Donnerstag, 5. August 2010

Manchmal ein Widerspruch: Steampunk-Ästhetik und "Dampf-High-Tech"

Seit einiger Zeit schreibt Volkmar an einem Romanprojekt, irgendwo zwischen Fantasy und Science Fiction, das sich, hinsichtlich der dort vorherschenden verwendeten Technik, dem Steampunk zuordnen lässt.
In Volkmars Roman kommt ein Hochgeschwindigkeits-Dampfzug vor, der fahrplanmäßig über 200 km/h schafft.

Nun gab es tatsächlich 200 km/h schnelle Stromlinien-Schnellzuglokomotiven wie die deutsche Reichsbahn-Baureihe 05 (Rekord: 200,4 km/h 1935 durch Lok 05 002) und die britische LNER-Class A4 (Rekord: 201,2 km/h im 1938 durch Lok 4468 "Mallard" - bis heute gültiger Weltrekord für Dampfloks). Allerdings wäre 200 km/h nach Fahrplan mit diesen Loks nicht möglich gewesen. Die "Mallard" überstand den Rekordversuch mit einem heißgelaufenen Treibstangenlager nicht unbeschädigt. Die 05 002 schaffte die "200" zwar mehrmals ohne Schaden, aber auch sie fuhr am äußersten Limit. Auch der technisch mögliche, aber nie nachgewiesene, im regulären Betrieb erzielte "inoffiziellen Rekord" einer amerikanischen PRR-Class S1 beweist nicht, dass Stromliniendampfloks der 1930er Jahre theoretisch planmäßig mit 200 km/h hätten verkehren können. So elegant die Stromlinienloks auch sind - für die Zugmaschine des Hochgeschwindigkeits-Dampfzugs können sie kein direktes Vorbild sein. Ein Problem ist, dass der Lokführer in Hochgeschwindigkeitszügen einen optimalen Blick auf die Strecke braucht, während in einer üblichen Dampflok durch den Kessel die Sicht nach vorne behindert ist. Deshalb wurde auch eine 05 mit vorne liegendem Führerhaus erprobt, die sich aber nicht bewährte. Ein anderes Problem ist die starke Vibration, denn ein perfekter Masseausgleich ist bei Dampfloks kaum zu erreichen - eine leichte Unwucht bleibt technisch bedingt immer. Außerdem stieß die Kolbendampfmaschine an ihre Leistungsgrenze.
Der logische Ausweg wäre, analog zum Schiffsbau, der Einsatz von Dampfturbinen gewesen. Tatsächlich wurden einige Dampfturbinenlokomotiven gebaut.

Ich skizzierte also ganz grob eine stromlinenverkleidete Turbo-Dampflok mit vorne liegendem Führerstand. Das Problem: Niemand hätte sehen können, dass es eine Dampflok ist. Der "typischen" Steampunk-Ästhetik, wie sie etwa die Clockworker kultivieren, entspräche sie in keiner Weise. (Und eine "Dieselpunk"-Maschine sollte besser eine Diesellok sein.)

Ein reales Beispiel aus dem Jahre 1903. Damals gab es eine Ausschreibung des Verein Deutscher Ingenieure: Es sollte eine Lok gebaut werden, welche einen 120 Tonnen schweren Zug mit 120 km/h, wenn möglich mit 150 km/h, ziehen sollte.

Die preußische Preußische S9 "Altona 561" war die erste Lokomotive mit vorne liegendem Führerstand und Stromlinienverkleidung. (Allerdings war sie auch eine der ersten Dampfloks, die nicht nach "richtiger Dampflok" aussah.) Sie hat zwar etwas "Retrofuturistisches" und ist insofern ein Stück "Realität gewordener Steampunk" - aber: es hapert mit dem eleganten Aussehen:
Preussische S9 Altona 561
Die S9 schaffte im Testbetrieb 1904 nur eine Geschwindigkeit von 137 km/h, dabei leistete sie maximal 1400 PSi. Sie blieb damit hinter den Erwartungen zurück und war nur wenig schneller als die schnellsten vorhandenen Schnellzugloks der Königlich Preußische Staatseisenbahnen. Die S9-Versuchslokomotiven mussten als Fehlkonstruktion gelten und gingen nicht in Serie.

Die bayrische S 2/6 ist dagegen eine Maschine nach dem Herzen der Dampflok-Fans - und der Freunde des Steampunks:
Bayerische S 2-6 (3201)
Im Jahr 1907 gewann die Bayerische S 2/6 die Ausschreibung des VDI, indem sie 154 km/h erreichte, bei 2200 PSi.
Aber auch die S 2/6 war für den Alltagsbetrieb bei der Königlich Bayrischen Staats-Bahn wenig geeignet, und blieb ein - zugegeben prächtiges - Einzelstück. (Heute im Bahnmuseum Nürnberg zu bewundern.)

Was macht die "Steampunk-Ästhetik" der S 2/6 aus? Erst einmal entspricht sie einer typischen Dampflok, deren Funktion sichtbar ist, und in der es sichtbar Dampf ist, der die Maschine antreibt. Aber sie hat auch einige ungewöhnliche, an die alten Stahlstich-Illustrationen von Jules-Verne-Romane erinnernde Merkmale, vor allem die ansatzweise windschnittige Form: Vor den Zylindern befand sich eine gewölbte Verkleidung, die Rauchkammertür war kegelförmig und auch Schornstein und Dampfdom waren mit "Windschneiden" versehen. Auch das Führerhaus war, nach damaligem Verständnis, "windschnittig" gebaut. Es ist aber keine wirklich strömungsgünstige Form, nur der Stirnwiederstand lässt sich so verringern - die preußische S 9 kam einer "Stromlinienlok" schon näher. Aber es ist gerade dieser etwas naive Ansatz, der der S 2/6 ihren Reiz gibt.
Der letzte, entscheidende Punkt: die 2/6 ist elegant. Riesige Treibräder, ein schlanker Kessel, ein hoher Rahmen und ein 'durchsichtiges' Laufwerk - eine einfach schöne Maschine. Wie sich für Steampunk-Technik gehört, gibt es viel poliertes Messing, teils brünnierten, teils polierten Stahl, und eine dunkelgrüne Lackierung mit farblich abgesetzten Kesselbändern und angedeuteten Jugendstil-Ornamenten.

Würde ich eine Lokomotive für die die Ausstattung eines Steampunk-Films suchen, würde ich die "Bayerin" der "Preußin" bei weitem vorziehen.
Vielleicht spielt es keine Rolle, dass eine "stempunkige" Lok keine 200 km/h schaffen könnte - es reicht ja vielleicht aus, dass sie schon im Stand so aussieht, als würde sie gerade mit ungeheurer Geschwindigkeit über den glitzernden Schienenstrang rasen.

Dienstag, 3. August 2010

Nackedei-Bild

Auf seinem Blog schrieb Finkeldey neulich unter: Kachelmann, Brunner, Tauss, Wüppesahl und Finkeldey:
Vor einiger Zeit habe ich irgendwo, ich glaube in Jörg Tauss´ Blog, angekündigt, ein Kindernackidei-Bild von mir ins Web zu stellen; als Protest gegen den schamlosen politischen Missbrauch mit dem Missbrauch.

Ich werde das jetzt doch nicht tun. Gegen den Begriff „feige Sau“ werde ich nicht angehen, denn: Ja, ich bin ne feige Sau. Ich habe weder die psychischen noch die sozialen noch die finanziellen Ressourcen, um einer etwaigen Hausdurchsuchung, ggfls sogar einer Festnahme durch eine in Teilen ersichtlich überforderte Justiz etwas entgegen zu setzen.
Ich hatte ebenfalls daran gedacht, ein Nackedei-Foto von mir aus Kindertagen zu posten. Allerdings kam ich dabei gar nicht so weit, mir Gedanken über die möglichen Folgen dieser Aktion zu machen - aus dem einfachen Grund, weil ich keine Nackedei-Fotos von mir besitze.

Für den symbolischen Protest gegen den schamlosen politischen Missbrauch mit dem Missbrauch habe ich allerdings ein anderes Mittel. Ich bin (Amateur-)Künstler. Und es gibt tatsächlich eine Zeichnung aus meiner Zeichenfeder, die jemand schon mal "beargwöhnte". Ich meine diese Zeichnung:
Jiowan

Die Zeichnung entstand 1998 als Illustration einer Fantasy-Story ohne irgendwelche sexuellen Bezüge. Sie wurde in der (Amateur-) Zeitschrift "Legendensänger" (ISSN 0944-5714) veröffentlicht. Und sie steht seit dem 24. Oktober 2007 auf "ipernity", im offenen Bereich.

Montag, 26. Juli 2010

Sexualität, Macht und Gewalt

"Sexuelle Gewalt ist Machtausübung und keine Sexualität"
Birgit Kohlhofer, Diplompsychologin, Psychotherapeutin und Mitautorin des Buchs "E.R.N.S.T. machen - Sexuelle Gewalt unter Jugendlichen verhindern".

Missbrauch. Ich mag das Wort im Zusammenhang mit "Kindesmissbrauch" nicht, da es suggeriert, es gäbe einen korrekten "Gebrauch" von Kindern. Oder überhaupt von Menschen. Es riecht nach Instrumentalisierung, als wären Menschen tote Gegenstände. Ganz im Sinne des "Humankapitals" oder des "Menschenmaterials".

Aber es gibt tatsächlich Dinge, die da missbraucht werden. Angstschürerei etwa ist Missbrauch von Können und Macht. So, wie es Missbrauch eines Küchenmessers ist, damit jemandem die Kehle durchzuschneiden. Und es gibt den Missbrauch der Sexualität. Etwa den der sexuellen Neugier, die es auch bei Kindern gibt.

Es ist wichtig, dass wir über die Bedingungen nachdenken, die Menschen zu Tätern machen. Im Falle einer pädophilen Veranlagung - das sind übrigens die wenigsten der Täter - gibt es Initiativen wie "Kein Täter werden".
Aber die meisten Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen haben andere Gründe.
Es ist wichtig, sich mit diesen Gründen zu befassen. Nicht um Täter zu be- oder entlasten, sondern dafür, dass wir Bedingungen schaffen können, in denen Menschen nicht mehr zu Tätern werden.

Einschub: Ja, es ist die sexuelle Selbstbestimmung, die vom Gesetz geschützt werden soll, und die das gesellschaftlich zu schützende Gut ist. Nicht die Moral, auch nicht die sexuelle "Unschuld" junger Menschen. Bei Kindern, mit ihre vorhandenen, aber unentwickelten Sexualität, heißt "sexuelle Selbstbestimmung", dass sie von Erwachsenen und von Jugendlichen sexuell in Ruhe gelassen werden. Kein Erwachsener, der noch bei Trost ist, käme auf die Idee, einen kleinen Jungen, der ihn mit erhobenen Fäusten zum Boxkampf auffordert, mit voller Kraft einen Faustschlag zu verpassen, um sich darauf herauszureden, der Junge hätte das doch gewollt. "Sexuell in Ruhe lassen" heißt aber auch: "Doktorspiele" unter kleinen Kindern zulassen, und auch: ein "Nein" zu Aufforderungen wie "Gibt Omi ein Küsschen" zu akzeptieren.

Welche Bedingungen begünstigen Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern?

Wenn Kinder als Sexsymbole, z. B. als "Lolitas" aufgestylt werden, zum Beispiel. Ganz unabhängig davon, ob diese Kinder nackt oder "sexy angezogen" posieren.
Vor allem ist es aber die Kombination von Sexualität und Macht, die gefährlich ist. Es war vermutlich das Gefühl von Macht, dass die Jugendlichen auf Ameland zu Tätern machte. Erst danach kam - wenn überhaupt - die sexuelle Erregung ins Spiel.
Die Strukturen sind mit dem sogenannten "Bullying" vergleichbar. Also einem besonders exzessiven und häufig auch Gewalt einschließendem Mobbing. Im Prozess der Demütigung bilden sich eigene Hierarchien heraus, die Täter stehen oben im Ansehen, die Opfer unten. Zu solchen Abläufen kommt es immer dann, wenn Gruppen neu gemischt werden. Das Geschehen führt auf eine makabere Art zu einer eigenen Ordnung.

Von mehreren Tätern vergewaltigt und bloßgestellt zu werden, potenziert die Scham der Opfer. Die Struktur der Mitwisser erfüllt noch eine andere Funktion: "Wenn mehrere Jugendliche beteiligt sind, wird auch schon mal das eigene Gewissen abgelegt", sagt die Kölner Kriminalpsychologin Sabine Nowara. Das Motto sei: Wenn andere das machen, dann kann ich das auch machen.

In dieser Gruppendynamik genierten sich die Täter auch nicht, gegebenenfalls sexuelle Erregung zu zeigen. "Da spielt die eigene Scham überhaupt keine Rolle", so Nowara, Autorin der ersten Studie, in der mehr als 300 minderjährige Sexualstraftäter und ihre Taten erfasst wurden.
Missbrauch durch Jugendliche - Im Sog des Grauens (spon)

Es kommt also darauf an, Sexualität, Macht und Gewalt zu entkoppeln. Wenn Sexualität zur einer Funktion von Macht wird, missbraucht wird, dann führt das geradewegs zum "sexuellen Missbrauch", zum Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern.
Wir leben immer noch - und seit ein paar Jahre wieder verstärkt - in einer hierarchischen und autoritären Gesellschaft. Diese Hierarchisierung unserer Gesellschaft hat sich, im Zuge der Verdinglichung menschlicher Leistung, der zunehmenden Optimierung und Selbstoptimierung, in sämtliche Bereiche des Lebens ausgedehnt - bis in den Privatbereich hinein.
Sie geht immer auf Kosten Schwächerer.
Je härter eine Gesellschaft oder ein Teil von ihr, etwa eine Organisation, eine Schule, ein Unternehmen, ganz allgemein: eine Gemeinschaft, hierarchisiert ist, je mehr der, der in der Rangordnung über einem steht, tritt, desto größer ist die Unmenschlichkeit in dieser Gemeinschaft. Eine Unmenschlichkeit von der Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung nur einen kleinen, wenn auch grausamen, Teil darstellen.
Es ist wohl kein Zufall, dass es in straff hierachisierten Gemeinschaften, wie z. B. in der Kirche, in Internaten, beim Militär und auch in den Sportvereinen besonders oft zu sexualisierter Gewalt kommt.
Laut Zartbitter bieten Sportvereine einen Nährboden für sexuelle Gewalt. "Aufgrund unserer Erfahrungen gehen wir davon aus, dass Missbrauch dort ein größeres Ausmaß hat als in der katholischen Kirche", sagt Enders.
Ein weiterer Faktor bei der Verknüpfung von Sexualität, Macht und Gewalt ist offensichtlich die Pornographie. Allerdings wohl nicht im Sinne des alten feministischen Spruches, dass Pornographie die Theorie und die Vergewaltigung die Praxis sei. Die "PorNo!"-Kampagne halte ich für völlig verfehlt, und zwar nicht nur, weil sie zu einen absurden Bündnis zwischen Feministinnen und der immer noch stramm antifeministischen römisch-katholischen Geistlichkeit führte.
Es ist nun einmal so, dass in den meisten Pornos eine Sorte Sex dargestellt wird, in dem Menschen zu Objekten degradiert werden.
Ich erinnere mich genau daran, wie es auf mich wirkte, als ich mit mit zwölf zu ersten Mal die Porno-Hefte meines Vaters genauer ansah. Ich war zwar fasziniert, aber auch angeekelt - über das, was Menschen anderen Menschen an Gewalt antun, sie quälen, demütigen. Dass Sex im wirklichen Leben zum Glück meisten ganz anders aussieht, begriff ich erst Jahre später. Und um zu begreifen, dass es im einvernehmlichen BDSM nicht um tatsächliche Macht und Gewalt geht, brauchte ich noch viel länger. Es hätte aber leicht sein können, dass mir die Pornos den Eindruck vermittelt hätten, dass die Erniedrigung der Partners zum Sex "einfach dazugehört".
Pornos werden von jungen Menschen konsumiert, das lässt sich auch mit klostertauglichem Jugendschutz nicht verhindern. (Mein Vater hätte seine "Schmuddelhefte" schon in einem Tresor einschließen müssen. Und wenn er es getan hätte - so ab der siebten Klasse wurden die Dinger auf dem Jungensklo in der Schule getauscht. Internet macht die Sache einfacher, aber Zugriffssperren sind für einen computertechnisch interessierten Jugendlichen allenfalls eine sportliche Herausforderung.)
Das große Problem beim Porno die die mangelnden Reflexion darüber. Jugendliche konsumieren Pornos, aber sie können es nicht verarbeiten, weil in vielen Familien nicht darüber gesprochen wird.

Ich habe leider keine Patentrezepte, wie sich Sexualität, Macht und Gewalt entkoppeln ließen.
Patentrezepte, wenn auch garantiert wirkungslose, haben merkbefreite PolitikerInnen wie die bayrische Justizministerin Dr. Beate Merk (CSU), die ja allen Ernstes Killerspielen und der FDP, bzw. den Kritiker einer Netzzensur-Infrastruktur die Schuld für schreckliche Vorfälle wir auf Ameland gibt.

Freitag, 23. Juli 2010

Es ist Sommerlochzeit - und Alpträume werden wahr:

Noch vor einigen Jahren hätte man so etwas für völlig absurd gehalten, weil die Presse sich regierungsamtliche Sprachregelungen nicht bieten lassen würde.
Aber wir leben offensichtlich in einem anderen Land als noch vor zehn Jahren.
Die niedersächsische Ministerin für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration, Aygül Özkan (CDU), hat eine "Mediencharta für Niedersachsen" entworfen. Natürlich mit einem "guten Zweck": die Integration soll gefördert werden.
Es dürfte in Deutschland bislang einzigartig sein, dass eine Landesregierung die Medien auf gemeinsame Inhalte verpflichten will und sogar die dabei zu wählende Sprache vorschreiben möchte.
Ministerin will Medien
Inhalte vorgeben (NWZ online)


Und der Wohnungsanspruch für Alleinstehende ALGII-Empfänger könnte auf nur noch 25 Quadratmeter beschränkt werden (wenn's denn solche kleinen Wohnungen überhaupt in ausreichender Zahl gäbe - na ja, der Vorschlag "Sammelunterkünfte" wird wohl nicht lange auf sich warten lassen: er läge in der Logik der "Sozialpolitik"):
Radikaler Sparvorschlag: Hartz-IV-Empfängern droht Mietschock (ftd)
Bei Behinderten, die nun wirklich nichts für ihre Behinderung können, soll auch gespart werden - weitere tolle Sparideen: Behinderte könnten etwa nicht mehr kostenlos Bus und Bahn nutzen dürfen, und der Zugang zu Behindertenwerkstätten könnte für alle beschränkt werden, die einen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente haben.

Nachtrag, 24. Juli:Frau Özkan rudert zurück: nicht so gemeint, nur ein Entwurf usw. etc. und blah blubb.
Das Übliche eben, wenn eine ganz gewöhnliche Politikerin unerwartet starken Wind von vorn bekommt. Dass solche Pläne damit endgültig vom Tisch sind, wage ich allerdings nicht zu hoffen.

Ich hoffe aber sehr, dass es von den Sparideen auf Kosten von Langzeitarbeitslosen und Behinderten auch bald heißt, dass seien doch nur Entwürfe untergeordneter Stellen gewesen etc. pp. - sprich: dass es so viel Wind von vorn gibt, dass der Versuchsballon nicht steigt!

Nackter Wahnsinn: Nacktbilder sind kriminell

Nacktheit ist ein typisches Sommerlochthema. Meistens geht es um irgendwelche Leute, die sich lautstark über irgendwelche "Nackerte" aufregen, was dann dank einer gelangweilten Lokalpresse einen kräftigen Resonanzboden erhält. Oder es geht um irgendwelche Promis, die von irgendwelchen Paparrazis beim nackten Sonnenbad "abgeschossen" wurden. Seit einige Jahren geht es aber auch um das Thema: Lassen Sie Ihr Kind nackt rumlaufen? Ein Thema, das durch die Angst vor "pädophilen Spannern", die bestimmt noch Schlimmeres im Sinn hätten, und der Angst davor, Bilder des eigenen Kindes könnten als Onaniervorlagen "ins Internet" gestellt werden, bestimmt wird. Ein Angst, die nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, aber die "neuen" Gefahren stark überschätzt und die tatsächliche Gefahrenlage verkennt. (Der "Spanner im Gebüsch" ist vielleicht lästig. Sexualisierte Übergriffe gegen Kinder gehen aber fast immer von Tätern aus dem Nahbereich, von Familenangehörigen, Freunden oder auch Erziehern und Lehrern aus.)

Seitdem es den §184c StgB (Verbreitung, Erwerb und Besitz jugendpornographischer Schriften) gibt, dürfte "Nacktheit" endgültig auch außerhalb des Boulevardjournalismus und des Sommerlochs Thema sein.
Im Gesetz heißt es zwar, jugendpornographische Schriften seien
[...] pornographische Schriften (§ 11 Abs. 3), die sexuelle Handlungen von, an oder vor Personen von vierzehn bis achtzehn Jahren zum Gegenstand haben [...]
, aber Erfahrungen aus den USA und aus Großbritannien ließen befürchten, dass die Bedeutung von "pornografisch" in der Praxis immer weiter sinken könnte, so dass bald auch einfache Nacktbilder automatisch als pornografisch gelten könnten.

Die Befürchtungen sind offensichtlich wahr geworden, und es gibt Hausdurchsuchungen bei Jugendlichen wegen selbstgemachter "Jugendpornografie": Durchsuchung im Kinderzimmer (Udos law blog). Nach dem Bericht der Allgäuer Zeitung hat das Mädchen die Nacktbilder von sich selbst gemacht und von sich aus an die Jungs verschickt, gegen die mit Hausdurchsuchung ermittelt wird. Im Bericht ist wohlgemerkt nur von "Nacktbildern" die Rede - nicht von Pornographie. Wie Udo Vetter schrieb, liegt die Möglichkeit, dass hier der Pornografiebegriff grob verkannt wurde, jedenfalls nicht fern.
Es ist so einfach: Nacktbilder sind halt "unmoralisch", jedenfalls war das früher, als die Welt noch in Ordnung war, immer so gewesen, vor den bösen ´68ern, dem bösen Sexualkundeunterricht, dem "Verfall der Familie" (Frauenrechte, Schwulenehe und so ein Schweinkram) und dem "größten Tatort der Welt", diesem Internetdingens, von dem neuerdings alle Welt spricht. Und was "unmoralisch" ist, gehört verboten!
Und weil "Kinderpornographie" ein schreckliches Verbrechen ist, gilt das "erweiterte Null-Toleranz-Prinzip". Ein Prinzip, bei dem unter den Tisch fällt, dass es bei "Kinderpornographie" nicht um "Pornographie" und schon gar nicht um Bilder vom Badestrand geht. Und nach dem Minderjährige generell als "Kinder" angesehen werden.
Ich bin ehrlich gesagt entsetzt darüber, dass hier die Dokumentation des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Bild und Ton auf die selbe Stufe gestellt wird wie die Darstellung erwachsener Darsteller mit kindlichem Erscheinungsbild (laut KJM: Zöpfe, Plüschtiere, kindliche Körperschemata [1]).
Christian Bahls: Kinderpornographiedefinition der EU (mogis-verein.de).

Grundsätzliche Überlegung beim Wirrlicht: naggisch oda nisch?

Montag, 19. Juli 2010

Heute vor 140 Jahren erklärte Frankreich Preussen den Krieg

Jeder einigermaßen historisch gebildete Mitteleuropäer (wie viele bzw. wenige das sind, soll hier kein Thema sein) hat schon mal davon gehört: beim Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870 war Frankreich isoliert und galt als der Aggressor - eine Folge der geschickten Diplomatie des preußischen Ministerpräsidenten und Bundeskanzlers des Norddeutschen Bundes, Otto von Bismarcks und der ebenso ungeschickten Diplomatie Napoleons des Dritten.
Man muss sich das einmal vor Augen halten: Obwohl der Krieg ohne Zweifel von Bismarck "angezettelt" worden war, war Frankreich der Angreifer und würde auch nach modernem Völkerrecht als der Aggressor angesehen werden.

Wie konnte ihm das gelingen? Der entscheidende Faktor war bekanntlich die berüchtigete Emser Depesche.
Entgegen einer weit verbreitete (und unter "Weltverschwörungstheoretikern" sehr populären) Ansicht handelte es sich nicht um eine Fälschung.
Die für die Presse von Bismarck redigierte Fassung war allenfalls durch Kürzung zugespitzt. Aus der Sicht der politische Ziele Bismarcks und seiner Bundesgenossen war das ideal: niemand hätte ihn nachträglich der Lüge bezichtigen können - er hat ja nur eine Pressemitteilung zusammengestellt. Er hätte es nicht einmal nötig gehabt, sich hinter einem Pressesprecher zu verstecken, wenn die Sache schief gegangen wäre. Dadurch, dass er sich persönlich um die Pressemeldung kümmerte, was auch damals nicht üblich war, wurde die "Emser Depesche" als "Chefsache" natürlich enorm aufgewertet.

Anlass - aber nicht Ursache - der von Bismarck eiskalt ausgenutzten Spannungen zwischen Frankreich und Preußen war eine Geschichte, die heute wohl nur noch in Boulevardmedien auf Interesse stoßen würde, damals aber für politisch brisant gehalten wurde - jedenfalls von Napoleon III., seiner Regierung und vielen viel Wert auf "nationales Prestige" legenden Franzosen. In Spanien war ein Königsthron zu vergeben, nachdem Königin Isabella II. von einer Militärjunta ins Exil vertrieben wurde. Ein Bewerber um dem vakanten Thron war Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen, ein entfernter Verwandter des preußischen Königs. In Frankreich wertete man die Bewerbung als Affront, schlimmer, als versuchte Einkreisung, denn von Hohenzollern wollte man nicht umgeben sein. Es ist nebenbei schwer verständlich, woher die französische Einkreisungs-Hysterie stammte: Leopolds Kandidatur war nämlich nicht von Preußen angestoßen worden, sondern von dem abgedankten portugiesischen König Ferdinand, dem die spanische Krone zunächst angetragen worden war und der das Angebot unter Hinweis auf seinen Schwiegersohn Leopold abgelehnt hatte.
Wie auch immer: die französische Regierung forderten König Wilhelm I. ultimativ auf, solche Anstrengungen zu unterlassen. Leopold verzichtete darauf dankend auf die Kanditatur.

Die "diplomatische Krise" war damit aber noch nicht zuende, und zwar aus innenpolitischen Gründen: das Ultimatum hatte in der französischen Öffentlichkeit die Erwartung erweckt, der Staat Preußen werde umgehend Frankreich gegenüber Genugtuung leisten. Damit hatte sich die Regierung selbst unter Druck gesetzt und stellte die Forderung, Preußen müsse für alle Zeiten auf den spanischen Thron verzichten.
König Wilhelm war spürbar verärgert, was er Bismarck in einer telegraphischen Depesche aus seinem Kurort Bad Ems mitteilen ließ. Die Depesche enthielt aber auch den Hinweis, er habe dem französischen Gesandten seine Haltung erklärt und wolle erst einmal abwarten, was denn Leopold genau zum spanischen Thron gesagt hätte.
Bismarck gab die Emser Depesche an die Presse, allerdings in stark gekürzter Form. Den Mittelteil ließ Bismarck weg, bei ihm hieß es nun: Der König habe es abgelehnt, den französischen Botschafter zu empfangen, und er habe ihm auch nichts mehr mitzuteilen.

Fünf Tage später erklärte Frankreich den Krieg, der 1871 mit einer französischen Niederlage und der Gründung des Deutschen Reichs endete. Womit übrigens die unmittelbare Ursache für den ersten Weltkrieg und die mittelbare für den 2. schon gelegt war. Das deutsche Kaiserreich wirkt heute noch weitaus stärker in Deutschland nach, als es 12 Jahre Nazideutschland vermocht hätten - wobei eine Figur wie Hitler in einer weniger verkorksten Gesellschaft als der des Deutschen Reiches keine Chance gehabt hätte.

Selbst in Bismarcks Version taugte die "Emser Depesche" vom 12. Juli 1870, nüchtern betrachte, nicht als Kriegsgrund Wortlaut der beiden Fassungen der "Emser Depesche". Allerdings betrachtete Paris sie nicht nüchtern - und Bismark kalkulierte das ein; er hatte ein gutes Ohr für die in Paris herrschende Tonlage. Als Napoleon III. von Bismarks Pressemeldung erfuhr, riskierte er, angestachelt von der seiner hysterischen Gemahlin, und ermuntert von dem das politische Kräfteverhältnis gründlich verkennenden Außenminister Gramond, vom sich selbst überschätzenden Militär und der sich in schrillen Tönen überbietenden Pariser Presse, den Sprung ins Ungewisse.

Es ist das auch heute noch immer wieder auftauchende Problem, dass in einem Machtkampf meistens derjenige gewinnt, der das zutreffendere Bild der Lage hat. Die Politik Napoleons III. baute auf Wunschdenken, dem Wunsch nach Popularität, und vor allem Angst auf. Ein gefundenes Fressen für einen so skrupellosen und intelligenten Machtpolitiker wie Bismarck!

Sonntag, 18. Juli 2010

"Rückkehr der Religion": eine Vermutung und zwei alte Zitate

Die "Rückkehr der Religion" ist, zumindest in Westeuropa, eine leere Behauptung: nach wie wächst der Anteil der Konfessionslosen (was nicht das selbe ist wie "Atheisten"). Anderseits blühen Formen der Spiritualität und Religiosität abseits der "großen Religionen".
Wenn es eine "Renaissance des Glaubens" gibt, dann geht sie an den beiden großen Kirchen fast völlig vorbei. Der reale gesellschaftliche Einfluss der Kirchen schrumpft nach wie vor.

Weshalb gibt es eine regelrechte Medienkampagne, um die Funktion der Großkirchen als "moralische Instanz" zu stärken?
Warum gibt es ständig Versuche, eine "christliche Leitkultur" zu (re-)etablieren?
Wobei es ja nicht irgendein Christentum ist. Es ist ein von protestantischer Ethik, von innerweltlicher Askese, dem Einhalten vom Regeln, Selbstdisziplin und Unterordnung geprägtes Christentum - was sogar für den deutschen Katholizismus gilt, der im Zuge der jesuitischen Gegenreformation viele Elemente prostestantischer Ethik übernahm. "Sinnenfroh und tolerant" ist der der deutsche Katholizismus nur in wenigen Regionen - so wie der deutsche Protestantismus auch nur selten so "aufgeklärt, abgeklärt und nüchtern" ist, wie es das Klischee will. Nach wie vor gefallen sich viele deutsche Christen beider großer Konfessionen (vor allem die mit Macht und Einfluss) gern als Sitten- und Tugendwächter. (Bei gleichzeitiger Doppelmoral.)

Und wieso trägt das System der gegenseitigen Instrumentalisierung von Kirchen und (Partei-)Politik nach wie vor?

Ich vermute: Das ist so, weil unser Staat, so wie er ist, und unser Wirtschaftssystem, so wie es ist, auf einer bestimmten, "sitten-protestantischen", Form der Religion aufbaut, und weil unsere Gesellschaft auch deshalb funktioniert, weil sie nach wie vor "sittenchristlich" geprägt ist.
Eine Aufweichung dieser "christlichen Leitkultur", sei es durch einen wachsenden Anteil an Agnostikern und Atheisten, sei es durch einen wachsenden Anteil an Nichtchristen (vor allem Moslems), sei es durch einen Wertewandel, der "sittenchristliche" Normen in Frage stellt, ist daher eine durchaus reale Bedrohung für den gesellschaftlichen Status Quo.
Wohl deshalb gibt es einen "Kirchenstaat Deutschland", eine unzureichende Trennung zwischen Staat und Kirche (Kirchensteuern sind für eine Demokratie ein schlechter Witz!), und einen überproportional großen Einfluss der Kirchen auf Medien, Schule und Kultur.

Der "klassische Kapitalismus" des Industriezeitalters hätte ohne religiöse Grundlage nicht funktioniert - und umgekehrt wiederum die Religion nicht ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse. Wieso, das erkannte und beschrieb Marx schon 1844:
Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben, oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, ausser der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Societät. Dieser Staat, diese Societät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Compendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d'honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.

Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.

Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.
Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Einleitung), 1844

Auch wenn es unbequem und schrecklich materialistisch ist: Ich denke, Marx hat im Großen und Ganzen recht! Die Kirchen sind so wie sie sind, weil die Gesellschaft so ist, wie sie ist. Das gilt auch für den "spirituellen Supermarkt" - Esoterik-Kritik ist wichtig, aber ohne gesellschaftlichen Strukturwandel, ohne Emanzipation, werden die "Seelenverkäufer" nach wie vor ihren Markt finden.
Heute ist es so, dass ein Zustand aufrecht erhalten werden soll, der, weil die Gesellschaft sich wandelt, möglicherweise in ein paar Jahren nicht mehr bestehen wird.

Es gibt aber eine Lücke bei Marx - folgt man ihm, dann könnte die Religion auch eine reine Inszenierung sein, in der das "dumme Volk" hinters Licht geführt wird - und in der die Drahtzieher entweder lügen oder wenigstens sich selbst belügen. Allerdings ist es m. E. wichtig, im Auge zu behalten, was das "christliche-protestantische" Glauben und Denken auch bei den "Drahtziehern" bewirkt - denn sie sind ja oft tief und aufrichtig gläubig.
Mit dem Bewußtsein, in Gottes voller Gnade zu stehen und von ihm sichtbar gesegnet zu werden, vermochte der bürgerliche Unternehmer, wenn er sich innerhalb der Schranken formaler Korrektheit hielt, sein sittlicher Wandel untadelig und der Gebrauch, den er von seinem Reichtum machte, kein anstößiger war, seinen Erwerbsinteressen zu folgen und sollte dies tun. Die Macht der religiösen Askese stellt ihm überdies nüchterne, gewissenhafte, ungemein arbeitsfähige und an der Arbeit als gottgewolltem Lebenszweck klebende Arbeiter zur Verfügung.
Max Weber: Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus, 1904

Leicht überspitzt: was haben der Niedriglohnsektor, die Selbstgerechtigkeit gegen Langzeitarbeitslose und das gute Gewissen der Besserverdienenden gemeinsam? Ohne asketischen Protestantismus gäbe es das nicht!

Mittwoch, 14. Juli 2010

Von was der "Homöophathie-Glaubenskrieg" ablenkt

In diesem Beitrag geht es nicht um die Wirksamkeit / Unwirksamkeit der Homöophatie. Wer sich für meine Position in dieser Frage interessiert: Homöopathie und Immunisierung (gegen Kritik)

Der Schockwellenreiter (Sündenbock Homöopathie) ist der Ansicht, dass die öffentliche Debatte über Homöopathie und deren Bezahlung (bzw. der Bezahlung der vorangehenden Arztgespräche) seitens der Krankenkassen ein Ablenkungsmanöver ist.

Sven Scholz bemerkt den "religösen" Charakter der Debatte und stellt heraus, dass das Ablenkungsmännover im Prinzip plump und völlig durchsichtig ist - und dennoch funktioniert. Denn beim Schockwellenreiter waren die ersten Kommentare auf den Hinweis, dass da ein Ablenkungsmanöver gestartet wurde, solche, die genau dieses "wer hat die alleinige Wahrheit"-Spiel mitmachen.

Es ist deprimierend wie einfach es ist selbst intelligente Menschen in einen "Glaubensstreit" zu manipulieren, wenn man ein eine im "Abendland" seit der Spätantike tief verankerte Denkstruktur appelliert: die Auffassung, es gäbe "die" allgemeingültigen Wahrheit, die stets nur "entweder - oder" kennt. In diesem Sinne kann man statt eines Ablenkungsmanövers auch von einer Stellvertreterdebatte reden - wie bei der spätmittelalterlichen theologischen Frage, ob Jesus Eigentum hatte oder nicht, bei der es in Wirklichkeit natürlich darum ging ob die Kirche berechtigt sei Reichtümer anzuhäufen.

Damit stellt sich die Frage: Welchen Zweck hat dieses Ablenkungsmännover bzw. diese Stellvertreterdebatte?

Die naheliegend Annahme wäre, dass sie vom Desaster der "Gesundheitsreform" ablenken soll. Nicht aufgrund eines finsteren, im Hinterzimmern ausgeklüngelten Geheimplanes, wie es sich die Fans von Weltverschwörungstheorien gerne ausmalen.
Nein, hier liefert eines Erachtens eine ganz einfache Pressekampagne interessierten Gesundheitspolitikern und -Funktionären eine Steilvorlage. Um bei der Fußball-Metapher zu bleiben: was die "Angespielten" daraus machen, ob und wie sie "das Ding 'reinmachen", das bleibt ihnen überlassen.

Um das Ablenkungsmannöver besser zu durchschauen, helfen einige Homöopathie-Fakten, die strapatto zusammengestellt hat.
Das Wichtigste steht gleich am Anfang:
2008 hatten 15.000 Patienten der Techniker Krankenkasse sich für eine homöopatische Behandlung auf Kosten der Kasse entschieden. Bei angenommenen 90 Euro für die Erstanamnese, einer langen Folgeanamese für 45 Euro einer kurzen Folgeanamnese für 22,50 Euro und Repertorisation für 20 Euro wären das geschätzte Ausgaben von 2,6 Millionen Euro - bei Leistungsausgaben von 11,1 Milliarden Euro, davon 2,3 Milliarden an niedergelassene Ärzte. Damit machten homöopathische Leistungen 1,1 Promille der Honorare an niedergelassene Ärzte aus.
Das illustriert die "Größenordnung", um die es geht. Für die Kosten des Gesundheitssystems ist die Homöophatie von sehr geringer Bedeutung. (Wobei die ausführliche Anamnese des homöopathisch tätigen Arztes gar nicht so selten einer konventionellen Behandlung zu Gute kommt.)
Auch strapatto stellt in seinem Beitrag Homöopathie-Gedanken fest, dass die Diskussion um die Homöopathie eine Stellvertreterdebatte ist. Er stellt fest:
Im Grunde geht es um die Frage, was die gesetzliche Krankenversicherung angesichts der von den Medien dramatisierten Lage in Zukunft bezahlen soll.
Es liegt der Verdacht nahe, dass die Homöopathie ein Versuchballon für andere "umstrittene Verfahren" von Physiotherapie bis Psychoanalyse sein könnte, die dann gestrichen werden können. Oder dass "selbstverschuldete Erkrankungen" künftig gesondert versichert werden könnten. (Da könnte man z. B. bei Bedarf sowohl dem Bewegungsmuffel wie dem aktiven Sportler eine Risikoprämie aufdrücken: dem einen, weil Bewegungsmangel Risikofaktor für viele Krankheiten ist, dem Anderen wegen des gesteigerten Verletzungsrisikos.) Er hat recht, das ist ein Fass ohne Boden, und am Ende kann die Solidargemeinschaft mit den Bach runter gehen.

Bleibt die Frage, wieso gerade Karl Lauterbach (SPD) das Thema Homöopathie aufgriff.
Ein Blick in die Wikipedia verrät:
Die wichtigsten von Lauterbach vertretenen Thesen zur Gesundheitspolitik sind:
  • Einführung einer Bürgerversicherung im Gesundheitswesen.
  • Bekämpfung von Tendenzen in Richtung einer Zwei-Klassen-Medizin.
  • Ausrichtung der medizinischen Versorgung an Evidenz und Kosten-Effektivität.
  • Berücksichtigung von distributiven Ergebnissen neben den allokativen Ergebnissen von Gesundheitsprogrammen.
In Vielem ist das das genaue Gegenteil vom dem, was die schwarzgelbe Regierung gerade betreibt. So wie die typische an Machtfragen orientierte "Unpolitik" gerade in der Dauerbaustelle Gesundheitswesen abläuft, wäre es für einen Oppositionspolitiker doch eher ratsam, keine "konstruktiven Vorschläge" zu machen, die womöglich von der Regierung freudig umgesetzt werden - und ihr damit zu helfen, ansonsten weiterhin eine Politik zu betreiben, die er ablehnt. Es könnte natürlich sein, dass Lauterbach tatsächlich an Sachfragen interessiert ist - immerhin ist er ja Fachpolitiker, da kommt so was schon mal vor. Trotzdem ist es interessant zu wissen, aus welchem "Stall" er kommt, und welche möglichen Eingeninteressen er hat.

Und er hat welche:
Lauterbach ist Mitglied des Aufsichtsrats der privaten Krankenhauskette Rhön-Klinikum AG. Da er sich im Rahmen der Gesundheitsreform für die ebenfalls von der SPD befürwortete Neuausrichtung der Zulassung von Leistungsanbietern zur ambulanten Behandlung einsetzt, können gemäß diesen Vorstellungen auch Krankenhäuser möglicherweise stärker an der ambulanten Versorgung teilnehmen.
Es gehört nicht viel Phantasie dazu, wo jemand mit dieser Interessenlage wahrscheinlich am Liebsten den Rotstift ansetzt: bei den niedergelassenen Ärzten. Die Homöopathie bietet sich als Einstieg für Leistungskürzungen geradezu an.

Ich hätte dieses Video nicht für möglich gehalten

Ich muss gestehen: als die Singvøgel ankündigten, dass sie am Wettbewerb für den Titelsong des von Michael Jäger initierten Grassroot-Filmprojektes "Krimi 2.0" teilnehmen, war ich sehr skeptisch.
Die "Singvøgel" haben bereits bewiesen, dass sie auch unter Zeitdruck gute Songs schreiben und produzieren können - in dieser Hinsicht hatte ich keine Zweifel. Aber die Bewerbung sollte in Form einer Demo in Form eines Videos erfolgen. Ich wusste: die Zeit war extrem knapp, schließlich haben die Bandmitglieder noch "Normalberufe". Sie würde noch knapper sein, denn die "Singvøgel" hatten am 4. Juli einen Auftritt auf dem Iserlohner Friedensfestival - eine zeitaufwendige Sache, da die "Vøgel" einen langen Anfahrtsweg hatten. Vor allem: eine halbwegs professionelle Videoproduktion kostet normalerweise ein Heidengeld. Das die "Singvøgel" nicht haben.
Da ich nicht unken wollte, behielt ich meine Bedenken für mich.

Es kam aber anders. Wie es kam, hat Sven, der Drummer der Band, auf dem Blog der "Singvøgel" beschrieben (es ist kaum zu glauben):
Held des Augenblicks - Ein Bewerbungsvideo für Krimi 2.0.
Karan schrieb auf ihrem Blog aus ihrer Sicht über diese schier unglaubliche Geschichte: Held des Augenblicks.

Und das Ergebnis - seht selbst und staunt:


Ich gratuliere allen Beteiligen zu ihrer hervorragenden Arbeit!

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