Der Pfeil der Zeit - oder: John Constantine lebt!

Anlass ist ein Film im Fernsehen, den ich mir nicht ansehen werde (weil ich ihn schon kenne): Constantine. Er ist, nebenbei bemerkt, ein heißer Anwärter für meine kleine Rubrik "Aus der Wunderwelt der gut-doofen Filme"; das soll hier und heute nicht Thema sein.

Was mich am Film schwer irritierte, war nicht die geänderte Haarfarbe oder der vom Original, den bei uns viel zu wenig bekannten "Hellblazer"-Comics, abweichende Wohnort John Constantines. Tatsächlich stellt der Film das mythologische Konzept von "Hellblazer" auf den Kopf: In den Comics (er hat auch "Gastauftritte" in anderen Comics des "DC-Multiversums") lebt John Constantine in einer Welt, in der alle Götter aller Panthea gleichzeitig existieren und sich von der Verehrung der Sterblichen nähren. Deshalb kann Constantine sowohl die Hölle (im Stile fundamentalistischer Christen) aufsuchen wie sich mit einem aztekischen Totengott unterhalten. Der Film porträtiert das "Jenseits" nach christlichen Vorgaben, genauer gesagt, Vorstellungen aus dem katholische Volksglauben. Da ist es nur konsequent, dass John Constantine im Film kein Magier, Weltenwanderer und (verbitterter) Humanist ist, sondern eine Art Exorzist mit dem Auftrag der Dämonenbekämpfung.

Ich tröste mich mit der Erkenntnis, dass der John Constantine im Film jemand ganz anderes als der John Constantine im Comic ist. Wichtigstes Indiz: Constantine spricht sich in Wirklichkeit "-teine" aus, nicht "-tin" wie im Film. Schrieb ich eben "in Wirklichkeit", obwohl John Constantine eine Comic-Figur ist?
Eben dessen bin ich mir gar nicht mal so sicher. John Moore, der als sein "Erfinder" gilt, gibt an, John Constantine zwei Mal im wirklichen Leben getroffen zu haben Real-life apearances - und so verrückt es klingt: ich glaube ihm.

John Constantine (c) DC Comics
John Constantine aus "Hellblazer"

Würde ich gerade eine Science-Fiction-Story schreiben (wohlgemerkt: Science Fiction, nicht Fantasy), dann würde ich das Erscheinen Constantines in "unserem Universum" wissenschaftlich-spekulativ so erklären:

Ich greife auf eine Hypothese des Kosmologen und Astrophysikers Max Tegmark zurück, die auf der viel diskutierten "Multiversums"-Hypothese aufbaut, nach der es nicht nur dieses Universum, in den wir leben, gibt, sondern mehrere. Mehr noch: er behauptet, dass alle überhaupt möglichen Universen wirklich sind. Ihm zufolge besitzen einige von ihnen Zeit, andere nicht. Aber sie sind nicht in der Zeit. Die Zeit existiert in ihnen, nicht umgekehrt.Auf einem hochkarätig besetzten Symposium der New York Academy of Science, über das Rüdiger Vaas in der aktuellen bild der wissenschaft berichtet, setzte Tegmak seiner provokanten These noch eins drauf:
"Warum ist die Entropie so niedrig? Weil wir in einem Multiversum leben."
(Zitiert nach: bild der wissenschaft, Heft 1 / 2008, Artikel: "Die mysteriöse Richtung der Zeit" von Rüdiger Vaas.)
Das heißt: Weil es jedes mögliche Universum gibt, egal, wie unwahrscheinlich es ist, muss es auch unser Universum geben. Wir können in der überwältigenden Mehrzahl der Universen nicht existieren, weil die meisten Universen sozusagen, wie Vaas es formuliert, "totgeboren" sind - weil die ihn ihnen herrschenden Naturkonstanten etwa die Entstehung von Sternen und schweren Elementen gar nicht zulassen. Wir sollten uns also nicht über die lebensfreundlichen Bedingungen in unserem Universum wundern. Das ist genau so wenig überraschend, wie die Tatsache, dass wir auf der Erde leben und nicht auf Merkur oder Pluto, denn dort wäre es für Leben, wie wir es kennen, zu heiß oder zu kalt.
Tegmark glaubt, wie viele andere Physiker, dass die Zeit "vorwärts" läuft, weil wir in einem Universum, in dem das nicht so wäre, schlicht nicht existieren könnten.
Egal, wie umstritten Tegmarks Deutung noch ist - die Idee eines Multiversums, in dem alle Universen existieren, die überhaupt existieren können, ist für Science Fiction Autoren unbestreitbar reizvoll. Wenn es unendlich viele Universen gibt, dann existieren auch alle Universen, in denen die aus unserem Universum bekannten Naturgesetze gelten. Alle. Damit gibt es nicht nur uns unendlich oft, es würden nicht nur unendlich viele Universen existieren, in denen Hitler den 2. Weltkrieg gewonnen hätte, und ebenso so unendlich viele, in dem ich die heutige Nacht in einem Gefängnis verbracht habe, sondern auch alle "fiktiv erdachten" Universen, solange nur ihre "Schöpfer" darauf achteten, keine die Existenz von Leben gefährdenden abweichenden Naturkonstanten einzuführen, existieren. (Besonders freigiebigen Gebrauch von dieser Idee machte Robert A. Heinlein, dessen "Alterswerke" ab "The Number of the Beast" fast alle in einem Multiversum spielen, in dem alle "fiktiv erdachten" Universen existieren - also auch alle Romanfiguren Heinleins. Und selbstverständlich auch John Constantine.)

Ich mag dieser radikalen Idee nicht ganz folgen, auch nicht als SF-Schreiber. Sympatischer ist mir ein neues, pfiffiges, Modell, das von der aus Albanien stammenden Physikerin Laura Mersini stammt: Sie beschreibt eine Art Selektionsmechanismus, der nur solche Universen groß und stark werden lässt, die eine niedrige Entrophie besitzen. Voraussetzung ist die Existenz vieler physikalischer Möglichkeiten - etwa die in den letzten Jahren viel diskutierte "Landschaft" der Stringtheorien; ein "heißer Anwärter" für eine Weltformel. Eine Formel, die eine enorme (aber nicht unendliche) Menge von Lösungen hat - vielleicht 10500. Jede Lösung würde einem möglichen Universum entsprechen. Für eine "anthropische" Erklärung im Stile Tegmarks wäre selbst diese enorme Zahl viel zu klein. Doch Laura Mersini hat einen Mechanismus in den quantenkosmologischen Grundgleichungen entdeckt, der wie ein Filter wirkt: In der "Landschaft" der möglichen Anfangsbedingungen für eine inflationäre Ausdehung eines Universums (die wiederum Grundvoraussetzung für eine niedrige Entropie ist) kommt es gleichsam zu einem Kampf zwischen den Eigenschaften der Materie und der Schwerkraft.
Die meisten Kombinationen dieser Größen führen entweder zu Universen, die sofort wieder kollabieren, oder solchen, die in eine zyklische Dynamik geraten, also sich in einer Ewigen Wiederkehr selbst wiederholen, sich also ebenfalls nicht entwickeln können. Nur eine bestimmte "Mischung" der Anfangsbedingungen führt zu Inflation - und damit zu Universen mit niedriger Entrophie. Aus der Fülle der theoretischen Möglichkeiten sind Universen der Art unseres Universums also ziemlich wahrscheinlich. Festzuhalten bleibt: es gibt mehr als nur ein Universum, und alle "erfolgreichen" Universen sind dem uns bekannten sehr ähnlich.
Bei all dem ist es wichtig, im Auge zu behalten, dass "Zeit" eine von der Entrophie abgeleitete Größe ist - und keine elementare Eigenschaft unseres Universums oder anderer Universen. Es gilt nach wie vor "Zeit ist eine Illusion" - und wir altern nicht etwa, weil die Zeit vergeht, sondern die Zeit vergeht, weil wir altern.

Ich neige (als Amateurphilosoph, -kosmologe, und -SF-Schreiber) zu einem Modell der "offenen Wirklichkeit". Das hieße etwa: es ist durchaus möglich "in der Zeit zu reisen". Aber wäre ein Zeitreisender in der "Vergangenheit", etwa dem Jahr 1908, angekommen, dann gilt diese "Offenheit" auch für seine aktuellen Gegenwart, die Erde des Jahres 1908. Es ist ihm auch dort nicht möglich, die "Zukunft" vorherzusagen, denn es gibt sie noch nicht - und er kommt nur aus einer "möglichen" (oder virtuellen) Zukunft. Er weiß über die Zukunft "seines" 1908 nichts genaues, z. B. nützt es ihm gar nichts, wenn er die Lottozahlen oder ähnliches wüsste. Dafür hätte er aber die Chance, auf den jungen, obdachlosen Postkartenmaler Adolf Hitler in einer Weise einzuwirken, dass in dieser, nun seiner, Welt eine bestimmte schreckliche mögliche Zukunft sich niemals manifestieren wird. (Gut, ich habe keine Beweise dafür, dass es sich wirklich so verhält. Aber ich erlebe die Welt genau so.)

Zurück zu John Constantine - er hat zwei in der Welt der Comichelden seltene Eigenschaften: ersten altert er, und zwar in genau der gleichen Weise, wie ein unzweifelbar für uns realer Mensch, der wie er am 10. Mai 1953, in Liverpool, England, zu Welt kam, altert. Die zweite Eigenschaft: er ist sich der Existenz anderer, alternativer, Universen bewusst - einschließlich der "unserer" Realität.

So gesehen, ist John Constantine ein Comicheld, der leicht in "unserer" Realität existieren könnte. Jedenfalls würde ich nicht an meinem Verstand zweifeln, wenn ich ihm begegnen würde. (Während ich genau das täte, wenn mir Superman oder Mickey Maus über den Weg laufen würden.)

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