Montag, 12. Mai 2008

Warum gab es in der Weimarer Zeit so viele jüdische Intellektuelle?

Vor Kurzem las ich einen interessanten Artikel auf "hagalil":
Das Jahr 1933: Vertreibung und Emigration in der Physik.
Dabei wurde mir wieder einmal bewusst, wie viele der hervorragenden Physiker in Deutschland um 1933 Juden oder jüdischer Abstammung waren. Albert Einstein, James Franck, Hans Bethe, Otto Stern, Lise Meitner, Max Born, Peter Paul Ewald, um nur ein paar "große" Namen zu nennen.

Die Physik ist, denke ich, ein hervorragendes Beispiel dafür, dass "jüdische Intellektuelle" außerhalb der traditionell als "typisch jüdisch" wahrgenommenen Gebiete brillierten. Bei berühmten Ärzten z. B. könnte ich die jüdischen Arztfamilien, also eine Tradition, heranziehen. Bei berühmten Journalisten und Schriftstellern liegt hingegen das "Außenseiterphänomen" nahe - der Blick eines ewig Ausgegrenzten und Diskriminierten auf Gesellschaft und Politik wird wahrscheinlich schärfer und treffsicherer sein, als der eines Menschen, der Vorurteile und unsichtbare Barrieren nicht aus eigener Erfahrung kennt.

Eine neuerdings wieder populär gewordene Hypothese geht davon aus, dass die Beschäftigung mit der hebräischen Sprache das abstrakte Denkvermögen fördert. Hinzu käme noch die intensive Auseinandersetzung mit einer "Gesetzesreligion" mit "hochabstraktem Gottesbegriff". Mag sein - aber von den oben genannten Physikern, wie auch von zahlreichen von den Nazis als "jüdisch" verfolgten Wissenschaftlern anderer Gebiete kam meines Wissen kaum einer aus einer "frommen" jüdischen Familie. Die "Glaubensjuden" unter ihnen waren gut assimiliert, sehr viele waren nur dann "Juden" oder "jüdischer Abstammung", wenn man die Maßstäbe der Nazis anlegt.
Der Kreis der "Nichtarier" umfasste nämlich auch Personen, die weder von ihrer Konfession noch von ihrem Selbstverständnis her eine Verbindung zum Judentum hatten, und deshalb auch von ihrer Umwelt bis dahin gar nicht mit "Judentum" in Verbindung gebracht wurden.

Liegt die Erklärung möglicherweise doch im "Erbgut"?
Es gibt da eine ziemlich windigen “Studie” aus den USA, aus der laut ihrer Autoren hervorginge, dass amerikanische Juden im Schnitt einen um 20 % höheren IQ als der Durchschnitt der US-Bürger hätten.
Von welchem Kaliber diese "Studie" allerdings ist, wird spätestens dann klar, wenn dort behauptet wird, die Schwarzen lägen im Schnitt 20 % unter dem US-Intelligenzdurchschnitt.
Diese “Studie” stammt aus dem “neurechten” Dunstkreis, und wurde erst neulich, am Rande der Nazikundgebung am 1. Mai in Hamburg Barmbek, vom Neonazi, selbsternannten Eugeniker und Hamburger NPD-Chef Jürgen Rieger zustimmend zitiert: Der Jürgen von der NPD (Die Zeit online).

Ich sehe die Ursache dafür, dass es augenscheinlich so viele brillante jüdische Intellektuelle in Deutschland gab, weniger bei den Juden als in der deutschen Gesellschaft, vor allem der deutschen Gesellschaft im Kaiserreich.

Im Großen und Ganzen galten die "aufgeklärten" Juden Deutschland als "Intellektuellenfreundlich" - Kinder dieser jüdischen Familien, die viel lernten, viel wussten und gern mit dem Kopf arbeiteten, konnte mit den Wohlwollen der Eltern rechnen. Das war in manchen deutschen Milieus anders. (Ich schreibe hier ausdrücklich nicht über Proletarier, die kaum einen Zugang zur höheren Bildung hatten, sondern über mindestens kleinbürgerliche Kreise.) Eine milde Form der "deutschen Intellektuellenfeindlichkeit" war (und ist) der Spruch: "Lerne lieber einen anständigen Beruf" - womit offensichtlich Berufe wie Journalist, Schriftsteller, bildender Künstler, Musiker, aber auch die "abstrakten" Wissenschaften und sogar der Bankiersberuf als "unanständige" Berufe zu gelten hätten. Ungeschriebenes Motto: "Handwerk hat goldenen Boden - und wer handwerklich ungeschickt ist, wird im Idealfall Beamter". Wenn schon ein akademischer Beruf, dann "etwas solides": Arzt, Ingenieur, Pfarrer.

Nun war es so, dass ausgerechnet eine soziale Klasse, die zu "Kaisers Zeiten" zur Herrschaftselite gehörte, in einem kaum glaublichen Maßen anti-intellektuell war: der "Millitär-Adel", die "Offiziersfamilien". Der Wissenschaftsjournalist Hoimar von Ditfurth schrieb in seinem autobiographischen Buch "Innenansichten eines Artgenossen":
(...) Mein Vater war, mit anderen Worten, Sproß einer "Offiziersfamilie" worauf man sich selbst noch in der Weimarer Zeit nicht wenig zugute hielt und wie es für die meisten Adelsfamilien (zumindest in Norddeutschland) galt. Eine andere Berufswahl kam vor dem Hintergrund einer solchen Tradition gar nicht in Betracht. Genauer: Eine Wahl gab es in Wirklichkeit gar nicht. (...)
Wer aus einer "Offiziersfamilie" stammte, der hatte keine Chance, seine Talente und geistigen Anlagen zu entwickeln, weil er von frühester Jugend an einem Umfeld ausgesetzt war, das intellektuellen Neigungen keine Spielräume ließ.
Damit herrschten bei einer der "staatstragenden Eliten" des Kaisereichs ähnliche Zustände wie im "bildungsfernen" Proletariat - Begabungen unterhalb der Genialitätsschwelle hatten keine Chance. Keine Erfindung böswilliger Satiriker war die geradezu groteske Intellektuellenfeindlichkeit in diesen Kreisen:
Wer von seinen Offizierkameraden beim Kauf oder gar der Lektüre anspruchsvoller Literatur oder bei anderen Regungen geistiger Interessen ertappt wurde, setzte sich unweigerlich dem allgemeinen Spott aus. Die Reaktion erfolgte so unfehlbar, daß der Verdacht naheliegt, hier habe man durch ironische Abwehr instinktiv der Wahrnehmung eines Verzichts vorbeugen wollen, die eine schmerzliche Stelle getroffen hätte. Böse gesagt und in aller Deutlichkeit: Bordellbesuche oder Spielschulden, selbst Alkoholismus (in der kaiserlichen Armee wenig verbreitet) oder notorische "Weibergeschichten" (einzige Einschränkung: "Bitte nicht mit den Damen von eigenen Regiment!") wurden in diesem Milieu eher toleriert als Ansätze zu geistigen Interessen. Mein Vater hat mir später, sehr viel später, aus eigener Erfahrung bestätigt, daß dieses Bild nicht überzeichnet ist.(...)"
Besonders verheerend wirkte die geistige Armut des preussisch-deutschen Militäradels, weil nicht nur die hohen Offiziere des im Kaiserreich so "wichtigen" Militärs, sondern praktisch das gesamte diplomatische Corps und viele hochrangige Beamte aus diesem sehr "vonnigen" Milieu stammten. Wer als Adeliger z. B. für das auswärtige Amt arbeitete hatte sicher den "aktiven" Berufsoffizieren seines Standes Fremdsprachenkenntnisse und wahrscheinlich auch Gewandheit im gesellschaftlichem Auftritt voraus - war, wie eine Reihe abenteuerlich anmutender diplomatischer Pannen und aus purer Ignoranz geborener "Zwischenfälle" aus der Kaiserzeit belegen, nicht unbedingt gebildeter oder besser darin geschult, den eigenen Standpunkt kritisch zu hinterfragen. Das Klischee vom ebenso arroganten wie engstirnigen "Kraut", "Boche" oder "Moff" wurde schon zu dieser Zeit, und nicht etwa erst durch die Kriegspropaganda des 1. Weltkriegs, geprägt.

Zurück zum Thema: Ein großer Teil der "gesellschaftlichen Elite" Deutschland im 1. Drittel des 20. Jahrhunderts - und noch mehr, die sich an dieser "Elite" orientierten - schied damit "freiwillig" aus dem Wettbewerb um "intellektuelle Brillanz" aus. Eine mindestens ebenso wichtige - und zunehmend wichtiger werdende "Elite" war das Besitzbürgertum. Nur bestand dieses Besitzbürgertum im kaiserlichen Deutschland zum überwiegenden Teil aus "Neureichen", bei denen "brotlose Kunst" als Beruf nachweislich auch nicht sonderlich angesehen war. Das Bildungsbürgertum Deutschlands war hingegen ungewöhnlich konservativ - nicht nur hinsichtlich der politischen Ausrichtung, sondern auch hinsichtlich der akzeptierten Lehrmeinungen - man orientierte sich als "deutscher Gelehrter" lieber nach "anerkannten Autoritäten", als zu neuen Ufern aufzubrechen - jedenfalls dann, wenn man Wert auf eine akademische Karriere legte. Mit den revolutionären Neuerungen - egal, ob in der Quantenphysik, in der modernen Kunst, in der Psychoanalyse - gaben sich vorwiegend "Aussenseiter" und "Quereinsteiger" ab. Nach Lage der Dinge waren darunter überdurchschnittlich viele Juden oder Menschen jüdischer Abstammung.

Überspitzt kann man sagen: es gab in der Weimarer Republik deshalb so viele jüdische Intellektuelle, weil es so wenige "arische" Intellektuelle gab. Was im Endeffekt bedeutete, dass, nachdem die deutschen Juden vertrieben oder ermordet waren, Deutschland unter akutem Mangel an "beweglichem Geist" litt. (Abgesehen davon, dass im "Dritten Reich" sozusagen auf selbständiges Denken die Todesstrafe stand. Ein Klima, unter dem intellektueller Nachwuchs, auch der mit "Ariernachweis", einfach nicht gedeiht.) Das "dumpfe" gesellschaftliche Klima, das Nachkriegsdeutschland bis in die 60er Jahre prägte (und zwar in beiden Teilen Deutschlands), hängt meines Erachtens auch mit diesem akuten Mangel an brillanten Intellektuellen zusammen.

Macht's gut - und Danke für den Fisch!

Ich mache endlich Nägel mit Köpfen und mache nicht länger beim "B.L.O.G." mit. Nachdem in schon seit Dezember keinen Beitrag mehr dort veröffentlicht habe, war dieser Schritt, denke ich, überfällig.

Einer der Gründe dafür, dass ich dort auch vorher nur selten schrieb, ist der, dass mir, unter den Beiträgen, die mir “bloggenswert” erscheinen, ziemlich wenige sind, die auch für B.L.O.G. und - vielleicht noch wichtiger - zum B.L.O.G. passen. Das B.L.O.G. hat zwar keine "Parteilinie", aber sehr wohl ein Profil und wird auf eine bestimmte Art und Weise von außen wahrgenommen. Es ist diese "Außensicht", die mir das Gefühl gibt, beim B.L.O.G. fehl am Platze zu sein.

Das B.L.O.G. besteht ja nicht nur aus den Autoren, die mir persönlich nach wie vor sympathisch sind, sondern auch aus dem dort mitlesenden Publikum. Einer der Gründe, weshalb ich mich seinerzeit entschied, bei den B.L.O.G. mitzumachen, war die geringe Resonanz , die ich auf meine Beiträge hier auf meinem kleine Senfblog bekommen. Nun ja - es gibt Formen der Resonanz, die mir den Kaffee hochkommen lassen.
Ich wähle mal ein Beispiel, dass nicht das B.L.O.G. direkt, aber sehr wohl die Mechanismen in der "liberalen Bloggosphäre" betrifft:
Statler schrieb beim "Antibürokratieteam" einen sehr lesenswerten Beitrag über rechtsextreme Gewalt in Deutschland: Die Befindlichkeit des Landes. Statler diskutiert die 136 von gewaltätigen Rechtsextremisten getöteten Menschen - und in den Kommentaren wurde mal wieder eine eine Diskussion über "Migranten-Gewalt" und die Gewalt "von Links" daraus. Und das ist leider kein Einzelfall; ich habe ähnliches auch schon bei Beiträgen auf dem "B.L.O.G", auch bei meinen Beiträgen, erlebt.

Es ist offensichtlich gar nicht mehr möglich, in “liberalen” Blogs den politischen Dumpfbacken zu entgehen und den Blick dahin zu lenken, wo die wirklichen Probleme, aus der Sicht eines "Bürgerrechts"-orientierten Menschen, sind. Egal, wie differenziert man in so einem Blog schreibt - angesichts der Kommentare wird einem klar, dass die “Leserschaft” offensichtlich ihre liebgewonnenen Klischees bedient haben will: Kapitalismus wird - zu Unrecht! - mit Marktwirtschaft gleichgesetzt, und Marktwirtschaft - in verkürzter Weise - mit Demokratie und persönlicher Freiheit. Was bleibt, ist ein dumpfer "Pro-Kapitalismus", der mich beinahe so annervt, wie der dumpfe Antikapitalismus von "linker" wie von "völkischer" Seite.
Der Impuls, keine Perlen vor die Säue zu werfen, mag arrogant sein; aber die Säue mit ihren immer gleichen Klischees können einem schon den Spaß am Bloggen nehmen.

Das ist zwar nicht der einzige Grund, aber einer der Gründe, weshalb ich nicht mehr beim B.L.O.G. schreibe. Ein anderer Grund ist der, dass ich nicht wüsste, wie ich mich im B.L.O.G. von Beiträgen wie dem zu den “bulgarischen Arbeitern” distanzieren könnte, auch wenn boche, wie ich ihn einschätze, da absichtlich dick aufgetragen hatte - und ich, weil ich mich nicht wirksam distanzieren kann, von der werten Leserschaft in eine Schublade gepresst werde, in die ich beim besten Willen nicht passe.

Es gibt noch einige weitere Gründe, die vermutlich niemanden interessieren. Und ein paar, die sicherlich den einen oder anderen interessieren würden, über die ich es aber vorziehe, zu schweigen.

Wie auch immer: Macht's gut - und Danke für den Fisch!

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