Religion, Magie, Mythen

Freitag, 7. Dezember 2007

Jul-Tradition

... mal sehen, ob er noch da ist: bocken kamera.

Wer sich fragt, was das soll, den verweise ich (ja richtig geraten!) auf einen Artikel, den ich vor gut einem Jahr schrieb: Bock auf Jul.
(Gegen Jahresende wird mein Blog sehr selbstreferenziell.)

Mittwoch, 31. Oktober 2007

Halloween-Horror aus dem Freistaat?

Und wieder einmal ist Samhain. Oder, wie man es neuerdings auch bei uns nennt, Halloween. (Ich verweise der Einfachheit halber auf meinen Artikel vom vorigen Jahr, der ist immer noch aktuell: Monster-Party)
KürbisFoto: Pixilio (Ehemals: pixelquelle)

Als Heide und Norddeutscher traue ich den Kirchenoberen sowie dem königlich bayrischen Innenministerium sowieso allerlei gruselige, nervenzerfetzende, sich dem Verstand entziehende Horror-Vorschriften zu. Und tatsächlich kommen aus dem finsteren Reich im Süden Deutschlands mitunter Gesetzesvorschläge, die anmuten, als hätten bajuwarische Hohepriester und Häuptlinge Politiker sie beim Biergläserrücken aus der Anderswelt übermittelt bekommen. Ganz arg soll es in den Kolonien am Main zugehen, wo die fränkischen Eingeborenen unter dem Joch der Münchner Imperialisten stöhnen.

Deshalb fand ich, dass folgende Äußerung nicht einer gewissen Plausibilität entbehren würde:
In Würzburg hat die Kirche mal eben mit Unterstützung des bayerischen Innenministeriums alle Halloween-Feiern verbieten lassen.
Freistaat BayernFoto: Pixilio
Da ich aber weder ein termingestresster und innerlich gekündigter Normaljournalist, noch ein agendasetting-geschädigter Qualitätsjournalist, sondern ein ganz ordinärer Blogger bin, traute ich dem Gerücht nicht, und recherchierte ein wenig in diesem gruseligen Internetdingens, vor dem manche Qualitätsjournalisten sich so schrecklich fürchten.

Also: In Würzburg finden offensichtlich zahlreiche Halloween-Parties statt, z. B. hier oder hier oder hier. Von einem Verbot kann also wohl keine Rede sein. Selbstverständlich grausen sich Würzburger Protestanten (oder zumindest ein Würzburger Prostestant) vor dem keltisch-amerikanischen Grusel-Karneval, aber sie suchen das Heil nicht im Verbot, sondern in Alternativen: Reforween.

Was steckt also hinter diesem Gerücht? Ich vermute, eine Stille-Post-Übermittlungskette, die vielleicht bei diesem Artikel der "Frankfurter Neuen Presse" ihren Anfang nahm: Kirchenvertreter kritisieren den Siegeszug des Halloween-Festes in Deutschland - Schabernack oder Heidentum? , wo sich zwar kein Würzburger, aber ein Fuldaer Bischof ganz doll gruselt:
Der Fuldaer Bischof Heinz Josef Algermissen plädiert dafür, „statt Halloween-Partys die Hoffnungsperspektive von Allerheiligen und Allerseelen zu feiern“. Wenn das Fest der bösen Geister von den Menschen ernst genommen werde, sei das ein „Ausdruck des Neuheidentums“, heißt es in einer Mitteilung des Bistums Fulda.
(Als Neuheide staune ich nur: Was heißt hier böse Geister? Auch die Toten wollen nur feiern! Und wenn da so ein Pfaffe ihnen den Spaß verdirbt, dann ist es kein Wunder, dass sie böse werden.)
Das Gerücht könnte auch von diesem Artikel der "Süddeutschen Zeitung" inspiriert sein: Kirche gegen Kürbisköpfe. Aber auch da geht es nur um angenervte evangelisch-lutheranische Christen, die am 31. Oktober lieber ihren Martin Luther gefeiert sehen wollen. Allerdings: wenn der württembergische Bischof Frank July behauptet: "Die evangelische Kirche hat die älteren Rechte auf dieses Datum", dann hat er die Katholiken gegen sich, deren damaliger Oberpriester Gregor im Jahr 835 Allerheiligen auf den 1. November gelegt hatte. Wobei Gregor unzufällig das Datum des christlichen Totenfestes an das keltische Ahnenfest Samhain "anlehnte", womit er dann auch die Hexen und Heiden gegen sich hätte.

Donnerstag, 25. Oktober 2007

Schweden macht ernst mit der Teilung von Staat und Kirche in der Schule

In Schweden sollen im Unterricht religiöse Dinge in Zukunft nicht mehr so behandelt werden, als ob es sich hier um objektive Wahrheiten handeln würde; dies gilt im Übrigen auch für die katholische Schulen.

Der Schulunterricht solle außerdem nicht vom Glauben beeinflusst sein, forderte der schwedische Schulminister Jan Björklund. Er rechtfertigt die Maßnahmen der Regierung damit, dass "Schüler vor jeder Art von Fundamentalismus geschützt werden müssen". Gebete oder Gottesdienste sind auch zukünftig erlaubt.

Eigentlich versteht es sich von selbst, dass religiöse Dinge nicht im selben Sinne "Fakten" sind, wie z. B. der Satz des Pythagoras, der 30-Jährige Krieg, der lateinische Ablativ - oder die Evolution im Bio-Unterricht. Mythen und religiöse Glaubenssätze können auf ihre Weise wahr sein, aber es handelt sich um eine Form der Wahrheit, die sich schwerlich z. B. in Klassenarbeiten abfragen lässt.

Vor diesem Hintergrund wirkt es hysterisch, wenn das KATH.NET diese Nachricht so überschreibt: Schweden: Regierung verbietet religiöse Aktivitäten in Schulen
Nur eine tote Religion ist eine gute Religion: Dieser Meinung ist die schwedische Regierung, die jetzt ein Konzept entwickelt hat, das Religion in Schulen zwar zulässt, sie jedoch vollkommen aushöhlt.
Dass es diese Gesetzesinitiative - die neuen Richtlinien müssen noch vom Parlament angenommen werden - in Schweden gibt, ist kein Zufall: Schweden ist ein konfessionell relativ einheitliches Land. Mehr als 75 % der schwedischen Bevölkerung gehören der evangelisch-lutherischen Kirche an. Die zweitgrößte Gruppe sind die Konfessionslosen, dann schon kommen die Moslems (fast ausschließlich Einwanderer). Die Katholiken sind, wie die Orthodoxen und die Anhänger von Freikirchen, eine kleine Minderheit.

Da es in protestantischen Kirchen neben der Bibel keine religiöse Autorität gibt, und, soweit mir bekannt ist, in den lutherischen Großkirchen fundamentalistische Bibelauslegungen kaum eine Rolle spielen, dürften die meisten evangelisch-lutherischen Christen mit den neuen schwedischen Regelungen kaum Schwierigkeiten haben. Bei Katholiken dürfte das zum Teil anders aussehen: Dogmen haben Wahrheitsanspruch, auch wenn es in der Praxis kaum Katholiken geben dürfte, die die "jungfräuliche Geburt Marias" für eine gynäkologische Tatsache halten.

Der "Knackpunkt", der wirkliche Anlass für die vorgeschlagene Reform ist wahrscheinlich das befürchtete Vordringen von "Intelligent Design", also einer wissenschaftlich verbrämten religiösen Schöpfungslehre in den Biologieunterricht. Dass (konservative) Katholiken in der Verbannung der Schöpfungslehre aus dem Bio-Unterricht eine "Aushöhlung der Religion an den Schulen" sehen lässt meiner Ansicht nach tief blicken.

Nachtrag: Um Missverständnisse zu beseitigen: Die neue schwedische Regelung besagt nichts anderes, als dass religiöse Lehren nicht außerhalb des Religionsunterrichts gelehrt werden dürfen. An staatlichen Schulen ist das schon jetzt so, nun sollen sich auch Konfessionsschulen daran halten. Die schwedische Regierung will religiöse Aktivitäten in der Schule nicht verbieten.
The new rules, which need parliamentary approval, would be introduced in 2009, Bjorklund's spokeswoman Anna Neuman told The Associated Press.

"A student shouldn't be able to pass a natural science test by answering that God created the world. We don't think that's OK," Neuman said.
Sweden wants to curb religious elements in private school education

Sonntag, 5. August 2007

Reinkarnieren nur noch mit staatlicher Erlaubnis

Den "lebenden Buddhas" Tibets wurde untersagt ohne vorherige Erlaubnis der chinesischen Regierung zu reinkarnieren.
Times online: China tells living Buddhas to obtain permission before they reincarnate

Was wie ein Witz klingt, ist seitens der atheistischen chinesischen Regierung bitter ernst gemeint. Das Verbot ist Teil neuer Gesetze, die die Autorität Beijings über die widerstrebende und tief buddhistische einheimische Bevölkerung Tibets stärken sollen.
Gemäß der am 1. September in Kraft tretenden Vorschrift sind so genannte reinkarnierte lebende Buddhas, die keine Genehmigung der Regierung haben, illegal und ungültig.

Die neuen Vorschriften der Behörde für religiöse Angelegenheiten soll den Einfluss des im Exil lebenden Dalai Lamas einschränken - auch wenn dieser erst vor Kurzem in Hamburg öffentlich verkündete, dass er nicht vor hätte, im chinesischen Machtbereich "neugeboren" zu werden.
Tatsächlich sind die reinkarnierten Lamas, die Tulkus, ein wichtiger Machtfaktor im religiösen und gesellschaftlichen Leben Tibets. Sie leiten oft religiöse Gemeinden und beaufsichtigen die Ausbildung der Mönche. Deshalb verbietet Beijing es jedem, der nicht in China lebt, an der Suche nach einem lebenden Buddha teilzunehmen. Das zielt vor allem auf den Dalai Lama ab, der damit von seiner traditionellen wichtigen Rolle beim Erkennen und Anerkennen einer Reinkarnation ausgeschlossen werden soll.

China besteht schon bisher darauf, dass nur die Regierung die beiden wichtigsten Geistlichen des tibetischen Buddhismus, den Dalai Lama und den Panchen Lama, im Amt bestätigen kann.
Als der Dalai Lama im Mai 1995 bekanntgab, dass eine Suche in Tibet in Zusammenarbeit mit einem prominenten Abt die Reinkarnation des 1989 verstorbenen 10. Panchen Lamas identifiziert hätte, erzürnte das Beijing. So bizarr es auch klingen mag, die atheistischen Behörden veranlassten eine neue Suche und schickten ein hochrangiges Mitglied des Politbüros nach Lhasa, um die Endauswahl zu überwachen.
Der vom Dalai Lama ausgewählte Junge ist "verschwunden". Der Abt, der mit dem Dalai Lama zusammengearbeitet hatte, wurde inhaftiert, sein Verbleib ist ungeklärt.
Allerdings reinkarnieren auch nicht so hochrangige tibetische Lamas innerhalb und außerhalb der Grenzen der Volksrepublik China. Mit den neuen Vorschriften hat China bei der Ernennung der meisten hochrangigen Lamas das letzte Wort.
Tibet-Experten vermuten, dass die neuen Vorschriften außerdem den Einfluss neuer Lamas beschränken sollen.

Warum mischen sich atheistische Politiker in einen mystisch-religiösen Vorgang ein?
Die für mich naheliegende Erklärung ist die Angst vor Kontrollverlust. Sie treibt auch bei unseren Politikern, unseren Wirtschaftsführer, Behördenchefs und Verbands-Funktionären regelmäßig unschöne und die Bürgerrechte gefährdende Blüten.
Wie das erst in einer im Kern immer noch totalitären Diktatur sein wird, kann sich, denke ich, jeder nicht völlig politisch Naiver gut vorstellen.
Aus diesen Grunde toleriert Beijing zwar die katholische Religion - nicht aber die Autorität des Papstes über die chinesischen Katholiken. Es gibt in der VR China keine höhere Instanz als das Politbüro, schon der Gedanke, dass in irgendeiner Frage von einiger Bedeutung irgendjemand anders das letzte Wort haben könnte, ist einfach im System nicht vorgesehen.
Sollten die Mitglieder des Politbüros tatsächlich so denken, wie offiziell behauptet wird, dass sie so denken würden, sind sie Leninisten: Religion ist nicht nur, wie Marx schrieb, "Opium des Volkes" (im Sinne einer "Droge", die die harte Realität erträglich macht) sondern "Opium für das Volk" (eine betrügerische Inszenierung, um das Volk zu gängeln). Im Falle Tibets kommt die traditionelle enge Verbindung zwischen Religion und Politik hinzu - Religion hier also im leninistischen Verständnis eine besonders "harte Droge", während andere, politisch abstinente, Formen der Religion "weiche Drogen" sind, die das nachmaoistische China nicht wirklich stören, weil sie eher als "Beruhigungsmittel" wirken. Beijing handelt meines Erachtens nach der selben Logik, wie eine westliche Regierung im "Krieg gegen die Drogen", wenn sie weder den "Konsum" unterbinden, noch der "Großdealer" habhaft werden kann, weil diese im Ausland sitzen: Er gibt kontrolliert "Ersatzdrogen" aus, um das Problem wenigstens einzudämmen. Von der Regierung ernannte und kontrollierte Geistliche sind sozusagen "religionspolitisches Methadon".

Hinzu kommt, das vermute ich, dass China eine völlig andere Geschichte hat, als "der Westen" mit seinen Religionskriegen und bis zur "Aufklärung" permanenten (danach sporadischen) Machtkämpfen) zwischen "geistlichen" und "weltlichen" Autoritäten. "Die Lehren der Geschichte" sehen für einen chinesischen Politiker, in einem Land, in dem es seit der Ch'in-Dynastie (seit ca. 220 v. u. Z.) keine von nicht staatlich "beamtete" Geistlichkeit gab, völlig anders aus, als für "westliche" Politiker. Selbst Lenin und seine Nachfolger berücksichtigten bei ihrer atheistischen Religionspolitik die lange Geschichte der orthodoxen Kirche als eigensinniger Machtfaktor in Russland, so wie sie auch den Verlauf des jahrhundertelangen "Investiturstreites" zwischen Kaiser und Papst im Westen Europas kannten. Selbst ein Stalin wäre nicht auf die Idee gekommen, den Metropoliten von Russland nach eigenem Gusto zu ernennen - was genau der Installation des ihnen genehmen Panchen Lamas durch das chinesische Politbüro entspricht, weil er wusste, dass so ein "Marionettengeistlicher" keinerlei Autorität bei den Gläubigen genießen würde.

Sonntag, 29. Juli 2007

In Verteidigung eines "Vertreters der Antimoderne"

Der Besuch der Dalai Lamas in Deutschland ist vorbei. Da ist es kein Wunder, wenn sich auch die Gegner des Dalai Lamas und des tibetischen Buddhismus zu Wort melden. Obwohl ich kein Anhänger der Buddhismus bin, halte ich einige dieser kritischen Stimmen schlicht für unfair.
Zum Beispiel eine Presseerklärung der "Aktion 3. Welt Saar":
"Friedfertigkeit ist nur Fassade – In der Praxis für Gewalt und gegen die Errungenschaften der Aufklärung":
Anmerkung: die Erklärung ist nicht mehr online.

Ein harter Vorwurf, denn der Dalai Lama gilt als äußerst toleranter Religionsführer und ist immerhin Friedensnobelpreisträger. Wie stichhaltig ist er?
Hinter der von ihm hoch gehaltenen Botschaft von Frieden und Toleranz verbirgt sich bei näherer Betrachtung eine durch und durch unfriedliche und undemokratische Praxis. Einerseits ist das so genannte geistige und politische Oberhaupt der Tibeter nie demokratisch gewählt worden. Als kleiner Junge wurde er auf Grund eines okkultistischen Rituals zum Staatsoberhaupt erkoren.
Dass der Dalai Lama ebenso wenig demokratisch gewählt wurde wie z. B. die dänische Königin als geistiges und staatliches Oberhaupt der Dänen, stimmt selbstverständlich. Daraus folgt natürlich nicht, dass Dänemark ein undemokratischer Staat sei. Im Gegensatz zur feudalen Praxis im "alten Tibet" strebt die tibetische Exilregierung ein parlamentarisches System an, in dem der Dalai Lama schon jetzt eine einem König in einer parlamentarischen Monarchie vergleichbare, repräsentative Position einnimmt.
Zum anderen billigte der „gewaltfreie“ Dalai Lama den von 1958 bis 1973 gegen die Chinesen geführten bewaffneten tibetischen Untergrundkampf und begrüßte die indische Atombewaffnung.
Dass der Dalai Lama den bewaffneten Widerstand gegen eine Besatzungsmacht, die vor allem in der Mao-Zeit mit äußerst brutalen Mitteln vorging, nicht ausdrücklich missbilligte, ist ihm schwerlich als "unfriedliche" Gesinnung anzukreiden. Dafür, dass er die indische Atombewaffnung befürwortete, ist mir kein Beleg bekannt. Es wäre aber meines Erachtens schon erstaunlich, dass ein Mann, der u. A. in seiner Autobiographie gegen alle Atomwaffen eintritt, ausgerechnet die Sprengköpfe des mehrheitlich hinduistischen Indien davon ausgenommen hätte.
Das "alte Tibet" vor 1950 war alles andere als idyllisch. Unter der feudalen Herrschaft der Lamas, der buddhistischen Priester, lebte die brutal ausgebeutete Bevölkerung in bitterster Armut und wurde durch grausamste Strafen für kleinste Vergehen bei der Stange gehalten.
Das wird heute allenfalls von unbelehrbaren Tibet-Schwärmern bestritten. Selbst der Dalai Lama macht in seiner Autobiographie "Das Buch des Friedens" keinen Hehl daraus, dass das feudale "alte Tibet" ein in jeder Hinsicht ein rückständiges, unterdrückerisches und ungerechtes System war. Nach seinen eigenen Angaben erhoffte er sich von der chinesischen Besatzungsmacht anfangs sogar einen dringend erforderlichen Modernisierungsschub - bzw. einen Stärkung seiner reformerischen Position gegenüber der "traditionellen" Fraktion innerhalb der herrschenden Mönchsoligarchie. Auf keinen Fall strebt das tibetische Exilparlament eine Wiedereinführung des Feudalsystems an.
Der tibetische Buddhismus ist extrem frauenfeindlich. Beispielsweise schlossen die "sexualmagischen, spirituellen" Praktiken des tibetischen Tantra die Vergewaltigung junger Frauen und sexuellen Kindesmissbrauch ein.
In der Tat: eine gern verschwiegene Seite des tibetischen Buddhismus. Aber: ob das u. A. vom Ehepaar Trimondi in ihren umstrittenen Buch "Der Schatten des Dalai Lama" erwähnte Kalachakra-Tantra-Ritual, aus dem die beschriebenen Praktiken stammen, noch für die jüngerer Vergangenheit relevant ist, geschweige denn für den zeitgenössischen tibetischen Buddhismus, darf m. E. sehr wohl bezweifelt werden. Dies dem jetzigen 14. Dalai Lama anzulasten, wäre ähnlich unfair wie z. B. Papst Benedikt XVI. die Ketzer- und Hexenverbrennungen oder die Kreuzzüge anzukreiden.
Die freundschaftlichen Beziehungen der buddhistischen Herrscher Tibets zu den Nationalsozialisten finden ihre Fortsetzung in den guten Beziehungen des Dalai Lama zu Vertretern rassistischer und antisemitischer Esoteriksekten.
Die "freundschaftlichen Beziehungen" zwischen Nazis und den Herrschern des "alten" Tibets waren ausgesprochen einseitig. Himmler hätte gerne gewusst, ob es Spuren für die Herkunft der arischen Herrenrasse in Tibet gab. Die meisten Nazis dachten pragmatischer, ihnen ging es darum, in Innerasien Fuß zu fassen, allenfalls noch darum, für die Kriegswirtschaft und künftige "Siedlungsgebiete im Osten" nach geeigneten Getreidekörnern, Samen und Pferden zu suchen. Nach dem jetzigen Wissenstand gibt es keine Belege für Kontakte vor und während des Zweiten Weltkrieges zwischen offiziellen Stellen des Dritten Reiches und Personen oder Institutionen in Tibet. Auch Ernst Schäfer, Leiter der SS-Tibet-Expedition 1938/39, wurde von den Tibetern mit größtem Misstrauen betrachtet und erreichte die angestrebten strategischen Ziele nicht. Schäfer gelang es jedoch, einen unverbindlichen Brief des tibetischen Regenten an Hitler zu ergattern, in dem "auf Wunsch Schäfers die Zustimmung zu gegenseitiger Freundschaft" gegeben wurde.
So war Shoko Asahara, Gründer der japanischen AUM-Sekte und Hauptverantwortlicher für den tödlichen Giftgasanschlag auf die U-Bahn von Tokio im März 1995, ein Schützling des Dalai Lama.
Shoko Asahara berief sich - höchst selektiv - auf den japanischen Zen-Buddhismus und den Hinduismus, aber auch auf pseudowissenschaftliche Lehren und christliche Endzeitmystiker. (Übrigens beruht die Bezeichung "AUM-Sekte auf einer Fehltranskription - sie heißt Omu Shinrikyo, mit langem "O", nach der dem bekannten hinduistischen Mantra "Om".) Dass Asahra den Dalai Lama als seinen "spirituellen Lehrer" bezeichnete, besagt wenig, diese zweifelhafte Ehre wurde u. A. auch dem Science Fiction-Autor Isaac Asimov zuteil. Wie andere buddhistische Gruppen erhielt auch Omu Shinrikyo eine Grußadresse des Dalai Lamas, zu einer Zeit, in der Shoko Asahara noch nicht als Terrorist in Erscheinung getreten war. Man kann dem Dalai Lama aber durchaus vorwerfen, bei der Verteilung seiner Freundschaftsbekundungen manchmal zu unkritisch zu sein.

Bei genauem Hinsehen entpuppt sich der aufklärerische Artikel der "Aktion 3. Welt Saar" als unkritische Zusammenfassung der Hauptvorwürfe gegen den Dalai Lama und den tibetischen Buddhismus aus Colin Goldners ebenso polemischen wie wegen zahlreicher sachlicher Fehler umstrittenen Biographie "Dalai Lama. Fall eines Gottkönigs".

Meines Erachtens gehört der tibetische Buddhismus in seiner gegenwärtigen Form, trotzt seiner geradezu katholisch anmutenden Höllenstrafen, seiner ziemlich "unbuddhistisch" anmutenden gewaltlastigen Mythologie, und seiner traditionellen (aber vom Dalai Lama nicht befürworteten) Frauenfeindschaft, zu den tolerantesten und am wenigsten anti-aufklärerischen Religionsgemeinschaften, die es zur Zeit gibt.

Kritisches Dossier von "Tourisms-Watch": Der Tibet-Mythos

Mein Artikel zu einer interessanten These der Trimondis, betrifft auch die angebliche "dunklen Seite des tibetischen Buddhismus":
"Die Apokalyptische Matrix".

Nachtrag: Eine wichtige Quelle der Gegner des Dalai Lama dürfte ein eher polemischer als kritischer Artikel des britischen Journalisten Christopher Hitchens aus dem Jahr 1989 gewesen sein, der bei salon.com archiviert ist: His material highness". Schwerpunkte des Artikels sind die angebliche (verbale) Unterstützung der indischen Atomversuche durch den Dalai Lama, und die Tatsache, dass er eine Spende von Shoko Asahara akzeptierte und diesem Audienz gewährte (was ich bisher nicht wusste). Der Artikel bezieht seine "Brisanz" ausschließlich aus dem Kontrast des ins Überirdische gesteigerte Heiligen-Image Tenzin Gyatsos und seiner durchaus irdischen Fehlbarkeit nebst einem Hang zu pragmatischen und realpolitischen Aussagen, die wahrscheinlich bei einem Politiker oder selbst einem "normalen" hohen Geistlichen keine Story wert gewesen wären. Das Ganze wird durch einige polemische Seitenhiebe gegen die Buddhismus-Manie Hollywoods gewürzt. Brian Given, ein Soziologe und Tibet-Kenner, schrieb eine detaillierte Antwort auf diese Kritik, die in den "World Tibet Network News" archiviert ist: Defending the Dalai Lama.

Montag, 2. Juli 2007

Gleichstellung für Ymir!

Dass Minister gern vergessen, was im Grundgesetz steht, ist zumal bei überwachungsfreudigen Innenministern nichts Neues. Neu ist, dass eine deutsche Ministerin nicht nur vergisst, dass da im Grundgesetz etwas von der Trennung von Staat und Kirche steht. Nein, Frau Wolff sieht außerdem nicht nur keinen Widerspruch zwischen der biblischen Schöpfungsgeschichte 1. Moses 1,26, bei der Gott den Menschen "als Mann und Frau" durch das Wort schafft, und der Geschichte 1. Moses 2, 7, in der es heißt: "Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase", sondern auch zwischen dem Schöpfungsmythos der Bibel und der naturwissenschaftlichen Evolutions-Theorie. Anders ist ihre Behauptung, die biblischen Schöpfungsmythen seien kompatibel mit moderner Wissenschaft kaum zu verstehen. Dann hat Thors Hammer auch "erstaunliche Übereinstimmungen" mit der modernen Meteorologie oder die Auffindung des Weltenbaumes Yggdrasil ist legitimes Ziel geographischer Expeditionen. Wenn von Frau Ministerin Wolff schon quasi Grizzlybären und Glücksbärchen gleichgesetzt werden, dann fordere ich für heidnische Mythen Gleichbehandlung! (Und das Universum wurde sowieso aus dem Fleisch, dem Blut und der Knochen des erschlagenen Riesen Ymir geschaffen! Was erstaunliche Übereinstimmungen mit der Urknall-Theorie aufweist, denn auch Ymir bekam ganz gewaltig eine geknallt!)

Übrigens scheint auch Bayerns Innenminister, Günter "Doppelzunge" Beckstein, ein ganz besonderes Verhältnis zur Trennung von Staat und Kirche zu haben: "Staat und Kirche gehören zusammen, es gibt kein Gegen- und auch kein Nebeneinander."

Dienstag, 12. Juni 2007

Gedanken zur Schöpfung

Obwohl ich überzeugter Heide bin, sehe ich ab und an "Jesus.de" vorbei. Zum Beispiel zitiert dieser Artikel »Um Gottes Willen – Kreationisten auf dem Vormarsch« ausführlich einen Beitrag auf HR3, der mir sonst entgangen wäre. In dieser Artikel fand sich ein Zitat des rationalistisch-naturalistischen Philosophen und erklärten Atheist Michael Schmidt-Salomon von der Giordano-Bruno-Stiftung. Er-wurde gefragt, ob Religion überhaupt ohne den Schöpfungsglauben auskomme.
Wer die Schöpfungslehre aus dem Glauben streicht, sei es bei den Christen, den Juden oder den Muslimen, der kann eigentlich auch den ganzen Rest seines Glaubens vergessen. Die Schöpfungslehre ist die Basis des religiösen Glaubens. Das steht auch im Katechismus der katholischen Kirche klar formuliert.
Ich stimme Schmdt-Salomon zu, man kann ohne Bekenntnis zum Schöpfungsglauben kein Katholik sein. Dennoch sind nicht alle Katholiken Kreationisten oder Anhänger des "Intelligent Designs". Selbst Papst Benedikt XVI. bemüht sich sichtlich, darwinistische Evolutionstheorie und biblischen Schöpfungsmythos unter einen Hut zu bekommen - was sogar funktionieren kann, solange der Mythos als Mythos und nicht als biologische Tatsache aufgefasst wird. Das ist auch der Grund, weshalb sehr viele, vielleicht sogar die meisten, Christen längst ihren Frieden mit Darwin gemacht haben.
Wer die Schöpfungslehre aus dem Christlichen, jüdische oder islamischen Glauben streicht, der entzieht in der Tat dem jeweiligen Glaubensgebäude sein Fundament. Allerdings: das Judentum ist eine Gesetzesreligion; solange man sich an die Gebote hält, kann man durchaus Jude sein, ohne an Gott zu glauben. Und eine mythologische oder allegorische Deutung der jeweiligen Schöpfungslehre bietet sich ohnehin an - außer für buchstabengläubige Fundamentalisten. Die meisten Juden und Christen (zumindest in Europa) glauben hingegen ganz sicher nicht an die wörtlich ausgelegte Genesis.

Stellt sich die Frage: gibt es Religion ohne Schöpfungslehre - und ohne Schöpfergott?
Dafür gibt es zwei Antworten: Wenn unter Religion "etwas in der Art" von Christentum, Judentum, Islam gemeint ist, lautet sie: "Nein". Zentrales Element ist, dass der einzige Gott zugleich Schöpfer der Universums ist - in welcher Form auch immer.
Es gibt daneben spirituelle Lehrsysteme, wie den Buddhismus, die bei uns ebenfalls, nicht ganz zurecht, "Religionen" genannt werden. Die buddhistische Lehre benennt weder einen allmächtigen (Schöpfer-)Gott noch eine ewige Seele.

Die meisten polytheistischen Religonen (für die ebenfalls der bei uns Religionsbegriff nicht richtig greift) kennen Weltentstehungsmythen - manche sogar mehrere sich widersprechende. Der entscheidende Unterschied zu den monotheistischen Religionen ist, dass die Götter nicht Schöpfer des Universums sind - das Universum entstand spontan.
In diesem Sinne kommt die Mehrheit der Religionen ohne Schöpfung, ohne Schöpfergott - und selbstverständlich ohne "Intelligent Design" aus.

Freitag, 1. Juni 2007

Wo der Hammer hängt

Ich schätze den Evolutionsbiologen Richard Dawkins sehr. Jedenfalls gilt das für seine wissenschaftlichen Arbeiten. Richard Dawkings ist auch kämpferischer Atheist. Wahrscheinlich ist der kämpferische Atheist Dawkins inzwischen prominenter als der Biologe Dawkins, trotz der immer noch anhaltenden Kontroverse um das "egoistische Gen". (Nebenbei: einer der am häufigsten missverstandenen Begriffe der jüngeren Wissenschaftsgeschichte.)

Kämpferische Atheisten sind mir grundsätzlich nicht unsympathisch, jedenfalls sympathischer als alle religiösen Fundamentalisten. Einige entschiedene Atheisten waren oder sind radikale Aufklärer, andere waren oder sind Zweifler, wieder andere wortgewaltiger Zermalmer von Vorurteilen. Ihre Tradition reicht von Epikur über Diderot, Feuerbach, Marx, Nietzsche bis zu Sartre und Camus.

Dawkins passt allerdings, bei allem Rang als Wissenschaftler, nicht in diese illustre Reihe. Er passt auch nicht in die Reihe der scharfen, und scharfsinnigen Religionskritiker, zu denen ich z. B. Karlheinz Deschner zähle ("Kriminalgeschichte des Christentums") - denn selbst Deschners Gegner kommen an seiner enorme Rechercheleistung nicht vorbei. Tatsächlich bin ich etwas enttäuscht, dass Dawkins mit dem
"Deschner-Preis"
der Giordano-Bruno-Stiftung geehrt wurde.

Dawkins fundamentaler Fehler ist, dass er auf "Augenhöhe" seiner Hauptgegner, der religiösen Fundamentalisten, bleibt. Was bedeutet, dass er weit unter seinen intellektuellen Möglichkeiten bleibt; man könnte polemisch sagen, im geistigen Tiefflug. Hierzu fand ich, via der Kommentare zu einem ebenfalls lesenswerten Beitrag Raysons Gretchenfrage, persönlich beantwortet - bei ChristianK einen guten Verriss der Fernsehreihe "The Root of All Evil, in der Dawkins seinem aufklärerischen Anspruch nicht so recht gerecht wurde - Bier über Glauben — Richard Dawkins hoffnungsloser Versuch gegen Religion zu argumentieren.

In der Reihe "Die neuen Atheisten" auf hpd-online
erschien ein Aufsatz von Dawkins, in der er sich mit einer spirituellen, nun ja Tradition ("Religion" trift es nicht genau) beschäftigt, der auch ich angehöre. Hoffen wir, dass der Trend anhält. Und es geht dabei um das wichtigste Werkzeug, Attribut und Symbol eines wichtigen Gottes dieser "Tradition": um Thors Hammer.
Anhand dieses Hammers lässt sich zeigen, dass Dawkins den selben Fehler macht, der seinen fundamentalistischen Widersacher - von einer aufgeklärt-kritischen Position her - so angreifbar macht.
Heutzutage ist es für uns selbstverständlich, Atheisten zu sein in Bezug auf Thor und Wotan, Zeus und Poseidon, Mithras und Ammon Ra. Wenn man Sie fragt, warum Sie nicht an Thors Hammer glauben, dann würden Sie wahrscheinlich so etwas sagen wie: "Warum ist es an mir, meinen Nicht-Glauben an Thor zu rechtfertigen, wenn man bedenkt, dass es nicht den allerkleinsten guten Grund dafür gibt, an ihn zu glauben?"
An dieser Stelle gebe ich zu, dass ich in Bezug auf Thor und Wotan, Zeus und Poseidon, Mithras und Ammon Ra kein Atheist bin. Und es gibt gute Gründe für mich, mit diesen und anderen Göttern zu sprechen (es gibt kein besseres Wort dafür, "verehren" trifft es nicht genau). An Thors Hammer glaube ich übrigens nicht. Ich würde auch nicht sagen, dass ich an den elektrischen Strom glaube. Oder an die Schwerkraft. Unter anderem steht Thors Hammer Mjölnir für etwas; er ist ein kraftvolles Symbol, das abstrakte metaphysische Begriffe und wenig anschauliche Naturvorgänge buchstäblich handgreiflich macht. Unter Anderem steht er auch für "elektrische Energie". Auch wenn die alten Germanen noch keine Vorstellung von "elektrischer Energie" hatten, besaßen sie einen Mythos, der ihnen erlaubte, mit Erscheinungen wie Blitz und Donner umzugehen - und der sich, auf seine Art und Weise, in der Praxis bewährte. Heute stehen uns neben dem Mythos auch Philosophie und Wissenschaft zur Verfügung, aber ein Künstler oder Schriftsteller, der nicht mythisch zu denken versteht, hat es, vorsichtig gesagt, schwer. Nebenbei: auch das "Über-Ich", "Ich" und "Es" im Sinne Freuds sind Mythen - wenn man wissenschaftliche Maßstäbe anlegt. Diese Mythen "funktionieren" gut, beschreiben, auch wenn sie keine neurologisch fassbaren Gegenstücke im Gehirn haben, die seelischen Vorgänge auf praktisch brauchbare Art. So wie viele der alten Mythen heute noch "funktionieren". Die Übergänge zwischen Metapher, Gleichnis, Mythos und Gedankenexperiment sind fließend. Und so, wie es schiefe Metaphern und irreführende Gleichnisse gibt, so gibt es auch unbrauchbare Mythen.
Aber weiter mit Dawkins:
Sie könnten fortfahren und hinzufügen, dass Donner, der einmal Thors Hammer zugerechnet wurde, nun besser durch elektrische Ladungen in den Wolken erklärt werden kann. Während wir technisch betrachtet eine agnostische Position gegenüber diesen antiken Göttern einnehmen, sowie auch gegenüber Feen und Kobolden (diese kann man ebenfalls nicht widerlegen), glauben wir doch in der Praxis an keine von ihnen und fühlen uns nicht verpflichtet zu erklären warum.
Hier wird Dawkins fundamentale Verwechslung deutlich, übrigens dieselbe Verwechslung, der auch die Fundamentalisten unterläuft:
Er verwechseln einen der Mythen um Thors Hammer mit einer (vor-)wissenschaftlichen Theorie. Etwa im dem Sinne, wie das heliozentrische Weltbild eines Galileis oder Keplers das als unzutreffend erkannte geozentrische Weltbild eines Ptolemäus ablöste. In der germanischen Mythologie gibt es den Weltenbaum Yggdrasil, der die neun Welten miteinander verbindet. Kein alter Germane wird dabei an einen "realweltlichen", normalen nur riesengroßen Baum, gedacht haben. Ebenso wenig, wie noch heute sibirische Schamanen über den Himmel, Erde und Unterwelt verbindenden Weltenbaum reisen, dabei real-weltlich an einem gigantischen Baum herumklettern - oder sich bei ihren Reisen überhaupt nennenswert von Fleck bewegen. Genauso wenig, wie ein normaler Christ sich "Christi Himmelfahrt" als einen fahrstuhlähnlichen Vorgang im dreidimensionalen Raum vorstellt. (Von besonders vernagelten Fundis vielleicht abgesehen ... auf diesem Gebiet halte ich inzwischen so ziemlich alles für möglich.)
Wenn ein katholischer Gynäkologe an die jungfräuliche Geburt glaubt, dann in aller Regel wohl nicht in dem Sinne, dass er die jungfräuliche Geburt beim Menschen für eine gynäkologische Tatsache halten würde. Er glaubt an den Mythos "jungfräuliche Geburt". Ob so ein Mythos sinnvoll oder hilfreich ist, ist eine andere Frage. Mit den anatomischen Tatsachen kann er ebenso wenig kollidieren, wie der Weltenbaum mit der Geographie.

Anderes Beispiel: die Geschichte vom Turmbau zu Babel ist ein lehrreicher Mythos der Bibel - man erfährt aus ihm sehr viel über menschliche Vermessenheit, und auch etwas über die Gründe, an denen menschliche Vorhaben scheitern. Ein Fundamentalist, der wirklich glaubt, die alten Babylonier hätten mit ihrer Ziggurat den Himmel erreichen wollen, oder die Vielfalt der menschlichen Sprachen aus der "babylonischen Sprachverwirrung" zu erklären versucht, verwechselt die Kategorien - und tut dem Mythos Gewalt an.

Dienstag, 15. Mai 2007

Offene Türen

Im Hitler-Blog der taz findet sich ein sehr Beitrag, der meinesgleichen sozusagen direkt anspricht: ... und wer f***t die Heiden?.
Schön wäre natürlich auch, wenn die antifaschistischen Vertreter des Heidentums - wieviele bzw. wenige das auch sein mögen - sich mal auf Demos gegen Nazis sehen lassen würden. Gerne mit diesem T-Shirt.
Damit rennt er offene Türen ein. Der Vorschlag ist gut, auch wenn Daniel Erk wohl nicht wußte, dass es durchaus Heiden gibt, die zu Anti-Nazi-Demos gehen. (Z. B. ich.)
Allerdings: nicht in diesem T-Shirt! Die Schrift auf dem Rücken ist zwar schwer in Ordnung, die Vorderseite hingegen ... ist eine Frage des Niveaus.
Außerdem würde ich das T-Shirt aber schon deshalb nicht anziehen, weil mich die Christenfressertöne, die gerade rechtsextreme Heiden und Pseudo-Heiden spucken, anwidern. Wenn es für Demokratie und Menschenrechte geht, steh ich lieber an der Seite eines demokratischen Christen, der mich als "finsterer Satanist" oder schlicht als "Spinner" beargwöhnt, als an der eines freundlichen, aber leider “völkisch” denkenden, gegenüber rechtsaußen weit offenen Heiden, der mir mit dem Spruch: “Wir Heiden müssen doch zusammenstehen” kommt.

Es gibt nur vergleichsweise wenige Neuheiden - wenn auch mit Sicherheit ein Vielfaches von den "1000 - 1500 in ganz Deutschland", die Dr. Pöhlmann von der Evangelischen Zentrale für Weltanschauungfragen öffentlich in den Raum gestellt hat. Allein die Zahl der aktiven Wicca (eine Hexenreligion) düfte in die zehntausende gehen.
Die Asatruar / "Odinisten" /germanischen Heiden sind eine Minderheit innerhalb dieser winzigen Minderheit. Innerhalb dieser Minderheit sind die allemeisten "unpolitisch", sehr viel weniger sind "völkisch" bzw. "ethnisch" orientiert - was eine gewisse Affinität zu "Neurechten" (Benoist, Thule-Seminar) und neo-nazistischen Vorstellung nach sich siehen kann. Unter dieser Minderheit einer Minderheit einer Minderheit gibt es leider (Loki sei's geklagt!) auch aktive Neo-Nazis, z. B. Jürgen "Arschpirat" Rieger, Multifunktionär der rechten Szene und NPD-Vorstandsmitglied. Die Nazitrus sind leider besonders lautstark - und erfüllen in idealer Weise Medien-Klischees.
Die meisten, die mit einem "Odin-statt-Jesus"-"T-Hemd" rumlaufen, sind allerdings keine Neu-Heiden. Die Übereinstimmung zwischen ihnen und den "Nazitru" liegt in der kackbraunen Ideologie, vor allem dem festen Glauben an göttliche Germanen (nicht etwa "germanische Götter") und einer intensiven Christenfeindlichkeit, die sich daraus speist, das Christentum, lslam und vor allem das Judentum eben "artfremde" und "nicht nach Europa gehörende" "Wüstenreligionen" seien.

Ja, und dann gibt es tatsächlich noch uns, die "antifaschistischen Vertreter des Heidentums". Wir zeigen uns sehr wohl öffentlich und machen unsere Ansichten öffentlich. (Übrigens: 12 der Blogs in meiner Blogroll werden von demokratisch / "antifaschistisch" gesonennen Neuheiden betrieben! Nicht alle davon sind Mitglieder der Nornirs Ætt oder Asatru.)

Wobei, wie Sven so treffend schrieb, zum öffentlich machen auch eine Öffentlichkeit (oder entsprechende Medien) gehören, die das Thema über einen kurzfristigen Boulevardaspekt hinaus interessiert und entsprechend “zuhört”, wenn “wir” was sagen.

Manchmal gibt die aber erfreulicherweise auch, z. B.:
ARTE Tribal - Paganisten .
ARTE Tracks Reportage über die Singvøgel und die Nornirs Ætt

Sonntag, 8. April 2007

Abwehrrechte

Heute ist - wie auch Nichtchristen durchaus bekannt ist - Ostern. Das höchste Fest der Christen.
Und wie jedes Jahr zu Ostern wird von ansonsten klugen Christen frommer Blödsinn verbreitet. Zum Beispiel von Eberhard Straub, Historiker, Kunstgeschichtler und Archäologe, im D-Radio Kultur: Woran heute noch glauben?.

Ich widerspreche ungern einem Fachmann auf seinem eigenen Gebiet, aber diese Aussagen aus der unteren Hälfte des Textes, da, wo er zur Sache kommt, reizen mich zum Widerspruch:
Erst seit dem Eintritt Christi in die Welt als Geschichte weiß der Mensch, dass er als Ebenbild Gottes zur Freiheit geboren und mit einer der göttlichen verwandten Würde ausgestattet ist.
Also, meines Wissens wußten - oder besser, glaubten - das auch schon die Juden vor Christus.
Ein skeptischer Liberaler wie Alexis de Tocqueville blieb sich stets bewusst, wie eng mit dem Aufkommen des Christentums die allmähliche Ausfaltung der Freiheit verbunden war, dass gerade Demokraten auf die Religion als fester Anker angewiesen sind, um nicht haltlos zu schwanken und ihrer eigenen sittlichen Grundlagen zu schwächen.
Mag sein, dass Tocqueville dieser Ansicht war. Historische Tatsache aber bleibt, dass die religiösen Freiheitsrechte Abwehrrechte des Bürgers gegenüber der Kirche sind, so wie andere Grundrechte, z. B. der Unverleztlichkeit der Wohnung, Abwehrrechte gegenüber den staatlichen Organen sind, und das die Aufklärung eine Gegenbewegung gegen "Glaubensgewissheiten" der Kirchen war. Gerade Demokratien sind darauf angewiesen, ihre sittlichen Grundlagen nicht an unhinterfragbaren Dogmen - Glaubenssätzen - zu verankern.
Eine Gesellschaft fröhlicher Heiden, die an den Jupiter Optimus Marxismus oder an Wotan und Fricka glauben, auf indische Gurus und bretonischen Druiden hört, Dämonen huldigt, sich mit edlen Steinen, Wurzeln oder Heilpflanzen erlöst, Geister beschwört oder vor dem Dalai Lama kniet, vermag sich kaum die öffentlichen Tugenden anzueignen, auf die nun einmal auch eine ganz weltlich gewordene Welt angewiesen ist.
Ich vermute sehr stark, dass der Dalai Lama - immerhin auch außerhalb des Buddhismus eine geachtete Autorität auf dem Gebiet öffentlicher Tugenden, da etwas anderer Ansicht sein dürfte. Außerdem nennt Straub da spirituelle und religiöse Richtungen in einem Atemzug, die herzlich wenig miteinander zu tun haben. Mir ist selbst unter leicht abgehobenen Esoterikern - ich kenne da einige - niemand bekannt, der sich mit edlen Steinen, Wurzeln oder Heilpflanzen erlöst. (Außer vielleicht vom Heuschnupfen?) Im Grunde spricht Straub da auf anderer religiös-ethischer Grundlage als dem Christentum aufgebauten Kulturen die Fähigkeit ab, einen Rechtsstaat aufzubauen.
Es führt kein Weg zurück, vor die Geschichte, vor das Christentum, dessen Spiritualität, Rationalität und Wissenschaftlichkeit den Weg zu deren Säkularisierung ebnete.
Wenn man das so ausdrückt, ist es noch nicht mal falsch - ohne das Christentum und seine überragende Machtstellung in der frühen Neuzeit wäre die Säkularisierung wohl nicht in diesem Ausmaß erfolgt. Hinsichtlich der "Rationalität" und "Wissenschaftlichkeit" des Christentums kann man auch ganz anderer Ansicht sein - auf diesen beiden Gebieten war das Christentum sowohl gegenüber dem Judentum wie der heidnische Antike eindeutig ein Rückschritt.
Eine konkurrierende civil religion um die neue Dreieinigkeit von Freihandel, Demokratie und Menschenwürde nähert sich totalitären Begehrlichkeiten, vor denen man Aufklärer immer wieder schützen muss.
Leider nennt Straub diese "totalitären Begehrlichkeiten" nicht beim Namen, so dass ich raten muß: Fürchtet Straub die liberale offene Gesellschaft, wegen ihres "Wertevakuums", wie so viele Konservative? Oder meint er einen angeblichen Aufklärungsfundamentismus, dem nichts heilig ist und der Religösität bestenfalls duldet, aber nicht respektiert? Warnt er vor "neoliberalem" Kapitalismus, Globalisierung, Machbarkeitswahn? Keine Ahnung - wüßte ich aber gern!
Mit Hilfe des Christentums, aber auch mit Hilfe des Islam. Statt in alter angelsächsischer Tradition Mohammedaner als Feinde des Menschengeschlechtes zu dämonisieren, wäre es angemessener, sich auf die erprobten, vernünftigen Gemeinsamkeiten zu besinnen.
Mal eine Frage an den Historiker: glaubt er wirklich das, was er das schreibt? Welche "alte angelsächsische Tradition" die "Mohammedaner" (er meint wohl Moslems, Mohammedaner ist für einen Moslem, wie ich hörte, geradezu eine Beleidigung) dämonisiert, meint er? Selbst die anti-arabische Politik des britischen Empire kam ohne Dämonisierungen des Islam aus. Wenn es da eine "Tradition" gibt, kann sie nicht sonderlich alt sein. Dämonisiert wird "der Islam" nach meinen Beobachtungen weniger in den USA (trotz christlich-fanatischer "religious right") als in Kontinental-Europa, wo der Teufel "Islamisierung Europas" an die Wand gemalt wird. Und die "erprobten, vernünftigen Gemeinsamkeiten? Die jahrhundertelange Tradition christlicher Judenfeindschaft meint er offensichtlich nicht, und welche erprobten Gemeinsamkeiten mit dem Islam er meinen könnte, bleibt leider wieder offen. Gemeinsame Abneigung gegen Juden und Heiden etwa?
Es waren Mohammedaner, die uns Aristoteles vermittelten.
Ja, ohne islamische Gelehrte und Kopisten wüßte das christliche Abenland wenig von Aristoteles und anderen heidnisch-antiken Denkern. Weil die christlichen Kopisten des frühen Mittelalters heidnische Denker so ungern kopierten. Da waren die mittelalterlichen Moslems doch deutlich bildungsfreundlicher und toleranter.
Es ist leichter, mit einem gläubigen Mohammedaner einen Rechtsstaat zu erhalten als mit Neu-Germanen, die an den Externsteinen zu Ostern Freyas Fruchtbarkeit huldigen.
Als Neu-Germane, der tatsächlich zu Ostara (Tagundnachtgleiche, Ostern ist später) Freya huldigte, erlaube ich mir, da anderer Ansicht zu sein. Es gibt demokratisch und rechtstaatlich gesonnene gläubige Moslems - und solche, die die Scharia über Demokratie und Rechtsstaat stellen. So wie es demokratisch und rechtsstaatlich gesonnene Neuheiden gibt - und Neonazis, die es wagen, sich "Asatru" zu nennen.

Als Gegengewicht einen deutlich vernünftigeren Aufsatz: „Europas christliche Wurzeln" - Von der kontinuierlichen Wirksamkeit eines Mythos.

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