Freitag, 22. Oktober 2010

Ein paar Worte zu Rudolf Steiner

Von der Anthroposophie geht eine seltsame, beinahe magische Wirkung aus: sie ist ungemein polarisierend. Manchmal habe ich den Eindruck, dass es nur drei Gruppen gibt: begeisterte Anhänger, angewiderte Gegner - und die, die noch nie etwas von Anthroposophie gehört haben. Wer nicht zu einer dieser drei Arten Mensch gehört, sitzt zwischen allen Stühlen. Wie ich. (Was mir, siehe das Motto dieses Blogs "Freiraum ist der Raum zwischen den Stühlen", nichts ausmacht.)

Da es aber offensichtlich Anthroposophen gibt, die mich für einen Anthroposophen-Fresser halte, halte ich es für angemessen, einmal in groben Zügen darzulegen, was ich vom Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, halte.
Auch wenn ich gerne Waldorf-Salat esse, macht mich das schwerlich zum Anthroposophen-Fresser.
"Friida" hielt es für Quatsch, dass ich Steiner als durchaus völkisch bezeichnete.
"Waldi", meiner Ansicht ein klassischer Troll, behauptete, ich würde die Anthroposophie "Ariosophie light" nennen.
Netter Versuch, aber offensichtlich hapert es da mit dem Textgedächtnis. Der entsprechende Abschnitt in Des “listigen Guidos” Erben (4) – Ariosophen heute: Unterwandern und Verbünden geht so (der falsch erinnerte Satz ist gefettet):
Das andere potentielle Einfallstor ariosophischen Denkens in die „Öko-Ecke“ könnten die Anthroposophen sein, die wesentliche Kernsätze der theosophischen Weltsicht – wie die „Wurzelrassenlehre“, der Glaube an eine globalen Urreligion und das hierarchische Weltbild – in abgeschwächter Form enthalten. (Einige Kritiker sprechen auch von „Theosophie light“.) Allerdings sollten die Anthroposophen, die als Vorkämpfer der ganzheitlichen Medizin und Erziehung und vor allem des ökologischen Landbaus („biologisch-dynamische Landwirtschaft“) mit Recht einen guten Ruf beim ökologisch und „alternativ“ gesonnenen Teil der Bevölkerung genießen, nicht als potentielle „Fünfte Kolonne“ der Ariosophie verdächtigt werden. Es wäre aber zu begrüßen, wenn die Anthroposophen mit ihrem problematischen geistigen Erbe deutlich kritischer umgehen würden. Das gilt natürlich auch für die heute noch aktiven theosophischen Vereinigungen.
Das ist, denke ich, zwar eine herbe Kritik, aber bei weitem nicht feindselig - denn meine Kritik richtet sich in ersten Linie an "versteinerte" Anthroposophen, die Steiner offensichtlich so lesen, wie Fundi-Christen ihre Bibel lesen.

Rudolf Steiner hat meiner Ansicht nach viele Verdienste. Er war ein ungewöhnlich vielseitiger Denker. Er betätigte sich als Reformpädagoge (Waldorf-Pädagogik), Sozialreformer (Soziale Dreigliederung), als Künstler (Architektur, Bewegungskunst, Sprachgestaltung),und begründete die Anthroposophische Medizin und die biologisch-dynamische Landwirtschaft. Was immer man von den den steinerschen Lehren halten mag, unbestreitbar waren und sind sie einflussreich.

Noch in seiner "theosophischen Zeit" übte Steiner scharfe Kritik an der Ariosophie, vor allem an deren Rassenlehre. Das wiegt umso schwerer, da Steiner die Hauptvertreter der Ariosophie, "von" List und Lanz "von Liebenfeld", persönlich kannte und sich intensiv mit deren Gedankengebäuden auseinander gesetzt hatte.
Steiner übernahm zwar die Wurzelrassenlehre Blavatskys, modifizierte sie später jedoch - in seinen späten Veröffentlichungen tauchten die Wurzelrassen nicht mehr auf. Steiner führte an ihrer Stelle die weniger problematischen Begriffe "Epoche", "Hauptzeitraum" bzw. "Zeitalter" ein. Zwar blieb das anthroposophische Menschenbild hierarchisch, aber gegenüber der meiner Ansicht nach eindeutig den Rassismus des Kolonialzeitalters widerspiegelnden Konzept Blavatskys (die das "Verschwinden" von "primitiven Völkern" für natürlich und gut hielt) ist das ein nicht zu vernachlässigender Fortschritt.
Steiner war entschiedener Anti-Antisemit. Anfang des 20. Jahrhunderts war Steiner Mitglied im "Verein zur Bekämpfung des Antisemitismus" und bezeichnete den Antisemitismus als eine "Kulturkrankheit", die aus einer Gesinnung hervorginge, gegen die nicht deutlich genug Stellung bezogen werden könne. Anderseits bezeichnete Steiner das Judentum als "überholt", war Antizionist, und forderte die Assimilation der Juden ein.

Es gibt, bei allen sympathischen Seiten, allerdings etwas, das mich sehr an Steiner stört:
Rudolf Steiner hielt sich sich offensichtlich für den größten Visionär aller Zeiten. Damit einher ging ein völliger Mangel an Selbstkritik.

Steiner änderte mehrmals die Richtung seines Denkens. Die deutlichste Zäsur war sein Übertritt zur Theosophie im Jahr 1900. Vorher war er Individualist, Positivist und scharfer Kritiker des Christentums - danach (im heutigen Sprachgebrauch) Esoteriker. Nicht ganz so ausgeprägt ist der Bruch, den sein Austritt aus der Theosophischen Gesellschaft und die Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft 1912 bedeutete. Steiner selbst sah sein theosophisch und anthroposophisch geprägte Spätwerk als konsequente Weiterentwicklung seiner frühen philosophischen Ansätze und bagatellisierte die offenkundigen Widersprüche als "scheinbar" oder "vordergründig". Das mag auf einige seiner Gedankengänge zutreffen. Es ist aber meines Erachtens nicht plausibel, dass die von Steiner gegründete "Christengemeinschaft", eine zwar deutlich mit den Traditionen der großen christlichen Kirchen brechende, nichtsdestotrotz aber eindeutig christliche Religionsgemeinschaft, eine konsequente Weiterentwicklung seiner an Nietzsche geschulten Ablehnung des Christentum sein soll.

Ich habe den Eindruck, dass Steiner jede Inspiration, die er hatte, für genial hielt. Schließlich hatte er, wie er behauptet, Einblick in die Akasha-Chronik.
Selbst wenn ich annehme, dass das wahr wäre - was ich nicht tue, ich halte Steiner zwar für inspiriert, die Idee einer allumfassenden und dennoch vom menschlichen Verstand erfassbaren "Weltenchronik" aber für naiv - heißt das noch lange nicht, dass er auch alles richtig verstand, was er in der Akasha-Chronik las.
Weil er Einblick in die Akasha-Chronik hatte, konnte Steiner nach eigener Angabe zu jedem Thema die Wahrheit verkünden. Das geht über das Dogma der "Unfehlbarkeit" der Papstes hinaus, der nach römisch-katholischer Auffassung allein in Fragen der Glaubens- (oder Moral-)Lehre unfehlbar sei, und auch das nur dann, wenn der Papst mit höchster Lehrgewalt (ex cathedra) spricht.
Diesen Anspruchs Steiners, alles für wahr zu halten, was er im Zustand der Inspiration erfahren hatte, halte ich für vermessen und wahrscheinlich wahnhaft. Um es deutlich zu sagen: das ist ein totalitärer Anspruch. Allerdings war Steiner der Ansicht, dass seine Wahrheiten nicht in einem Widerspruch zur empirischen Wissenschaft stünden. Sie seien vielmehr intersubjektiv überprüfbar. Damit öffnete Steiner seine Lehre dann doch wieder der Kritik und verzichtete auf die bei anderen Esoterikern so beliebte Immunsierungsstrategie nach dem Motto: "Wenn sich meine Lehre und die Wirklichkeit widersprechen, ist das um so schlimmer für die Wirklichkeit." Viele seiner Aussagen sind falsifizierbar und manche sind falsifiziert.
Auch deshalb habe ich wenig Verständnis für "versteinerte" Anthroposophen, die offensichtlich jedes Wort Steiners für eine Offenbarung halten.

Ich räume ein, dass ich nicht allzu viel von Steiner gelesen habe. Rudolf Steiners Werk umfasst 42 Bände mit Schriften und etwa 6.000 Vorträge. Es ist allerdings bei vielen Vorträgen umstritten, wie authentisch die Niederschriften sind.
Wenn ich behaupten würde, ich hätte auch nur einen ungefähren Überblick über sein Gesamtwerk, wäre das eine offensichtliche Lüge. (Einen Eindruck, wie produktiv Steiner war, gibt die Freie Verwaltung des Nachlasses von Rudolf Steiner.)
Allerdings fällt mir bei allen Schriften Steiners, die ich las, auf, wie oft er Unvereinbares und Widersprechendes einfach nebeneinander stehen lies. Z. B. stehen in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft sehr vernünftige und empirisch nachprüfbare Vorschriften neben Ratschlägen, die ich nur als befremdlich bezeichnen kann (und das obwohl ich das Konzept "Magie" keineswegs in Bausch und Bogen ablehne). Legt man, wie Steiner es selbst nahelegte, naturwissenschaftliche Maßstäbe an die biologisch-dynamische Landwirtschaft an, dann steckt sie voller Pseudowissenschaft.
Bei Steiner findet man rassistische und antirassitische Textstellen, Steiner erscheint manchmal als politisch "Linker", manchmal als "Rechter", manchmal als rationaler Verstandesmensch, manchmal als tiefer Mystiker - und manchmal als abgedrehter Spinner.
Noch komplizierter wird es, weil seine Anhänger (oder "gläubige Jünger"?) offensichtlich alles und jedes für aufbewahrenswert hielten, was Steiner äußerte. Auch dann, wenn Steiner anscheinend einen schlechten Tag hatte, offensichtlich Dinge durcheinander bekam, sich falsch erinnerte usw. usw. : Kein Wort sollte verloren gehen (und geredet hat Steiner viel).

Steiner hat viel Kluges, aber - was nur menschlich ist - auch viel Dummes von sich gegeben. Er ist als künstlerischer "Anreger" wichtig, aber es wäre übertrieben, ihm (wie einige Anthroposophen das tun) einen überragenden Einfluss auf die die Kunst der Moderne zuzuschreiben.
Auch die Bedeutung seiner naturwissenschaftlichen, landwirtschaftlichen, pädagogischen oder medizinischen Erkenntnisse werden meiner Ansicht nach gern überschätzt. Er war ein kreativer Denker, aber ein kreativer Denker, beim dem es mit der Selbstkritik nicht weit her war, muss, denke ich, unbedingt kritisch gesehen werden.
Ein Beispiel: Rudolf Steiner soll sechs Jahre vor Schrödinger selbst die Schrödingergleichung gefunden haben, womit er quasi der "Erfinder der Quantenmechnik" wäre. Offensichtlich schrieb Steiner eine Gleichung intuitiv an die Tafel, die der Schrödinger-Gleichung entsprach. Allerdings ist auch die (1920 längst bekannte) Wärmeleitgleichung formal äquivalent zur Schrödingergleichung. Solange die enthaltenen Größen nicht genau beschrieben sind - und das sind sie anscheinend nicht - könnte die Steinersche Formel alles mögliche beschreiben. Steiner mag einen genialen Einfall gehabt haben (oder eine geniale Inspiration), aber er hat meines Erachtens Schrödinger ebenso wenig vorweggenommen, wie Jules Verne das Apollo-Projekt, trotz vieler verblüffender Parallelen.

Sonntag, 17. Oktober 2010

Doping ist systemimmanent

Ralf Meutgens, Fachjournalist für Radsport, sagte 2007 gegenüber Spiegel online
Doping ist systemimmanent, eine Reinigung würde den Austausch nahezu aller im professionellen Radsport agierenden Personen voraussetzen.
Wie hoch ist die Dopingquote im professionellen Radsport - mal so eine "Hausnummer"? Ich vermute, dass die Dopingquote bei 100% liegt - wer nicht "stofft", der braucht erst gar nicht anzutreten. Unterschiede gibt es bei den Methoden und - allenfalls - beim Umfang des Dopings.

Ich hatte auch einmal die Illusion, es handele sich bei dopenden Radsportlern um "schwarze Schafe". Es war ein Kommentar von Köppnick eigentlich zum Thema Super Size me, der mir diese Illusion nahm:
Bei extremen sportlichen Beansprungen wie der Tour de France kann man ohne Anabolika nicht vorn mitfahren. (Das ist keine Behauptung von mir, sondern eine Schlussfolgerung, die vor etwa 10 Jahren, also vor dem Beginn der heutigen Skandale, auf einem Sportmedizinerkongress diskutiert wurde. Möchte man eine saubere Tour de France, muss man die Streckenlängen verringern oder nur jeden zweiten Tag fahren o.ä..
Der Radsport ist dabei nur ein besonders herausragendes Beispiel: inzwischen gehe ich davon aus, dass, bei welcher Sportart auch immer, auf Leistungsebene fast immer "nachgeholfen" wird.

Ein anderes, offensichtliches, Beispiel für eine Sportart, in der selbst im Amateurbereich von flächendeckendem Doping auszugehen ist, ist selbstverständlich Bodybuilding.
Tatsächlich wurde beim Bodybuilding sowohl im Profi- als auch dem Amateurbereich eine hohe Zahl von dopingbedingten Todesfällen wissenschaftlich dokumentiert (Luitpold Kistler: Todesfälle bei Anabolikamissbrauch - Todesursache, Befunde und rechtsmedizinische Aspekte. Dissertation, 2006).
Im Bodybuilding muss man buchstäblich die Augen verschließen, um zu übersehen, in welchen Umfang "gestofft" wird. Man vergleiche nur Fotos von Spitzen-Bodybuildern aus den 1950er Jahren mit solchen jüngeren Datums. Einen anderen Vergleichsmaßstab geben "Natural Bodybuilder", die bewusst auf Doping verzichten (auch wenn ich mir leider ziemlich sicher bin, dass, wenn es nicht gerade um "Roids" (anabole Steroide) geht, selbst dieser Bereich nicht völlig "sauber" sein dürfte).
Beim Bodybuilding ist auch das genetische Limit offensichtlicher als bei anderen Sportarten. Die um die 130 kg der "Mr. Olympia" Teilnehmer - bei einem Körperfettanteil von unter 6 % - liegen z. B. weit außerhalb des genetisch Möglichen. Schon ein 1,70 m großer Athlet mit rund 90 kg in Wettkampfform, also mit einem Körperfettanteil von ca. 4-6%, liegt außerhalb dessen, was ein ausgewachsener Mann selbst bei herausragender Genetik und besten Umfeldbedingungen auf natürliche Weise aus seinem Körper herausholen kann! Ein FFMI (Fettfreier-Masse-Index) über 25 ist nur für genetisch Bevorzugte ohne Doping zu erreichen, ab einem FFMI von 27 kann man sich völlig sicher sein: der Mann "stofft". (Siehe: Natural Bodybuilding - Genetisches Limit). Dieses genetische Limit gilt natürlich auch für andere Sportarten - viele Sportler in Sportarten, in denen viel Muskelkraft bei bei gleichzeitig möglichst geringen Fettanteil nötig ist, dürften sich mit ihrem FFMI deutlich jenseits des genetisch Plausiblem bewegen.

Allerdings ist Bodybuilding in der öffentlichen Wahrnehmung die große Ausnahme, denn grundsätzlich gelten die meisten Sportarten als "sauber" und die überführten Dopingsünder als vereinzelte "schwarze Schafe". Bodybuilding ist der einzige Sport, in dem die veröffentlichten Meinung durchgehend davon ausgeht, das Doping der Regelfall sei.

Bei z. B. Leichtathleten ist Doping nicht so offensichtlich. Es sei denn, es kommt zu so seltsamen Vorgängen wie bei den Olympischen Spielen 2008: Den "WundersprinterInnen aus Jamaica" gelang gleich zwei Mal ein "Asterix-Einlauf". Im Comic Asterix bei den Olympische Spielen spielen Asterix und Miraculix der römischen Mannschaft heimlich Zaubertrank zu. Die mit Zaubertrank gedopten Römer laufen alle gleichzeitig über die Ziellinie. SpOn am 15.08.2008:
Der 200-Meter-Olympiasiebte von Athen kam im zehnten Vorlauf als Vierter in 10,46 Sekunden erst nach Auswertung der Tausendstelsekunden in den Zwischenlauf am gleichen Tag. Dabei waren drei Sprinter auf die Hundertstelsekunde gleich schnell gewesen.
(Hockeys Blog: Asterix in China.)
Gleichzeitige Zieleinläufe können eigentlich nur unterhalb der individuellen Leistungsgrenzen, z. B. im Training vorkommen, bei Wettkämpfen wäre die "der Jackpot im Lotto". Der Grund: das individuelle Leistungsvermögen hängt von so vielen Faktoren ab, dass es praktisch ausgeschlossen ist, dass zwei Läufer, die das Maximum aus ihre Tagesform herausholen, genau gleich schnell sind. Geschweige denn drei. Wenn man aber unter dem Maximum läuft, dann können gleiche Leistungen vorkommen. Und wenn Läufer gar absichtlich langsamer laufen, als sie könnten, dann werden sich die Läufer unwillkürlich in ihrer Geschwindigkeit angleichen. Aber auch in Vorläufen läuft normalerweise keiner "im Schongang", auch wenn die Athleten erst im Endlauf das Letzte aus sich herausholen. Absichtlich langsamer als möglich laufen ist nur möglich, wenn die "Reserven" groß sind.
Ich habe mir den 100-m Lauf von Usain Bolt nochmal in Zeitlupe angesehen. Nach weniger als 6 Sekunden ging er in Führung.
Bei 7,9 Sekunden schaute er bereits um sich und bei 8,0 Sekunden riss er die Arme hoch - noch gut 20 Meter vom Ziel entfernt!
Noch eine Beobachtung: Im Endlauf geben Sprinter normalerweise alles, und sie sind nach dem Endlauf normalerweise fix und fertig, total erschöpft. Bolt wirkte, im Vergleich zu den anderen Läufer, auffällig frisch. Ich vermute, dass er auch auf eine Zeit unter 9,5 Sekunden hätte kommen können - aber solche Leistungsexplosionen machen misstrauisch.
Aber das hat bestimmt mit seiner ganz besonderen Genetik zu tun ... (Es gab da einige Kommentare, die geradezu rassistisch waren - etwa, dass er von Sklaven abstammt, die geradezu auf körperliche Höchstleistung gezüchtet worden wären.) Wenn schon Genetik, dann vermute ich da eher Gen-Doping.

Ein oft übersehenes Problem ist die Grauzone zwischen Versorgung einer Verletzung, dem "Fitspritzen" von verletzten Sportlern und leistungssteigernden Medikamenten: Verletzungen im Fußball: Sportärzte und Hütchenspieler

Doping ist systemimmanent, nicht nur für das System "Leistungssport", sondern für unsere Gesellschaft als Ganzes.
Im Sport wird lediglich das besonders deutlich, was im normalen Berufsleben eher im Verborgenen geschieht: Die Instrumentalisierung und Zurichtung des Menschen für seine Funktion. Und natürlich die geradezu verzweifelte Selbstoptimierung - ob jemand Privatleben, Lebensstil, Freundeskreis usw. einer "normalen" beruflichen Karriere oder der als Leistungssportler unterordnet, ist allenfalls im Ausmaß unterschiedlich, nicht in der dahinter stehenden Mentalität.

Man kann Doping als eine besondere Spielart der Korruption sehen. Korruption ist im "reifen" Kapitalismus markradikaler Bauart (fälschlich "Neoliberalismus" genannt) systemimmanent - es geht nichts mehr auf offene und ehrliche Weise. (Eine genaue Parallele übrigens zum "real existierenden Sozialismus" im Ostblock vor 1989. Der war korrupt bis in die Haarspitzen.) Im "System Doping" ist der Sportler, der "Leistungsträger" nur das letzte, wichtigste, aber durchaus austauschbare Glied einer langen Kette. Funktionäre, Politiker, Lobbyisten, Sponsoren, PR-Manager, Journalisten, Betreuer und Ärzte: Alle wollen am Erfolg teilhaben. Auch die Fans sind Teil des korrupten Systems - wenn niemand sich für Höchstleistungen, die nur mit Doping zu erreichen sind, begeistern könnte, bräche das System zusammen.

Die Versuchung und der Druck, "nachzuhelfen", wird immer größer, im Sport, im Beruf, in der Ausbildung. Die moderne Medizin stellt immer mehr Medikamente und Medizin-Techniken zu Verfügung, die nicht mehr ausschließlich therapeutisch, sondern optimierend auf den Körper und die Psyche einwirken. Das "Enhancement", etwa das "Neuro-Enhancement", ist nichts anderes als Doping. Es ist meiner Ansicht nach grob verharmlosend, wenn etwa der Einsatz von Amphetaminen ("Speed") mit einem starken Kaffee oder einem Glas Club-Mate gleichgesetzt wird, weil auch das ja schon "Selbstoptimierung" sei. Es gibt eine Grenze, und die heißt: "Der Zweck heiligt die Mittel". Wenn es auf die Risiken und Nebenwirkungen der (Arznei-)Mittel nicht mehr ankommt, um den Zweck zu erreichen, ist sie überschritten. (Das kann sogar beim Kaffee passieren, ist aber schwierig. Mit Koffeintabletten ist diese Grenze leichter zu überschreiten. Mit Speed ist es gefährlich einfach, die Grenze zum Raubbau am eigenen Körper zu ignorieren.)
Eine Gefahr bei Doping, auch und gerade dem "Braindoping", ist die über noch über Selbstinstrumentalisierung hinausgehende Selbstverdinglichung. Wer die pharmazeutische oder technische "Verbesserung" seines Körpers und seines Verstandes für gerechtfertigt hält, sieht sich selbst so, als ob er eine Maschine sei.

Es wäre schön, wenn Sport nur noch aus Spaß an der Freude betrieben würde. Ohne Hintergedanken. Klar, Bewegung ist gesund (wenn man's nicht übertreibt), aber schon Sport mit dem alleinigen Zweck der Fitness ist, denke ich, eine traurige Angelegenheit. Vor einigen Jahren behauptete einer dieser "Schluss mit Lustig"-Propagandisten, dass es verfehlt sei, körperliche Betätigung als Spaß zu sehen: niemand würde schließlich erwarten, dass Zähneputzen Spaß bringen sollte. Das täte man allein der Gesundheit zuliebe, und das wäre auch die richtige Einstellung zum Freizeitsport. Anders gesagt: Sport als Training, um Gesundheitsschäden vorzubeugen, und um beruflich leistungsfähiger zu werden. Spaß ist dabei nicht wichtig, im Gegenteil: wer sich jeden Morgen mit viel Willenskraft und zusammengebissenen Zähnen zum Joggen zwingt, würde es richtig machen.

Mittwoch, 13. Oktober 2010

Wieder mal: Abschiebung brutal. Dieses Mal in Österreich.

Eine hässliche "großdeutsche" Tradition ist Deutschland und Österreich gemeinsam: der brutale Umgang mit abgelehnten Asylbewerbern.
keine Abschiebungen!

Heute, am 13. Oktober 2010, gab es wieder einmal ein "Abschiebungsdrama" - in Wien (es hätte aber auch in Hamburg, München, Berlin, Leipzig sein können):
Volkshilfe Wien-Hatzl: Erneute Inschubhaftnahme einer suizidgefährdeten Asylwerberin, 14-jährige Tochter nicht auffindbar!
Wien (OTS) - Der Vorsitzende der Volkshilfe Wien und ehemalige Wiener Landtagspräsident Johann Hatzl ersucht Vizekanzler Josef Pröll, seine offenbar wild gewordene Innenministerin mit ihren Polizeistaat-ähnlichen Abschiebemaßnahmen zurückzurufen. Den Anlass dafür gab die heutige Inschubhaftnahme einer armenischen Asylwerberin, die seit mehreren Jahren in Wien in Betreuung der Volkshilfe lebt.

Mit ihr abgeschoben werden sollte ihre 14-jährige Tochter, die zu diesem Zweck heute von der Fremdenpolizei aus der Schule abgeholt
wurde. Dort wurde das Mädchen allerdings nicht angetroffen. Seither fehlt jeder Hinweis auf ihren Aufenthaltsort. Beide, Mutter wie
Tochter, gelten als bestens integriert und unbescholten. Aufgrund traumatischer Fluchterfahrungen ist die Mutter allerdings seit
einigen Jahren in psychiatrischer Behandlung, bei ihr besteht höchste Suizidgefahr. Erst vor Kurzem wurde sie nach einem gescheiterten Selbstmordversuch aus dem Allgemeinen Wiener Krankenhaus entlassen.

Hatzl ersucht die Bundesregierung, rasch einen rechtlichen Weg zu finden, der es ermöglicht, bereits integrierten Personen nach humanitären Grundsätzen den weiteren Aufenthalt in Österreich zu ermöglichen. "Es wäre wirklich zu prüfen, ob die rechtliche Verantwortung weiterhin bei der derzeitigen Innenministerin verbleiben soll, oder ob nicht andere Regierungsmitglieder besser geeignet wären, hier tätig zu werden.", so Hatzl, und weiter:
"Grundsätzlich wäre Österreich gut beraten, einen korrekten Weg der Menschlichkeit zu finden und nicht in inhumaner Weise unbescholtene Hilfesuchende schlimmer als Schwerverbrecher zu behandeln."

Rückfragehinweis:
Volkshilfe Wien
Mag.a (FH) Christine Himmer-Penz
Tel.: 0043 1 360 64-79
himmer-penz @ volkshilfe-wien.at
www.volkshilfe-wien.at
Das Schulgebäude wurde nach unbestätigten Gerüchten mit großem Aufwand und wenig Rücksicht von der Polizei durchsucht.

Kommentar: Ich hoffe, dass dieses überharte und gegen die Menschenwürde verstoßende Vorgehen den Verantwortlichen politisch das Genick bricht. Es gibt meiner Ansicht nach nicht den geringsten Grund, abgelehnte Asylbewerber wie Schwerverbrecher zu behandeln, und auch keinen Grund, zu einen Polizeieinsatz, der wahrscheinlich bei der Fahndung einem flüchtigen Mörder angemessen wäre - aber nicht bei der Suche nach einer verstörten 14-Jährigen!
Es gibt für mich auch keinen einsehbaren Grund, abgelehnte Asylbewerber, die a) gut integriert sind (meine Güte, das Mädchen besucht das Gymnasium!) und b) noch am Kriegstrauma zu kämpfen haben, nicht zu dulden. (Wobei man in Deutschland eher noch unduldsamer ist: In diesem Jahr gab es schon drei Suizide in deutscher Abschiebehaft.)

Ich fürchte leider, dass im derzeitigen politischen Klima (erschreckende Wahlerfolge der rechtspopulistischen FPÖ) ein "hartes Durchgreifen" gut ankommt.

Es gibt schließlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel! Das Mädchen hat niemandem etwas getan, sie ist keine Kriminelle!

Es ist offensichtlich wieder einmal so weit, dass sich Einzelne finden müssen, die Asyl gewähren, wo es der Staat wider alle Menschenrechte und alle Menschenwürde unterlässt.

In Deutschland gab es immer wieder mal Fälle, in denen Kirchengemeinden betroffenen abgelehnten Asylbewerbern Unterschlupf ihn ihren Kirchen gaben. Rechtlich gab das zwar kein zusätzliches Gewicht, aber der moralische Druck wurde schon sehr groß.

Ergänzung: Artikel auf DerStandard.at, der einige zusätzliche Hintergrundinformationen enthält: Herbe Kritik an geplanter Abschiebung.

Nachtrag, 14. 10: Das Mädchen ist am späten Nachmittag wieder aufgetaucht und hat sich bei ihrer Betreuerin gemeldet. Das Verfahren ist derzeit ausgesetzt.

Nachtrag, 15, 10.:
Anti-Ausgrenzung, Anti-Abschiebung. Aktionen der borg3 (der Schule, auf die das Mädchen geht).

Sonntag, 10. Oktober 2010

Online-Demo: Abschiebungen sind eine Schande für eine Demokratie!

Vorweg: es ist zwar eine österreichische Online-Demo, da aber Deutschland genau so "eifrig", genau so rücksichtlos und aus genau so fadenscheinigen Gründen abschiebt, beteilige ich mich an ihr.

keine Abschiebungen!
Familien werden in Nacht-und-Nebel-Aktionen abgeholt.

Kinder werden von ihren Eltern getrennt.

Minderjährige werden in Haft genommen.

Menschen nehmen sich in der Schubhaft das Leben, weil sie den Gedanken nicht ertragen, in ein Land abgeschoben zu werden, in dem sie nur Leid ertragen müssen.

Unsere Wut und Trauer ist groß, unsere Ohnmacht macht uns sprachlos. Die Behörden handeln inzwischen so schnell, das skaum noch Zeit ist zu reagieren.

Dennoch: Wir vergessen nicht! Und wiederholen es immer wieder: Kein Mensch ist illegal, der Mensch ist keine Ware, die hin und her verschoben werden darf!

Und wir vergessen nicht, welche unmenschlichen Aktionen die Politik eines der reichsten Länder der Welt setzt. Wir vergessen sie nicht, die Arigonas, Rezas, Dorentinas und Danielas...

Wir sind beschämt ob dieser Politik und setzen ein stilles Zeichen: Wir sind das andere Österreich, wir stehen zu den Werten der Demokratie und der Menschenrechte!

1. Kopier das Logo auf deinen pc.
2. Lade es als Zeichen deines Protestes als dein Profilfoto wieder hoch.
3. Mache deinen Protest sichtbar, zumindest hier auf facebook.

Dies Aktion wird Arigona, Reza, Dorentina und Daniela und all die anderen nicht zurück bringen. Sie wird auch nicht dazu führen, dass wir uns besser fühlen

Sie ist was es ist: Ein stiller Protest gegen eine Entwicklung, die uns kurz ohnmächtig macht - aber nicht zum Schweigen und Stillhalten bringt!

Der Mensch ist keine Ware, die hin und her verschoben werden darf!

Wien, 7. Oktober 2010
facebook: Online-Demo: Abschiebungen sind eine Schande für eine Demokratie!

Initiator: DAS BÜNDNIS für Menschenrechte & Zivilcourage

Freitag, 8. Oktober 2010

Überlegung: warum gibt es kein "Frankfurt 21" und kein "Hamburg 21"?

Auf dem Blog "Spiegelfechter" legt Jens Berger ausführlich dar, dass der bisherige Kopfbahnhof gar kein "Nadelöhr" ist, dass der geplante unterirdische Durchgangsbahnhof dagegen schon bei kleinen Betriebsstörungen zum Nadelöhr werden kann - und woran es wahrscheinlich liegt, dass das verkehrstechnisch unsinnige Projekt "Stuttgart 21" doch gebaut werden soll:
Stuttgart 21 – der Bahnhof, den niemand will und niemand braucht.

Der Stuttgarter Hauptbahnhof steht in der Rangliste der meistfrequentierten Fernbahnhöfe in Deutschland mit 240000 Fahrgästen pro Tag erst an achter Stelle. Der meistfrequentierte deutsche Bahnhof ist der Hamburger Hauptbahnhof mit 450000 Fahrgästen pro Tag.
Auch als Fernverkehrs-Knotenpunkt, etwa auf der von Kanzlerin Merkel erwähnten "Verbindung Paris-Budapest", nimmt Stuttgart Hbf mit 164 Fernzügen am Tag keinen Spitzenplatz ein.
Der wichtigste Knotenpunkt für Fernzüge ist in Deutschland eindeutig der Hauptbahnhof von Frankfurt (Main) mit 342 Zügen im Fernverkehr pro Tag.

Frankfurt Hbf ist, wie Stuttgart Hbf, ein Kopfbahnhof. Züge, die nicht in Frankfurt enden, müssen "rückwärts" den Bahnhof verlassen, bis sie ihre Fahrt fortsetzen können. Das "Kopf machen" ist ein zeitraubender Vorgang, der in einen Durchgangsbahnhof entfällt.

In der Tat gab es auch in Frankfurt Pläne für den Umbau in einen Durchgangsbahnhof, das Projekt Frankfurt 21. Allerdings sollte bei Frankfurt 21 kein Bahnhof abgerissen und neu gebaut werden, sondern der Hauptbahnhof mit dem Ostbahnhof durch unterirdische Gleise verbunden werden.
Dieses Projekt wurde 2002 endgültig fallen gelassen. Warum?

Das Hauptproblem in Frankfurt war die Finanzierung. Ursprünglich sollte das 1998 mit 2,9 Milliarden D-Mark kalkulierte Projekt durch den Verkauf ungenutzter Bahngrundstücke finanziert werden, was allerdings, da die zum Verkauf vorgesehenen Grundstücke teilweise dem Bundeseisenbahnvermögen gehörten, nicht realistisch war. Die Deutsche Bahn fürchtete wegen der geringeren Immobilienerlöse einen höherer Eigenanteil tragen zu müssen.

Anderseits wäre der Zeitgewinn weitaus geringer gewesen, als ursprünglich angenommen - er hätte höchsten zehn Minuten betragen. Die meisten Personenzüge - einschließlich der ICEs und ICs - sind heutzutage Wendezüge (oder Triebzüge), weshalb das "Kopf machen" längst nicht mehr so umständlich und zeitaufwendig ist wie früher. Betriebswirtschaftlich machte "Frankfurt 21" also keinen Sinn.
Da auch die politische Unterstützung weit geringer war als in Stuttgart, war das Projekt "Frankfurt 21" damit praktisch gestorben:
Ob ein Projekt verwirklicht wird oder nicht, hängt immer auch von den handelnden Personen ab - und von der Frage, wer wem auf bestimmten Posten folgt.
Bahntunnelprojekt: Immer einen Schritt schneller Artikel der FAZ aus dem Jahr 2006, in dem dargelegt wird, warum das Projekt "Frankfurt 21" scheiterte, aber für "Stuttgart 21" "noch Hoffnung bestand". Die FAZ lobte damals noch:
Die Cleverles aus Stuttgart waren außerdem in dem ganzen Prozedere immer einen Schritt schneller - auch das gehört mitunter zum Erfolg. Als man sich am Main noch alle vier Wochen zu einer "Machbarkeitskommission" traf, waren am Neckar schon viele Hürden genommen.
Das Projekt "München 21" wurde ebenfalls aufgegeben. Das vergleichsweise bescheidene Projekt City-Tunnel Leipzig wird hingegen verwirklicht. Dieser Projekt kann allerdings als warnendes Beispiel für "Stuttgart 21" gelten. Das Problem sind auch hier hohe (und ständig steigende) Baukosten. Der City-Tunnel ist für den Fernverkehr nur von geringem Nutzen, während die langen Bauarbeiten im Stadtzentrum zu Verkehrsbehinderungen und Umsatzeinbußen führen.

Das es nie ein Bahnhofsprojekt "Hamburg 21" gegeben hat, verwundert auf den ersten Blick. Zwar ist der Hamburger Hauptbahnhof kein Kopfbahnhof, sondern ein Durchgangsbahnhof - er hat allerdings ebenfalls "historische Altlasten". Erst einmal ist er ein Keilbahnhof: Die Strecken Richtung Süden (Richtung Hannover und Bremen) und in Richtung Osten (Richtung Berlin und Lübeck) zweigen noch innerhalb der Bahnsteige auseinander, auf der anderen Seite werden sie in der Bahn Richtung Hamburg-Altona (Kiel, Flensburg) zusammengefasst. Der Bahnbetrieb ist damit komplizierter als auf einem "reinrassigen" Durchgangsbahnhof.

Außerdem ist Hamburg Hbf eng: Von seinen 14 Gleisen sind zwei reine Durchfahrtsgleise für den Güterverkehr, vier Gleise werden ausschließlich für den S-Bahn-Verkehr genutzt, bleiben also angesichts des starken Verkehrsaufkommens magere 8 Gleise für den Fernverkehr - von denen wegen der "Keilanlage" die Hauptlast des Fernverkehrs, der der stark frequentierten Nord-Süd-Verbindungen, auf nur vier Gleisen ruht.
Aus städtebaulichen Gründen ist es nicht möglich, einfach weitere Gleise an der Seite anzubauen - mit den beiden in den 1970er Jahren gebauten unterirdischen S-Bahn-Gleisen ist diese Möglichkeit bereits ausgeschöpft.

Ein - hypothetisches - "Projekt Hamburg 21" könnte im Neubau eines "breiteren" Bahnhofs südlich vom heutigen Standort und eines Gleisdreiecks noch weiter südlich bestehen. Die nötige Flächen für einen oberirdischen neuen Hauptbahnhof wären sogar "freiräumbar" gewesen (Ostteil der "Hafencity" und Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs).

Der Grund, weshalb es nie ein "Hamburg 21" gegeben hat, liegt darin, dass mit einen neuen Bahnhof praktisch keine Fahrzeitverkürzungen verbunden gewesen wären, die die Kosten eines Neubaus rechtfertigen könnten.
Zwar lag der Fall beim neuen Berliner Hauptbahnhof ähnlich, nur gab es dort starken politischen Druck, das Projekt entgegen betriebswirtschaftlicher Bedenken durchzuziehen.

Mein Fazit: wirtschaftlich unsinniger "Bahnsinn" wie "Stuttgart 21" hat nur dort eine Chance, wo er mit massivem politischen Druck "durchgepeitscht" wird.

Donnerstag, 7. Oktober 2010

Zeitenlauf

Es ist Oktober. Die Zeit, in der ich Urlaubsträume träume. Nicht als Flucht vor der dunklen Jahreszeit. Eher Fernweh, Aufbruchslust, Sehnsucht. Denn ich mag den Herbst!
Es ist sogar ein noch Stückchen Sommer - Nachsommer - zu spüren und zu sehen.
Sonnenblumen

Keine Sehnsucht nach dem "Sommerloch" und den "Sommerthemen".

Obwohl: manchmal beeindrucken diese überflüssigen Meldungen, Meinungen, Diskussionen durch ein schönes L’art pour l’art. Wenn ich ausrufen möchte: "Habt Ihr keine anderen Sorgen?", dann sehne ich mich nach einer besseren Welt, in der es wirklich keine anderen Sorgen gibt.
Was andererseits nicht daran ändert, dass beliebte Sommerlochthemen sehr viel über gefährliche Ängste verraten. "Saure-Gurken-Zeit" ist in deutschen (deutschsprachigen) Boulevard-Medien nicht nur "Silly Season", sondern immer wieder "German Angst Season". Was verrät es, dass der Streit um "Nackerte", um pro und contra FKK, jedes Jahr aufs Neue mit den alten Argumenten geführt wird? Ja, dass es überhaupt "Streit um Nackerte" gibt? Immerhin 40 Jahren nach der Aufregung um nackte Sonnenfreunde im Englischen Garten und fast 20 Jahre nach dem "Höschenkrieg" an der Ostseeküste?
Was verrät die hysterische Berichterstattung über entlaufene oder eingewanderte "gefährliche" Tiere: Alligator, Bär, Wolf, Wels, Boa usw. ? Ich fürchte, nichts Gutes. Und wenn es nur die Hartnäckigkeit von Vorurteilen und Aberglauben sind.
Es ist klar, warum über" Bergsteiger-Dramen", "Segler-Dramen" oder "Expeditions-Dramen" in sensationsmacherischer Weise berichtet wird. Aber es verrät viel, wenn regelmäßig das Motiv "selber Schuld" und "wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um" durchschimmert. Das kommt an - vielleicht, weil es die klammheimliche Sehnsucht, den Alltag hinter sich zu lassen, so schön wirksam betäubt? Oder weil Schuldzuweisungen einem das herrliche Gefühl der moralischen Überlegenheit gibt?

Typen und Stereotypen.
Es gibt Menschen, die sind ihr eigenes Klischee.
Manchmal ist es lustig, manchmal ein Grund zur Fremdscham.

Zum Beispiel der "Stadtindianer". Er sieht so aus, und tut so, als wäre er ein Überlebender der Hippie-Ära, obwohl er damals noch gar nicht auf der Welt war. Er wäre glaubwürdiger, wenn er über diese Zeit wenigsten etwas mehr wüsste, als die üblichen Klischees. Er knüpft an die "Stadtindianer"-Kommunen der frühen 80er-Jahre an - und verdrängt erfolgreich die unappetitlichen Seiten dieser Versuche, anders als in der üblichen Familie zu leben - (offen ausgelebte Pädophilie ist nur eine von ihnen).
Er ist sich im Grunde darüber im Klaren, dass das beliebte "indianische Medizinrad" nicht authentisch ist, und dass an Sun Bears "indianischen Tierkreiszeichen" nichts dran ist. Aber er praktiziert diese Art "indianische Spiritualität".
Er redet viel vom Schamanismus - aber wer sich auskennt, merkt: der Mann weiß nicht, wovon er redet. Trance Trommel als "Natural High"? - Funktioniert sicher, und ist vielleicht auch besser für die Leber als Drogenrausch - aber ist das "Schamanismus"?
Er verehrt Castaneda. Er will nicht wahr haben, dass der gute Mann "ethnologische Fabeln" schriebt.

Der Mann tut mir Leid. Weil er sich selbst belügt.

Sonntag, 3. Oktober 2010

Einigkeit und Recht! Und Freiheit?

Anlässlich 20 Jahre "deutsche Einheit".

Im Großen und Ganzen ist sie, trotz verblühender Landschaften (vor allem in Brandenburg und Vorpommern zu besichtigen), eine Erfolgsgeschichte. Darin stimme ich mit der ehemaligen DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld überein. (In manchem Anderen kann ich ihr nicht zustimmen.)
Vera Lengsfeld: "Die DDR ist weg, das war ein Erfolg!"
Einige bemerkenswerte Zitate aus diesem Interview, das sie "Focus online" gab, nebst etwas Senf:
Lengsfeld: Sicher. Das System der DDR hat Menschen hervorgebracht, die bereit waren, ihre Nächsten zu verraten. Das hat etwas mit dem System zu tun, aber nicht mit dem Menschen an sich. Mein Vertrauen in die Menschen ist dadurch überhaupt nicht berührt.
Da hat sie recht: ob es in einer Gesellschaft Denunziation und Spitzelei gibt, ist eine Sache der Struktur dieser Gesellschaft. Im Einzelfall ist es natürlich eine Charakterfrage, ob jemand bereit ist, zu Denunzieren und Privatsachen auszuspionieren, aber in einer nach meinem Verständnis intakten Gesellschaft wird Denunziation und Schnüffelei nicht belohnt, sondern verachtet - der "schwache Charakter" kommt nicht zum Zuge. Auch die Bundesrepublik war nie eine Gesellschaft, die sich durch besonderen Respekt vor der Privatsphäre ausgezeichnet hat. Spätestens seit der Jahrtausendwende sehe ich einen deutlichen Trend in Richtung eines Systems, das wieder Menschen hervorbringt, die bereit sind, ihre Nächsten zu verraten.
[...] Viel wichtiger ist, dass durch diese Geschichte die Lebenslüge der geistigen Elite dieses Landes ins Wanken gerät: die Legende, dass die 68er-Bewegung die eigentliche Geburtsstunde der Demokratie in der Bundesrepublik bedeutet habe. Das Gegenteil ist der Fall. Diese Bewegung hat nicht gegen ein repressives System, sondern gegen die beste Demokratie protestiert, die Deutschland bis dahin hatte. Und sie hat dies getan mit Bildern und Ideen von kommunistischen Massenmördern wie Mao und Pol Pot. [...]
Obwohl das arg nach modischem "'68er-Bashing" klingt: falsch ist das nicht. Die "''68er" werden meiner Ansicht nach überschätzt, im Positiven wie im Negativen. Es stimmt, es gab in den 60er und frühen 70er Jahren einen Demokratisierungsschub, aber diese Entwicklung weg vom "traditionellen deutschen Untertanengeist" begann spätestens mit der Spiegel-Affäre 1962. Meiner Ansicht nach unterlief den "'68ern" der klassischer Denkfehler des "Schwarz-Weiß"-Denkens: Weil die USA sich im Vietnamkrieg erkennbar ins Unrecht gesetzt hatten, die "Bösen" waren, musste Ho Chi Min, Befreiungskämpfer gegen die französische Kolonialherrschaft, später Premierminister und charismatische Führer Nordvietnams, automatisch "ein Guter" sein. Jeder Bombenangriff auf die zivile Infrastruktur Nordvietnams (unter dem zynischen Motto "Bombing them back into stone-age"), jeder von US-Truppen ermordete "Vietkong-Sympatisant", jeder völkerrechtswidrige Einsatz von chemischen Kampfstoffen usw. förderte das moralische Ansehen Hos (und in geringerem Ausmaße später das Pol Pots).
Noch drastischer ist der Effekt bei Mao - die VR China schien eine Alternative zum Kapitalismus nach US-Vorbild und zum Kasernenhofkommunismus nach dem Muster der UdSSR zu sein. Da nur wenig über die tatsächliche (katastrophalen) Verhältnisse in China bekannt war, konnte sich der "Mao-Kult" unter westlichen Linken halten. Sein radikales Vorgehen gegen die "Bürgerlichen" während der Kulturrevolution kam der Rebellionsromantik der "'68er" entgegen. Später wollten viele Mao-Fans die schreckliche Wahrheit - mindestens 44 Millionen Menschen verloren wegen seiner Politik ihr Leben - nicht wahr haben.
Man muss der Wahrheit ins Auge blicken: Bürgerrechtler sind in keiner Partei beliebt. Sie sind zu unabhängig und nicht geneigt, Parteisoldaten zu werden. Das verlangt aber mehr oder weniger jede Partei. [...]
Da gebe ich Frau Lengsfeld voll und ganz recht!
FOCUS Online: Der große Störenfried in diesem Jahr hieß Thilo Sarrazin. Was verrät uns die Debatte um seine Person über den Geisteszustand der Republik im Jahre 2010?
Lengsfeld: Die Debatte hat gezeigt, wie groß die Kluft zwischen Politik und den meisten Medien und den Bürgern ist. Früher gab es die Einheitspartei. Heute soll anscheinend eine Einheitsmeinung hergestellt werden. Das wird nicht klappen. Eine ähnliche Diskrepanz zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung kenne ich nur aus der DDR der 80er-Jahre. Das Ergebnis ist bekannt.
Eine zwiespältige Antwort. Worin ich mit Frau Lengsfeld einer Meinung bin: die Diskrepanz zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung ist tatsächlich gewaltig. Die "klassischen Medien" sind sozusagen chronisch "Public Relation-verseucht" - und es gibt tatsächlich einen ziemlich engen "Konsenskorridor", in manchen Fragen fast schon eine Selbstgleichschaltung.
Zwiespältig ist die Antwort insofern sie ausgerechnet auf die Frage nach Thilo Sarrazin gegeben wurde. Denn Sarrazin hat keine neuen oder bislang verschwiegenen oder unterdrückten Tatsachen ans Licht gebracht - das Image des Mannes, der "unbequeme Wahrheiten" sagt, ist ein Medienkonstrukt. Er ist ein hemmungsloser Selbstdarsteller und Verkäufer seines Buches. Was an Sarrazins Aussagen wahr ist, ist nicht neu, und das, was neu ist, ist sozialdarwinistisch, sozialrassistisch, verlogen und arrogant.

Der Fall der Mauer und das Ende der DDR (das mit der Vereinigung zusammenfiel) war ein Sieg der Freiheit.
Leider wird von "Freiheit" gern in propagandistisch verzerrter Form geredet:
Die DDR folgte bereitwillig dem deterministischen Motto Lenins "Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit".
In der "alten Bundesrepublik" schafften es Forderungen nach mehr Freiheit vor allem dann in die Medien, wenn es um emotional aufgeladene Nebensächlichkeiten wie die "Freie Fahrt für freie Bürger" (gegen Tempolimits auf Autobahnen) ging.

Ich habe das üble Gefühl, dass das politische System Deutschlands, in dem nicht nur die Kanzlerin so gern das Wort "alternativlos" in dem Mund nimmt, 20 Jahre nach der Einheit die beiden verzerrten "Freiheitsbegriffe" vereinigt.

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