble" wie dem für viele Fantasy-Schreiber obligatorischem "Esoterik-Schwampf" ist damit ein wirksamer Riegel vorgeschoben.
Das Werk hat eine deutlich antiklerikale Haltung und ist vom Autor bewusst als Gegensatz zur deutlich christlichen, genauer gesagt, katholisch-mythologischen Reihe "Die Chroniken von Narnia" von C. S. Lewis, konzipiert. (Interview mit Pullman im "Spiegel": "Tolkien ist trivial".)

Der Film "Der goldene Kompass" hätte das Zeug dazu gehabt, ebenbürtig neben Peter Jacksons "Herr der Ringe" zu stehen. Leider ist dabei ein ansehbarer, aber enttäuschender Fantasy-Film herausgekommen. Ein guter Film, der viele - manchmal schön anzusehende - "Doofheiten" enthält.

Optisch beeindruckend ist Lyrias Welt umgesetzt - als victorianisch anmutende Steampunk-Welt. Atemberaubenden neogotischen Bauten, Zeppeline und pferdelose Kutschen, die von geheimnisvoll blau leuchtenden "alchimistischen Motoren" angetrieben werden, Schaufelrad-Dampfschiffe und lenkbare Ballons. Allerdings stellt schon das eine gewisse Verfälschung der Vorlage dar, da es in Lyras Welt auch Atomkraftwerke, Atombomben, Computer ("Ordinatoren"), Teilchenbeschleuniger, U-Bahnen und Hubschrauber gibt. Statt pferdeloser Kutschen gibt es (für die Oberklasse) einige luxuriöse Autos, die Zeppeline werden von gewöhnlichen Gasmotoren angetrieben, und ein besegeltes Dampfschiff mit Schaufelrädern wäre im Roman schlicht anachronistisch.
Der optische Eindruck des "Steampunk" ist wie gesagt gut - aber, dass damit der Vorlage Einiges an zum Nachdenken anregendem Potenzial genommen wird, auch irgendwie doof. Gut, wie Pullman selbst sagt, ist der Film eben ein eigenständiges Werk, in dem er nicht Regie führt.
Auch nicht wirklich schlimm ist, dass dem Film einige der düsteren Seiten der Vorlage genommen wurden. Nicht wirklich schlimm, es soll ja ein Familien-Film sein.
Wirklich problematisch ist aber, dass der Film Pullmans religiöse und spirituelle Weltsicht auf "Disney-Stärke" verwässert. Klar, dass die Kirche bei Pullmann eine verbrecherische Organisation und Gott ein hilfloser alter Mann ist, brachte kirchenchristliche Kritiker zum Schäumen. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass solche Aussagen abgeschwächt wurden. Ärgerlich ist jedoch, dass offensichtlich bei der fertigen Fassung die Selbstzensur kräftig zubiss - so wurden Hinweise darauf, dass das Magisterium eine kirchliche Behörde ist, getilgt. Im Film erscheint das Magisterium als Gruppe sinistrer Munkelmänner, die eine nicht näher bestimmte Herrschaft über Lyras Welt ausübt.
Tatsächlich sind in der Kinoversion von "Der goldene Kompass" alle provokanten Elemente bis zur Unkenntlichkeit weichgespült worden.

Was übrig blieb, ist ein guter, stellenweise sogar sehr guter, Fantasy-Film. Aber leider nur auf dem Niveau "Familien-kompatibler" Steampunk.
Man kann es auch so formulieren, wie der Kritiker der FAZ:
Nur dass sich leicht ein großer Film denken lässt, der mit demselben Aufwand, derselben Vorlage, denselben Schauspielern, aber erheblich mehr Mut entstanden wäre.
Da selbst die entschäfte Filmfassung von christlichen Verbänden - und zwar nicht nur den "üblichen Verdächtigen" aus der fundamentalistischen Ecke, die sogar Harry Potter für eine "Anleitung zum Okkultismus" halten - heftig kritisiert wurde, und die Catholic League der Vereinigten Staaten einem Boykott des Films aufrief, ist es sehr unwahrscheinlich, dass die beiden folgenden Teile der Trilogie je ins Kino kommen werden. Oder allenfalls in einer bis zur Unkenntlichkeit umgeschriebenen Fassung.
Was Pullman Tolkien (mit einigem Recht) vorwirft, trifft auf die Ver-Filmung seines Buches voll und ganz zu: "Der goldene Kompass" ist eine ganz traditionelle, ziemlich triviale Geschichte vom Kampf zwischen "Gut" und "Böse".

Warum der Film, trotz massiver Selbstzensur und viel cineastischem Weichspüler in konservativ-christlichen Kreisen ebenso schlecht wegkommt wie die Romane, wird vielleicht aus diesem Artikel aus der "Tagespost" beim katholischen Pressedienst "Zenit" deutlich: Parallelwelten: Wer sie für mehr als nur Fiktion hält, nähert sich dem Atheismus.
Einen einheitlichen Maßstab für Wahrheit gibt es dann nicht mehr, weil die Welten und damit ihre "Logiken" verschieden sind. Lewis fordert, den Preis zu zahlen, der unserem gesunden Menschenverstand widerspricht. Aber wie leicht sich diese Anschauung, auch die in dem oben erwähnten Roman "Der goldene Kompass", mit Atheismus vermischen lässt, ist leicht durchschaubar. Diesen Preis darf man nicht zahlen, man sollte lieber daran festhalten, dass Parallelwelten Fiktionen sind.
Es ist auch leicht durchschaubar, wieso das Parallelweltenkonzept einem konservativen Katholiken nicht behagt: gibt es Parallelwelten, ist das Prinzip des christlichen Dualismus nicht mehr zu halten. Es ist auch dieser augustinische Dualismus, der "mit der katholischen Dogmatik unvereinbar" zu "atheistisch" werden lässt - denn Pullmanns "His Dark Materials" ist nicht atheistisch, noch nicht einmal religionsfeindlich:
Ich habe nur nichts übrig für Theokratie. Immer wenn in Gottes Namen Politik gemacht wird, geht das schief: Wenn Kirchen Armeen aussenden und den Gläubigen exakte Vorschriften für ihr Leben diktieren, ist das falsch.
Pullman gegenüber dem "Spiegel".

Nachtrag: Wie ich zum Parallelweltkonzept stehe habe ich hier schon einmal gebloggt: Der Pfeil der Zeit - oder: John Constantine lebt!

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