In Verteidigung eines "Vertreters der Antimoderne"

Der Besuch der Dalai Lamas in Deutschland ist vorbei. Da ist es kein Wunder, wenn sich auch die Gegner des Dalai Lamas und des tibetischen Buddhismus zu Wort melden. Obwohl ich kein Anhänger der Buddhismus bin, halte ich einige dieser kritischen Stimmen schlicht für unfair.
Zum Beispiel eine Presseerklärung der "Aktion 3. Welt Saar":
"Friedfertigkeit ist nur Fassade – In der Praxis für Gewalt und gegen die Errungenschaften der Aufklärung":
Anmerkung: die Erklärung ist nicht mehr online.

Ein harter Vorwurf, denn der Dalai Lama gilt als äußerst toleranter Religionsführer und ist immerhin Friedensnobelpreisträger. Wie stichhaltig ist er?
Hinter der von ihm hoch gehaltenen Botschaft von Frieden und Toleranz verbirgt sich bei näherer Betrachtung eine durch und durch unfriedliche und undemokratische Praxis. Einerseits ist das so genannte geistige und politische Oberhaupt der Tibeter nie demokratisch gewählt worden. Als kleiner Junge wurde er auf Grund eines okkultistischen Rituals zum Staatsoberhaupt erkoren.
Dass der Dalai Lama ebenso wenig demokratisch gewählt wurde wie z. B. die dänische Königin als geistiges und staatliches Oberhaupt der Dänen, stimmt selbstverständlich. Daraus folgt natürlich nicht, dass Dänemark ein undemokratischer Staat sei. Im Gegensatz zur feudalen Praxis im "alten Tibet" strebt die tibetische Exilregierung ein parlamentarisches System an, in dem der Dalai Lama schon jetzt eine einem König in einer parlamentarischen Monarchie vergleichbare, repräsentative Position einnimmt.
Zum anderen billigte der „gewaltfreie“ Dalai Lama den von 1958 bis 1973 gegen die Chinesen geführten bewaffneten tibetischen Untergrundkampf und begrüßte die indische Atombewaffnung.
Dass der Dalai Lama den bewaffneten Widerstand gegen eine Besatzungsmacht, die vor allem in der Mao-Zeit mit äußerst brutalen Mitteln vorging, nicht ausdrücklich missbilligte, ist ihm schwerlich als "unfriedliche" Gesinnung anzukreiden. Dafür, dass er die indische Atombewaffnung befürwortete, ist mir kein Beleg bekannt. Es wäre aber meines Erachtens schon erstaunlich, dass ein Mann, der u. A. in seiner Autobiographie gegen alle Atomwaffen eintritt, ausgerechnet die Sprengköpfe des mehrheitlich hinduistischen Indien davon ausgenommen hätte.
Das "alte Tibet" vor 1950 war alles andere als idyllisch. Unter der feudalen Herrschaft der Lamas, der buddhistischen Priester, lebte die brutal ausgebeutete Bevölkerung in bitterster Armut und wurde durch grausamste Strafen für kleinste Vergehen bei der Stange gehalten.
Das wird heute allenfalls von unbelehrbaren Tibet-Schwärmern bestritten. Selbst der Dalai Lama macht in seiner Autobiographie "Das Buch des Friedens" keinen Hehl daraus, dass das feudale "alte Tibet" ein in jeder Hinsicht ein rückständiges, unterdrückerisches und ungerechtes System war. Nach seinen eigenen Angaben erhoffte er sich von der chinesischen Besatzungsmacht anfangs sogar einen dringend erforderlichen Modernisierungsschub - bzw. einen Stärkung seiner reformerischen Position gegenüber der "traditionellen" Fraktion innerhalb der herrschenden Mönchsoligarchie. Auf keinen Fall strebt das tibetische Exilparlament eine Wiedereinführung des Feudalsystems an.
Der tibetische Buddhismus ist extrem frauenfeindlich. Beispielsweise schlossen die "sexualmagischen, spirituellen" Praktiken des tibetischen Tantra die Vergewaltigung junger Frauen und sexuellen Kindesmissbrauch ein.
In der Tat: eine gern verschwiegene Seite des tibetischen Buddhismus. Aber: ob das u. A. vom Ehepaar Trimondi in ihren umstrittenen Buch "Der Schatten des Dalai Lama" erwähnte Kalachakra-Tantra-Ritual, aus dem die beschriebenen Praktiken stammen, noch für die jüngerer Vergangenheit relevant ist, geschweige denn für den zeitgenössischen tibetischen Buddhismus, darf m. E. sehr wohl bezweifelt werden. Dies dem jetzigen 14. Dalai Lama anzulasten, wäre ähnlich unfair wie z. B. Papst Benedikt XVI. die Ketzer- und Hexenverbrennungen oder die Kreuzzüge anzukreiden.
Die freundschaftlichen Beziehungen der buddhistischen Herrscher Tibets zu den Nationalsozialisten finden ihre Fortsetzung in den guten Beziehungen des Dalai Lama zu Vertretern rassistischer und antisemitischer Esoteriksekten.
Die "freundschaftlichen Beziehungen" zwischen Nazis und den Herrschern des "alten" Tibets waren ausgesprochen einseitig. Himmler hätte gerne gewusst, ob es Spuren für die Herkunft der arischen Herrenrasse in Tibet gab. Die meisten Nazis dachten pragmatischer, ihnen ging es darum, in Innerasien Fuß zu fassen, allenfalls noch darum, für die Kriegswirtschaft und künftige "Siedlungsgebiete im Osten" nach geeigneten Getreidekörnern, Samen und Pferden zu suchen. Nach dem jetzigen Wissenstand gibt es keine Belege für Kontakte vor und während des Zweiten Weltkrieges zwischen offiziellen Stellen des Dritten Reiches und Personen oder Institutionen in Tibet. Auch Ernst Schäfer, Leiter der SS-Tibet-Expedition 1938/39, wurde von den Tibetern mit größtem Misstrauen betrachtet und erreichte die angestrebten strategischen Ziele nicht. Schäfer gelang es jedoch, einen unverbindlichen Brief des tibetischen Regenten an Hitler zu ergattern, in dem "auf Wunsch Schäfers die Zustimmung zu gegenseitiger Freundschaft" gegeben wurde.
So war Shoko Asahara, Gründer der japanischen AUM-Sekte und Hauptverantwortlicher für den tödlichen Giftgasanschlag auf die U-Bahn von Tokio im März 1995, ein Schützling des Dalai Lama.
Shoko Asahara berief sich - höchst selektiv - auf den japanischen Zen-Buddhismus und den Hinduismus, aber auch auf pseudowissenschaftliche Lehren und christliche Endzeitmystiker. (Übrigens beruht die Bezeichung "AUM-Sekte auf einer Fehltranskription - sie heißt Omu Shinrikyo, mit langem "O", nach der dem bekannten hinduistischen Mantra "Om".) Dass Asahra den Dalai Lama als seinen "spirituellen Lehrer" bezeichnete, besagt wenig, diese zweifelhafte Ehre wurde u. A. auch dem Science Fiction-Autor Isaac Asimov zuteil. Wie andere buddhistische Gruppen erhielt auch Omu Shinrikyo eine Grußadresse des Dalai Lamas, zu einer Zeit, in der Shoko Asahara noch nicht als Terrorist in Erscheinung getreten war. Man kann dem Dalai Lama aber durchaus vorwerfen, bei der Verteilung seiner Freundschaftsbekundungen manchmal zu unkritisch zu sein.

Bei genauem Hinsehen entpuppt sich der aufklärerische Artikel der "Aktion 3. Welt Saar" als unkritische Zusammenfassung der Hauptvorwürfe gegen den Dalai Lama und den tibetischen Buddhismus aus Colin Goldners ebenso polemischen wie wegen zahlreicher sachlicher Fehler umstrittenen Biographie "Dalai Lama. Fall eines Gottkönigs".

Meines Erachtens gehört der tibetische Buddhismus in seiner gegenwärtigen Form, trotzt seiner geradezu katholisch anmutenden Höllenstrafen, seiner ziemlich "unbuddhistisch" anmutenden gewaltlastigen Mythologie, und seiner traditionellen (aber vom Dalai Lama nicht befürworteten) Frauenfeindschaft, zu den tolerantesten und am wenigsten anti-aufklärerischen Religionsgemeinschaften, die es zur Zeit gibt.

Kritisches Dossier von "Tourisms-Watch": Der Tibet-Mythos

Mein Artikel zu einer interessanten These der Trimondis, betrifft auch die angebliche "dunklen Seite des tibetischen Buddhismus":
"Die Apokalyptische Matrix".

Nachtrag: Eine wichtige Quelle der Gegner des Dalai Lama dürfte ein eher polemischer als kritischer Artikel des britischen Journalisten Christopher Hitchens aus dem Jahr 1989 gewesen sein, der bei salon.com archiviert ist: His material highness". Schwerpunkte des Artikels sind die angebliche (verbale) Unterstützung der indischen Atomversuche durch den Dalai Lama, und die Tatsache, dass er eine Spende von Shoko Asahara akzeptierte und diesem Audienz gewährte (was ich bisher nicht wusste). Der Artikel bezieht seine "Brisanz" ausschließlich aus dem Kontrast des ins Überirdische gesteigerte Heiligen-Image Tenzin Gyatsos und seiner durchaus irdischen Fehlbarkeit nebst einem Hang zu pragmatischen und realpolitischen Aussagen, die wahrscheinlich bei einem Politiker oder selbst einem "normalen" hohen Geistlichen keine Story wert gewesen wären. Das Ganze wird durch einige polemische Seitenhiebe gegen die Buddhismus-Manie Hollywoods gewürzt. Brian Given, ein Soziologe und Tibet-Kenner, schrieb eine detaillierte Antwort auf diese Kritik, die in den "World Tibet Network News" archiviert ist: Defending the Dalai Lama.
Karsten (Gast) - 30. Jul, 09:32

Hm. Dem Papst werden doch die Kreuzzüge und Hexenverbrennungen vorgeworfen. Also: Gerechtigkeit für alle... dann darf man auch dem Dalai Lama Verbrechen der Vergangenheit vorhalten. ;)

MMarheinecke - 30. Jul, 19:35

Ja - von Antikatholiken verschiedener Bauart (protestantisch, atheistisch, islamisch, neuheidnisch). Die Menschen, die dem heutige Papst die Hexenverbrennungen und die Kreuzzüge vorwerfen (im Sinne einer Schuld), werfen in aller Regel auch dem Dalai Lama üble Dinge aus der Vergangenheit vor (der erwähnte Colin Goldner ist ein gutes Beispiel für einen atheistischen Pfaffenfresser, der auch Lamafresser ist).
flatter (Gast) - 31. Jul, 00:18

Die "Auseinandersetzung" mit Tenzin Gyatso, dem 14. Dalai Lama bleibt fast ausschließlich dem Personenkult verhaftet, gleich ob pro oder contra. Die unkritische Verehrung des "SPIEGEL" ist da nicht besser als das Gewäsch der Besserwisser mit ihren Verschwörungstheorien. Selbstverständlich darf gefragt werden, ob "seine Heiligkeit" der Verehrung würdig ist. Dann aber würde es Sinn machen, sich mit seiner Vita und seinen Worten zu befassen. Hier fällt es auf, daß sogenannten "Kritikern" völlig egal ist, was der Mann sagt und worum er sich bemüht. Ihm vorzuwerfen, er sei "in der Praxis für Gewalt und gegen die Errungenschaften der Aufklärung", ist an Lächerlichkeit nicht zu überbieten.
Schöner Artikel! [Und schon wieder Lob von Gegner ;-)]

Nemesis (Gast) - 1. Aug, 19:51

Warum muß denn der Lama mit der "Aufklärung" im Einklang stehen, damit er nicht kritisiert wird? Es gibt schließlich sowas wie Glaubensfreiheit, darunter ist die nebulöse "Aufklärung" auch ein Glaube. Zumindest wenn man sich die Aufklärungsfundamentalisten anschaut.

MMarheinecke - 1. Aug, 20:44

Aufklärungsfundamentalisten?

Nein, Nemesis, da hast Du was missverstanden: der Dalai Lama wird kritisiert (nicht von mir!), weil seine Aussagen (angeblich) nicht mit der Aufklärung in Einklang stehen. Das müssen sie auch nicht. Ich verteidige (siehe Überschrift) ausdrücklich das Recht, "antimoderne" und nicht-aufklärerische Gedanken zu äußern.

Ich sehe mich als Anhänger der Aufklärung. Das schließt nicht aus, dass ich auch mystisches Gedankengut schätze, das an sich nicht "aufklärerisch" ist.
Ferne bestreite ich, dass Aufklärung "auch ein Glaube" ist. Die Aufklärung geht von einer einzigen metaphysische Größe aus, nämlich der Vernunft (oder versucht es zumindest). Und selbst die Vernunft wird seit Kant hinterfragt. Von einem "Vernunftglauben", der die "menschliche Vernunft" anstelle einer "göttlichen Offenbarung" setzt, kann keine Rede sein.
Aufklärung sehe ich, mit Kant, als die Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"

Und zum angeblichen "Aufklärungsfundamentalismus" habe ich hier schon mal was gesenft.

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