Freitag, 4. April 2008

Das christliche Abendland in den Köpfen (alias "Eurozentrismus")

Grundsätzliche Überlegung
Dass das uns Europäern durch die Schule und die meisten Medien vermittelte Geschichtsbild eurozentrisch ist, dürfte sich unter kritischen Geistern herumgesprochen haben.
"Eurozentrisches Geschichtsbild" meint etwas anderes, als das für Europäer nun einmal die Geschichte Europas im Vordergrund steht. Tatsächlich steht im "eurozentrischen Geschichtsbild" nicht "Europa" als geographischer Raum oder als Kulturraum im Mittelpunkt, sondern ein Konstrukt, das sich am besten mit dem altmodischen Ausdruck "christliches Abendland" umreißen lässt. Es umfasst außer Europa und dem russischen Teil Asiens noch das "weiße" Amerika, also jene amerikanischen Kulturen, die auf der Kultur europäischer Kolonisatoren fußen, einschließt. Das "christliche Abendland" ist übrigens nicht identisch mit dem "Westen", nicht nur, weil "Lateinamerika" und "Russland" von manchen Theoretikern der "Kampfes der Kulturen" nicht zum "Westen" gezählt werden. Eher, weil viele "westliche Werte", wie Aufklärung, Demokratie, Gewaltenteilung, Menschen- und Bürgerrechte oft gegen das organisierte Christentum und gegen überkommenen kulturelle Traditionen erkämpft wurden - und immer neu erkämpft werden müssen.

"Eurozentrisch" in diesem Sinne meint, dass es "christliche Abendländer" (vorzugsweise weiß und christlich) sind, die allem einen Namen geben und die Welt einordnen dürfen.
Wenn nicht sie, sondern jemand anders etwas entdeckt oder benannt hat, zählt es für sie erst einmal nicht - selbst wenn die (vorwiegend "abendländische") wissenschaftliche Forschung den "eurozentrische Tunnelblick" längst ad absurdam geführt hat. Während - anders noch als vor gut 50 Jahren - heute akzeptiert wird, dass das Schießpulver in China erfunden wurde und Columbus nicht "Amerika entdeckt" hat, tuen sich selbst gebildete Abendländer schwer, die Kulturen des vorkolonialen Afrikas überhaupt wahrzunehmen. Auch die relative zivilisatorische Rückständigkeit des mittelalterlichen "christlichen Abendlandes" gegenüber der "islamischen Welt" wird von überzeugten "Abendländern" eher widerwillig zur Kenntnis genommen.

Der "Eurozentrismus" hat Folgen, die bis zum Alltagsrassismus reichen. Wenn die "abendländische Zivilisation" ganz selbstverständlich als Mittelpunkt des Universums angesehen wird, hat das zur Folge, dass abendländische ("europäische", "weiße") Ansichten, historischen Figuren und Traditionen hierzulande als die einzig gültigen beziehungsweise einzig wichtigen angesehen werden.
Außereuropäische Kulturen sind zwar für viele Abendländer "interessant", werden aber immer noch mit dem Schleier des Exotischen versehen. Damit sind diese "exotischen Kulturen" für uns als wenig relevant eingestuft, obwohl wir ihnen vielleicht wichtige Kulturpflanzen oder wichtige Erfindungen verdanken. Davon abgesehen ist Exotismus immer auch tendenziell rassistisch.

Weil dieses "eurozentrische" Weltbild so selten infrage gestellt wird, denken viele Menschen bei uns tatsächlich, für den gefühlten Vorrang des "christlichen Abendlandes" gäbe es einen guten Grund – einen anderen als Größenwahn, Desinteresse oder opportunistische politische Erwägungen. Der gefühlte Vorrang des "christlichen Abendlandes" hat Folgen, die von Huntingtons gefährlichen Thesen vom "Clash of Civilisations" bis zur "gefühlten Überfremdung" in einer thüringischen Kleinstadt reichen.

Übrigens: Der "Islamozentrismus" den es auch gibt, ist moralisch kein Stück besser. Die Tatsachen, dass die islamische Welt mal der abendländischen weit voraus wahr, und das viele islamische Länder Opfer des europäischen Kolonialismus waren, berechtigt in keiner Weise dazu, sich für die Vertreter der einzig relevanten Kultur des Universums zu halten. Ja, und auch der Sinozentrimus, den die chinesische Staatsführung nach Mao wiederentdeckt hat, ist, uralte Zivilisation hin, jahrhundertelange Demütigungen durch Mongolen, Japaner und vor allem Europäer her, auch keineswegs moralisch besser als der Eurozentrismus. Auch wenn ich es arroganten "Abendländern" von Herzen gönne, mal an einen ebenso arroganten Chinesen zu geraten, der den Ausdruck "Reich der Mitte" in jeder Beziehung beim Wort nimmt.

Der "heimliche Lehrplan" im Geschichtsunterricht
Letztes Wochenende, auf einem Ostara-Treffen, unterhielt ich mich mit einigen Freunden darüber, wie unser Geschichtsunterricht damals in der Schule ausgesehen hat.
Auch wenn wir in unterschiedlichen Bundesländern zu unterschiedlichen Zeiten und sogar in unterschiedlichen politischen Systemen zur Schule gegangen waren, lief der "rote Faden" im Geschichtsunterricht etwa so:
Zuerst kommen, ganz kurz, die alten Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens. Dann, ziemlich ausführlich, das alte Griechenland, mit deutlichem Schwerpunkt auf Athen. Kurz nach den Eroberungen Alexanders "des Großen" schwenkt der Fokus auf Rom, wo er so lange bleibt, bis das Weströmische Reich unter dem Ansturm der germanischen Völker zerbrach. (Dass es die Germanen überhaupt gab, erfuhr man, weil Varus im Jahre 9 eine Schlacht gegen aufständische Germanen verlor. Die Kelten gab es offensichtlich nur im Umfeld von Caesars "Gallischem Krieg".) Der Strom der Erzählung streifte kurz die merowingischen Franken, dann lang und breit die Taten Karls des "Großen", anschließend dann ein Zeitsprung ins hohe Mittelalter. In der Renaissance werden auch mal Norditalien, Spanien, Portugal erwähnt, aber ab der frühen Neuzeit überwiegt eine Darstellung, bei der - nein, nicht Deutschland, sondern Preußen und eventuell das Habsburgerreich im Mittelpunkt stehen. Kurzer Schwenk nach Frankreich (Revolution!), dann Napoleons Kriege. Schließlich Übergang zur Zeitgeschichte (wo dann die deutschen Wege im Geschichtsunterricht deutlich auseinander gehen).

Als "Nationalgeschichte" ist dieser Geschichtsgang eigentlich recht wenig plausibel. In der Antike herrschte offensichtlich das Prinzip "der Geschichtsschreiber steht auf der Seite der Sieger" vor, im Mittelalter dann eine Weltsicht, in der die (katholische) Christenheit Mittelpunkt der Welt ist - sogar das oströmische Reich wird nur gestreift - in der Neuzeit besteht Deutschland aus "Preußen, seinen Vorgängern und dem kläglichen Rest". Man könnte mit den die Gegenwart prägenden Einflüssen argumentieren - nur: Wäre unter diesem Gesichtspunkt z. B. das Kalifat von Cordoba nicht "wichtiger" als das Reich Karls "des Großen"? Klar, ohne den Burschen und seinen ebenso zähen wie brutalen "Sachsenkrieg" hätte es Deutschland nie gegeben. Aber: Ist Deutschland etwa ein zivilisatorischer Wert an sich? Bis weit in die Neuzeit hinnein könnte
man "Deutschland" ohne Probleme durch "mitteleuropäischer Raum" ersetzen, so gering war die Rolle "des deutschen Volkes" geschweige denn der einer "deutschen Nation" - einschließlich "Kulturnation".

Ich vermute, dass der prägende deutsche Geschichtskanon sich im Deutschen Kaiserreich nach 1871 herausbildete. Das von "Bismark geeinte Reich" als Erfüllung der deutschen Geschichte. Selbst in der DDR scheint dieser Kanon nicht grundlegend infrage gestellt worden sein, schließlich sah sich auch die DDR als historischer Endpunkt. Und auch westdeutsche Geschichtsbücher ließen selten Zweifel daran, dass die BRD der beste Staat war, den es je auf deutschen Boden gab - was etwa dazu führte, dass die "Weimarer Republik" als "gescheitert" wahrgenommen wurde. (Hierzu: Die "Weimarer Republik" war besser als ihr Ruf.)

(Weitere Überlegungen zum Thema - "Das christliche Abendland in den Köpfen (alias "Eurozentrismus")" werden in lockere Folge folgen.)

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Geheimauftrag MARIA STUART...
Krisenfall Meuterei Der dritte Roman der Reihe "Geheimauftrag...
MMarheinecke - 9. Apr, 19:42
Urlaubs-... Bräune
Das "Coppertone Girl", Symbol der Sonnenkosmetik-Marke...
MMarheinecke - 1. Aug, 08:34
Geheimauftrag MARIA STUART...
Ahoi, gerade frisch mit dem Postschiff eingetoffen. Der...
MMarheinecke - 26. Mär, 06:48
Kleine Korrektur. Man...
Kleine Korrektur. Man kann/sollte versuchen die Brille...
creezy - 11. Nov, 11:29
strukturell antisemitisch
Inhaltlich stimme ich Deinem Text zwar zu, aber den...
dummerle - 5. Jun, 11:12

Suche

 

Status

Online seit 6725 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:08

Credits


doof-aber-gut
Gedankenfutter
Geschichte
Geschichte der Technik
Hartz IV
Kulturelles
Medien, Lobby & PR
Medizin
Persönliches
Politisches
Religion, Magie, Mythen
Überwachungsgesellschaft
Umwelt
Wirtschaft
Wissenschaft & Technik
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren