Warum gab es in der Weimarer Zeit so viele jüdische Intellektuelle?

Vor Kurzem las ich einen interessanten Artikel auf "hagalil":
Das Jahr 1933: Vertreibung und Emigration in der Physik.
Dabei wurde mir wieder einmal bewusst, wie viele der hervorragenden Physiker in Deutschland um 1933 Juden oder jüdischer Abstammung waren. Albert Einstein, James Franck, Hans Bethe, Otto Stern, Lise Meitner, Max Born, Peter Paul Ewald, um nur ein paar "große" Namen zu nennen.

Die Physik ist, denke ich, ein hervorragendes Beispiel dafür, dass "jüdische Intellektuelle" außerhalb der traditionell als "typisch jüdisch" wahrgenommenen Gebiete brillierten. Bei berühmten Ärzten z. B. könnte ich die jüdischen Arztfamilien, also eine Tradition, heranziehen. Bei berühmten Journalisten und Schriftstellern liegt hingegen das "Außenseiterphänomen" nahe - der Blick eines ewig Ausgegrenzten und Diskriminierten auf Gesellschaft und Politik wird wahrscheinlich schärfer und treffsicherer sein, als der eines Menschen, der Vorurteile und unsichtbare Barrieren nicht aus eigener Erfahrung kennt.

Eine neuerdings wieder populär gewordene Hypothese geht davon aus, dass die Beschäftigung mit der hebräischen Sprache das abstrakte Denkvermögen fördert. Hinzu käme noch die intensive Auseinandersetzung mit einer "Gesetzesreligion" mit "hochabstraktem Gottesbegriff". Mag sein - aber von den oben genannten Physikern, wie auch von zahlreichen von den Nazis als "jüdisch" verfolgten Wissenschaftlern anderer Gebiete kam meines Wissen kaum einer aus einer "frommen" jüdischen Familie. Die "Glaubensjuden" unter ihnen waren gut assimiliert, sehr viele waren nur dann "Juden" oder "jüdischer Abstammung", wenn man die Maßstäbe der Nazis anlegt.
Der Kreis der "Nichtarier" umfasste nämlich auch Personen, die weder von ihrer Konfession noch von ihrem Selbstverständnis her eine Verbindung zum Judentum hatten, und deshalb auch von ihrer Umwelt bis dahin gar nicht mit "Judentum" in Verbindung gebracht wurden.

Liegt die Erklärung möglicherweise doch im "Erbgut"?
Es gibt da eine ziemlich windigen “Studie” aus den USA, aus der laut ihrer Autoren hervorginge, dass amerikanische Juden im Schnitt einen um 20 % höheren IQ als der Durchschnitt der US-Bürger hätten.
Von welchem Kaliber diese "Studie" allerdings ist, wird spätestens dann klar, wenn dort behauptet wird, die Schwarzen lägen im Schnitt 20 % unter dem US-Intelligenzdurchschnitt.
Diese “Studie” stammt aus dem “neurechten” Dunstkreis, und wurde erst neulich, am Rande der Nazikundgebung am 1. Mai in Hamburg Barmbek, vom Neonazi, selbsternannten Eugeniker und Hamburger NPD-Chef Jürgen Rieger zustimmend zitiert: Der Jürgen von der NPD (Die Zeit online).

Ich sehe die Ursache dafür, dass es augenscheinlich so viele brillante jüdische Intellektuelle in Deutschland gab, weniger bei den Juden als in der deutschen Gesellschaft, vor allem der deutschen Gesellschaft im Kaiserreich.

Im Großen und Ganzen galten die "aufgeklärten" Juden Deutschland als "Intellektuellenfreundlich" - Kinder dieser jüdischen Familien, die viel lernten, viel wussten und gern mit dem Kopf arbeiteten, konnte mit den Wohlwollen der Eltern rechnen. Das war in manchen deutschen Milieus anders. (Ich schreibe hier ausdrücklich nicht über Proletarier, die kaum einen Zugang zur höheren Bildung hatten, sondern über mindestens kleinbürgerliche Kreise.) Eine milde Form der "deutschen Intellektuellenfeindlichkeit" war (und ist) der Spruch: "Lerne lieber einen anständigen Beruf" - womit offensichtlich Berufe wie Journalist, Schriftsteller, bildender Künstler, Musiker, aber auch die "abstrakten" Wissenschaften und sogar der Bankiersberuf als "unanständige" Berufe zu gelten hätten. Ungeschriebenes Motto: "Handwerk hat goldenen Boden - und wer handwerklich ungeschickt ist, wird im Idealfall Beamter". Wenn schon ein akademischer Beruf, dann "etwas solides": Arzt, Ingenieur, Pfarrer.

Nun war es so, dass ausgerechnet eine soziale Klasse, die zu "Kaisers Zeiten" zur Herrschaftselite gehörte, in einem kaum glaublichen Maßen anti-intellektuell war: der "Millitär-Adel", die "Offiziersfamilien". Der Wissenschaftsjournalist Hoimar von Ditfurth schrieb in seinem autobiographischen Buch "Innenansichten eines Artgenossen":
(...) Mein Vater war, mit anderen Worten, Sproß einer "Offiziersfamilie" worauf man sich selbst noch in der Weimarer Zeit nicht wenig zugute hielt und wie es für die meisten Adelsfamilien (zumindest in Norddeutschland) galt. Eine andere Berufswahl kam vor dem Hintergrund einer solchen Tradition gar nicht in Betracht. Genauer: Eine Wahl gab es in Wirklichkeit gar nicht. (...)
Wer aus einer "Offiziersfamilie" stammte, der hatte keine Chance, seine Talente und geistigen Anlagen zu entwickeln, weil er von frühester Jugend an einem Umfeld ausgesetzt war, das intellektuellen Neigungen keine Spielräume ließ.
Damit herrschten bei einer der "staatstragenden Eliten" des Kaisereichs ähnliche Zustände wie im "bildungsfernen" Proletariat - Begabungen unterhalb der Genialitätsschwelle hatten keine Chance. Keine Erfindung böswilliger Satiriker war die geradezu groteske Intellektuellenfeindlichkeit in diesen Kreisen:
Wer von seinen Offizierkameraden beim Kauf oder gar der Lektüre anspruchsvoller Literatur oder bei anderen Regungen geistiger Interessen ertappt wurde, setzte sich unweigerlich dem allgemeinen Spott aus. Die Reaktion erfolgte so unfehlbar, daß der Verdacht naheliegt, hier habe man durch ironische Abwehr instinktiv der Wahrnehmung eines Verzichts vorbeugen wollen, die eine schmerzliche Stelle getroffen hätte. Böse gesagt und in aller Deutlichkeit: Bordellbesuche oder Spielschulden, selbst Alkoholismus (in der kaiserlichen Armee wenig verbreitet) oder notorische "Weibergeschichten" (einzige Einschränkung: "Bitte nicht mit den Damen von eigenen Regiment!") wurden in diesem Milieu eher toleriert als Ansätze zu geistigen Interessen. Mein Vater hat mir später, sehr viel später, aus eigener Erfahrung bestätigt, daß dieses Bild nicht überzeichnet ist.(...)"
Besonders verheerend wirkte die geistige Armut des preussisch-deutschen Militäradels, weil nicht nur die hohen Offiziere des im Kaiserreich so "wichtigen" Militärs, sondern praktisch das gesamte diplomatische Corps und viele hochrangige Beamte aus diesem sehr "vonnigen" Milieu stammten. Wer als Adeliger z. B. für das auswärtige Amt arbeitete hatte sicher den "aktiven" Berufsoffizieren seines Standes Fremdsprachenkenntnisse und wahrscheinlich auch Gewandheit im gesellschaftlichem Auftritt voraus - war, wie eine Reihe abenteuerlich anmutender diplomatischer Pannen und aus purer Ignoranz geborener "Zwischenfälle" aus der Kaiserzeit belegen, nicht unbedingt gebildeter oder besser darin geschult, den eigenen Standpunkt kritisch zu hinterfragen. Das Klischee vom ebenso arroganten wie engstirnigen "Kraut", "Boche" oder "Moff" wurde schon zu dieser Zeit, und nicht etwa erst durch die Kriegspropaganda des 1. Weltkriegs, geprägt.

Zurück zum Thema: Ein großer Teil der "gesellschaftlichen Elite" Deutschland im 1. Drittel des 20. Jahrhunderts - und noch mehr, die sich an dieser "Elite" orientierten - schied damit "freiwillig" aus dem Wettbewerb um "intellektuelle Brillanz" aus. Eine mindestens ebenso wichtige - und zunehmend wichtiger werdende "Elite" war das Besitzbürgertum. Nur bestand dieses Besitzbürgertum im kaiserlichen Deutschland zum überwiegenden Teil aus "Neureichen", bei denen "brotlose Kunst" als Beruf nachweislich auch nicht sonderlich angesehen war. Das Bildungsbürgertum Deutschlands war hingegen ungewöhnlich konservativ - nicht nur hinsichtlich der politischen Ausrichtung, sondern auch hinsichtlich der akzeptierten Lehrmeinungen - man orientierte sich als "deutscher Gelehrter" lieber nach "anerkannten Autoritäten", als zu neuen Ufern aufzubrechen - jedenfalls dann, wenn man Wert auf eine akademische Karriere legte. Mit den revolutionären Neuerungen - egal, ob in der Quantenphysik, in der modernen Kunst, in der Psychoanalyse - gaben sich vorwiegend "Aussenseiter" und "Quereinsteiger" ab. Nach Lage der Dinge waren darunter überdurchschnittlich viele Juden oder Menschen jüdischer Abstammung.

Überspitzt kann man sagen: es gab in der Weimarer Republik deshalb so viele jüdische Intellektuelle, weil es so wenige "arische" Intellektuelle gab. Was im Endeffekt bedeutete, dass, nachdem die deutschen Juden vertrieben oder ermordet waren, Deutschland unter akutem Mangel an "beweglichem Geist" litt. (Abgesehen davon, dass im "Dritten Reich" sozusagen auf selbständiges Denken die Todesstrafe stand. Ein Klima, unter dem intellektueller Nachwuchs, auch der mit "Ariernachweis", einfach nicht gedeiht.) Das "dumpfe" gesellschaftliche Klima, das Nachkriegsdeutschland bis in die 60er Jahre prägte (und zwar in beiden Teilen Deutschlands), hängt meines Erachtens auch mit diesem akuten Mangel an brillanten Intellektuellen zusammen.
Gomez Davila (Gast) - 13. Mai, 15:53

Völlig überzeugend und hochinteressant. Das Thema hat mich auch schon beschäftigt, aber auf die Idee, die Frage einmal umzudrehen, also zu fragen, wieso es im Verhältnis in der Weimarer Zeit so wenig deutsche Intellektuelle gab, bin ich nicht gekommen.
Zumal es ja nach wie vor eine stark ausgeprägte Intellektuellenfeindlichkeit in Deutschland gibt. Dabei denke ich weniger an den von den seltsamen liberalen Blüten Roland Baader und H.-H. Hoppe gepredigten Hass auf Intellektuelle. Echtes geistiges Interesse, ein Interesse also, welches zuerst auf die Sache und nicht auf die unmittelbare Verwertbarkeit geht, ist selten geworden. Nicht ohne Grund erleben wir seit Jahrzehnten Deutschland nicht gerade in geistiger Hochform.

MMarheinecke - 13. Mai, 17:00

Danke für das Lob! Nur ein Kleinigkeit: fast alle "jüdischen" Intellektuellen im Deutschland vor ´33 waren "deutsche" Intellektuelle. Der Gegensatz zwischen "Jude sein" und "deutsch sein" wurde von den "völkischen" Antisemiten um 1900 erstmals konstruiert und erst von den Nazis etabliert.
MMarheinecke - 13. Mai, 17:45

Zur "liberalen" Intellektuellerfeindlichkeit

Ich kenne Baader nur "indirekt", aus libertären und liberalen Websites, und was Hoppe so schreibt, nur gerüchteweise.

Wenn Baade auf Hayek (und vielleicht auch auf Popper) aufbaut, dann wird er wahrscheinlich deren Beobachtung übernommen haben, dass Philosophen, soweit sie sich mit Politik beschäftigen, seit Platon von der Idee des "idealen Staates" fasziniert sind - was sich leider nicht auf literarische Utopien beschränkt, sondern oft utopisches Denken (im Sinne Poppers) und einen durchaus praktischen Hang zu kollektivistischen Gesellschaftsbildern nach sich zieht.
Tatsächlich waren die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts zunächst (mehr oder weniger) Kopfgeburten von Intellektuellen. (Im Falle des Nationalsozialismus eher "weniger", die Nazis waren fast alle "Aktionsideologen", die wenig Wert auf einen tragfähigen "intellektuellen Unterbau" ihrer "Theorien" legten.)
So weit, so gut. Ich unterstelle ihm nun einmal die unter populärwissenschaftlichen Sachbuchautoren leider sehr verbreitete Tendenz zur verfälschenden Vereinfachung nebst einem Hang dazu, zu Verallgemeinern. ("Unterstelle", weil ich von seinen Büchern nur die Kurzvorstellungen auf "Amazon" kenne.)
Also: Politische Philosophen haben einen Hang zu kollektivistischen Utopien. (Womit sehr vielen Philosophen unrecht getan wird - oder war Popper etwa kein Philosoph?)

Im nächsten Schritt wird der Wohlfahrtsstaat, in Anlehnung und gröblicher Vergröberung von Hayeks "Weg in die Knechtschaft" zum "Totalitarismus light" erklärt. Da die Idee des Wohlfahrtsstaates lange Zeit auch nur eine "Kopfgeburt" war (übrigens die Idee überwiegend liberaler Denker), schließt sich der Kreis zum logischen Kurzschluss: Ohne diese verdammten weltfremden Intellektuellen und ihre Nachbeter in den Hochschulen, Schulen und Medien hätten wir längst den maximal freien Minimalstaat!

Wie geschrieben, das ist nur eine Mutmaßung, wie Baader denken könnte. Aber ich kenne zahlreiche Beiträge auf (angeblich) liberalen und libertären Blogs und Foren, deren Schreiber genau so denken, wie ich das hier karrikiere.
Gomez Davila (Gast) - 13. Mai, 17:24

"Der Gegensatz zwischen "Jude sein" und "deutsch sein" wurde von den "völkischen" Antisemiten um 1900 erstmals konstruiert und erst von den Nazis etabliert."

Wenn ich mich recht entsinne, wurde Freud durch den Antisemitismus erst auf sein Judentum wirklich aufmerksam. Das wäre eine weitere interessante Frage, inwieweit der Antisemitismus eine Rückbesinnung vieler deutscher Juden, die sich ja in der Kaiserzeit überpatriotisch gerierten, auf ihr Judentum mitverursacht hat. Dieser Mechanismus betrifft ja nicht nur das Judentum; wo einer Minderheit die Identifikation mit der Mehrheit verwehrt wird, werden ja immer Gruppenidentitäten verstärkt. Ich denke da an die Black-Power-Bewegung, oder an den Islamismus als Reaktion auf rassistische Exklusion.

Gomez Davila (Gast) - 13. Mai, 17:41

"fast alle "jüdischen" Intellektuellen im Deutschland vor ´33 waren "deutsche" Intellektuelle."

Es ist schon verdammt ärgerlich, wenn man in diese Nazi-Falle tappt. Aber schwer, sie zu umgehen, zumal die Nazis hier ja Fakten geschaffen haben. Ich hätte schreiben können "arische Intellektuelle", womit ich sie dann allerdings von den "semitischen Intellektuellen" geschieden hätte. Nur haben diese sich selbst nicht in dieses rassische Raster gesteckt, und außerdem gab es hier ja auch, wenngleich selten, Kinder aus christlich-jüdischen Mischehen, die dann nicht mehr so recht in die Kategorie "Semit" gepasst hätten. Oder ich hätte schreiben können: "christliche" Intellektuelle, um sie von "jüdischen Intellektuellen" abzugrenzen. Nur waren viele Juden, gerade die intellektuellen, keinesfalls gläubig, sondern ebenso atheistisch wie viele ihrer "arischen" Kollegen. Ich fürchte, man ist mitunter gezwungen, das Nürnberger Spiel mitzuspielen, um geschichtliche Sachverhalte zu umschreiben.

MMarheinecke - 13. Mai, 17:47

Wir wär's den einfach mit "nichtjüdischen Intellektuellen"?
Gomez Davila (Gast) - 13. Mai, 18:17

"Wir wär's den einfach mit "nichtjüdischen Intellektuellen"?"

Da sich "jüdisch" auf den Glauben bezieht, bleiben alle Atheisten außen vor.

Zur "liberalen" Intellektuellenfeindlichkeit:

Die Karitatur trifft es ziemlich genau. Bei Baader geht das so: Intellektuelle lehren an staatlichen Unis politische Philosophie im Sinne ihrer Brötchengeber, nämlich Staatsverherrlichung; und würden in freier Wildbahn resp. Wirtschaft elend zugrundegehen, daher ihre Marktfeindlichkeit.

Gomez Davila (Gast) - 13. Mai, 20:19

Ich hab´s. Da es ja um diejenigen geht, die der Antisemit meint, würde ich vorschlagen: Die als "Juden" diskriminierte Volksgruppe.
Da "diskrimiert" wertneutral ist, ist dabei auch das bezeichnet, was der Philosemit meint, außerdem bleibt außen vor, warum sie als "Juden" diskriminiert werden; also wäre der katholische Antisemitismus, der rassische Antisemitismus und der zionistische Antisemitismus gleichermaßen abgedeckt. "Volksgruppe" wäre dann das, was durch die Diskriminierung konstituiert wird.
Das trifft es dann, was ich implizit meinte, als ich oben leichthin "jüdische" von "deutschen" Intellektuellen unterschied.
okeanos (Gast) - 15. Mai, 04:00

Ergänzender Ansatz

Vielleicht kann man den Unterschied auch dadurch erklären, dass man mit einem Doktortitel schneller flüchten kann als mit einer Eigentumswohnung.
Mir scheint es zumindestens plausibel zu sein, dass die Erfahrung als Jude verfolgt zu werden dazu führt in bewegliche Güter zu investieren als z.B. in Grund und Boden. Da bietet sich Bildung ja geradezu an.
Wenn man dann auch bedenkt, dass das Umfeld den Bildungserfolg stark beeinflusst und eine familiäre Bildungstradition über zwei, drei Generationen aufgebaut wurde erklärt das meiner Meinung nach auch einen Teil des Bildungserfolges.

John Dean (Gast) - 15. Mai, 16:11

Erst mal schönen Dank für den Blog-Beitrag! Ich persönlich glaube, dass es weitere Faktoren gibt, z.B. durchaus einen Zusammenhang zwischen der religiösen und kulturellen Verfasstheit des deutschen Judentums gab und dem hohen Akademikeranteil.

Ich denke, der Ursachenzusammenhang fängt bei der besonderen Stellung des Lernens im Judentum an, und dies war nochmals gesteigert im deuschen Reformjudentum. Wer sich reinweg nur geistigen Tätigkeiten hingab, wer also Bildungsbürger war, der galt im deutschen Judentum als jemand und war in seinem Kulturkreis in vielerlei Hinsicht jemand, sogar ein Vorbild und attraktiver Mann usw., was sogar dann eine Rolle spielt bzw. einen Einfluss ausübt, wenn der Betreffende sich diesem Kulturkreis vielleicht sogar schon entfremdet hat. Der besondere kulturelle Habitus steckt dann doch noch in ihm. Dazu kamen die teils euphorischen Erwartungen in den Kreisen assimilierter Juden, die sie an die Aufklärung (auch in ihrem Fall als geistige Befreiungsbewegung) und an die Verbindung aus deutscher Bildungsbürgerlichkeit und Judentum richteten.

(Man findet in dieser Zeit wohl kaum noch derartig patriotische Deutsche wie eben in jenem assimilierten Judentum, und auch kaum nirgendwo größere Freude über die Vorstellung Deutschlands als Kulturnation)

Diese Euphorie ist gründlich gebrochen, aber das gehört nicht zum Thema.

Einen gewissen zusätzlichen Einfluss übte m.E. der spezifische Umgang mit den Talmud seitens gläubiger Juden aus, welcher z.B. bei gemeinsamen Studium mit einem Chaver den Sinn für feine Unterscheidungen sehr stärken kann. Dazu kommt vielleicht auch das spezifisch Diskurshafte in der religiösen Reflektion, das Zulassen unterschiedlicher Meinungen, die Diskussionsfreude usw.

All dies stärkt, und zwar aus der Welt der Religion heraus, die Verstandeskräfte, wohingegen ich im Fall besonders der katholischen Religion vom Gegenteil ausgehen würde. Hier wird eine Autorität, der Papst - und insgesamt die Kirche im Verhältnis zum Gläubigen so weit überhöht, vergötzt, und die invididuelle Reflektion unterdrückt, dass hier die Religion auch fernab ihrer lebensfremden Formen in der Summe doch ziemlich verdummend wirkt. Es ist m.E. kein Zufall, dass der Fortschritt Europas mit der Lockerung des katholischen Allmachts- und geistigen Knebelungsgriffes eng verbunden war.

Dazu kommen soziale Faktoren. Wenn die engen Mauern sozialer Destination (Händlergewerbe u.a.) überwunden werden sollen und auch müssen, dann bleibt ja kaum etwas anderes übrig als ein Aufstiegsversuch (bzw. überhaupt als in Versuch, eine Stellung im Leben zu erreichen) eben die Strategie der Bildung.

Das war nicht nur vorteilhaft. Kaum eine andere soziale Gruppierung hatte anteilig mehr Akademiker und kaum eine andere Gruppierung verfügte über so viele mittellose und gestrandete Akademiker in ihren Reihen, nur: Sollten sie Offiziere werden? Nein, das konnten sie nicht. Beamte? Nicht völlig unmöglich, aber der Zugang war stark verbaut. Handwerker? Ohne soziale Verwurzelung ist das real schwierig. Meine These (von der ich übrigens nicht unbedingt sehr überzeugt bin) lautet also, dass die starke Akademisierung dieser sozialen Gruppe auch damit etwas zu tun hatte, dass ihnen, verglichen mit anderen sozialen Gruppen, kaum etwas anderes übrig blieb. Am Ende war es also, seitens des deutschen Judentums, eine Mischung aus Neigung und Not.

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